Sie schlenderten die Kensington High Street entlang. Doherty war in melancholischer Stimmung. Honey mochte es nicht, wenn er so gelaunt war. Ihr gefiel es besser, wenn er Spaß machte und witzige – und manchmal anzügliche –, schlagfertige Antworten gab. Er war nicht besonders erfreut darüber, dass sie sich mit der Frage nach der vermissten Perdita Moody eingemischt hatte.
»Wer zum Teufel hat schon so einen Namen«, grummelte er.
Honey musste zugeben, dass der Name sie auch nicht gerade für die Frau einnahm. Viel zu affig für ihren Geschmack, genau wie Araminta, Camilla oder Ariadne.
»Ich habe Miss Cleveley versprochen, dass ich mich darum kümmern würde. Sie hat mir mit der Hutnadel so geholfen.«
»Diese verdammte Hutnadel!« Dohertys Ton war verächtlich. »Wir waren hier, um Coleridge zu befragen, wo genau er war, als Martyna ermordet wurde.«
»Du vergisst, dass Perdita einen Termin bei ihm hatte.«
»Ach, zum Teufel mit Perdita. Die ist vermisst.«
»Sie könnte eine Zeugin gewesen sein, und er hat sie abmurksen lassen.«
Doherty schaute sie an, als hätte sie nun vollkommen den Verstand verloren.
»Honey, wir sind in South Kensington, nicht in der Bronx! Und Coleridge ist ein viele Millionen schwerer Geschäftsmann und kein Mafia-Pate.«
Sie zuckte die Schultern, während sie einer Gruppe von Touristen auswich, die sich aufgeregt in vielen verschiedenen Sprachen unterhielten. Steve und Honey wurden durch diesen Menschenstrom voneinander getrennt.
»Das kann doch überall passieren«, schrie sie Doherty zwischen den Touristenköpfen hindurch zu.
Er brüllte zurück. »Nicht, wenn ich was damit zu tun habe!«
Die Gruppe war vorüber.
»Kann ich noch einmal darauf hinweisen, dass wir hier waren, um ihm Fragen zu seinem Aufenthaltsort zu stellen?«, sagte Doherty, als sie wieder nebeneinander standen.
Honey grinste. »Wir wissen, wo er war. Er hat begehrenswerte junge Frauen begutachtet, von denen einige nur leicht bekleidet waren.«
»Wie schon vor mir manch einer gesagt hat: Das ist ein Scheißjob, aber irgendjemand muss ihn ja machen.« Er schaute auf die Uhr. »Zeit, nach Hause zu fahren. Wir könnten gerade noch den Zug um 16:15 ab Paddington schaffen.«
Honey blieb nachdenklich. Sie wusste, was in Doherty vorging. Er hatte einen Job zu erledigen, und zwar musste er Martyna Manderleys Mörder finden. Aber da war irgendwas an Miss Cleveley gewesen, das sie einfach nicht aus ihren Gedanken verbannen konnte. Und an dem Blick, den sie in Zoë Vallis Augen gesehen hatte.
Doherty deutete den Grund für ihr Schweigen falsch. »Es hilft gar nichts, wenn du das Trotzköpfchen spielst. Du warst es doch, die einer netten alten Dame versprochen hat, ihre Nichte zu suchen. Ich habe dir gestattet, mich mit hineinzuziehen, obwohl ich das nicht hätte tun sollen.«
Honey spitzte die Lippen. »Ich will aber, dass Coleridge der Schuldige ist.«
»Nur weil er aalglatt und elegant ist und sich reichlich überschätzt, ist das noch kein Grund, ihn wegen Mord anzuklagen. Wir brauchen Beweise. Und bisher haben wir einen Scheiß!«
Die letzten Worte sprach er mit viel Gefühl.
»Glaubst du, dass er nur deswegen geschwitzt hat, weil er gerade ein scharfes Curry-Gericht gegessen hatte?«
Doherty zuckte die Achseln. »Nein, aber was zum Teufel …?«
»Du musst die jungen Frauen befragen, die bei ihm waren. Sind das zuverlässige Alibis?«
Er blieb stehen und schaukelte auf den Fußsohlen hin und her. Dann warf er frustriert den Kopf in den Nacken.
»Ja! Ja! Ja! Während du dein Stelldichein mit der Nutte mit Herz hattest, habe ich mit dem Nachtportier und dem Concierge alles abgeklärt. Auf keinen Fall ist Coleridge rechtzeitig genug weggegangen, um die üble Tat zu vollbringen. Er ist pünktlich um zehn Uhr morgens aus dem Haus gegangen. Der Portier schwört, dass es zehn Uhr war.«
»Sicher?«
»Absolut. Normalerweise hätte er es nicht bemerkt, aber Coleridge hat ihm ein Riesentrinkgeld gegeben, das seine Aufmerksamkeit erregt hat.«
»Wie riesig?«
»Fünfzig Pfund.«
Honey schnappte nach Luft. Im Green River wurde der Tag schon rot im Kalender angestrichen, wenn jemand, der eine läppische Nacht dort gewohnt hatte, eine Zwanzigpfundnote hinterließ.
»Londoner Preise«, erklärte sie und schüttelte den Kopf.
Sie merkte gar nicht, dass Doherty ein Taxi herbeigewinkt hatte und das Auto wie ein dicker schwarzer Käfer an der Bordsteinkante zum Halten kam. Er wurde ungeduldig. »Nun mach schon. Wir verpassen noch den Zug.«
Honey blieb stehen, und eine ganze Kette von Gedanken wirbelte ihr durch den Kopf wie ein wildgewordenes Karussell. Sollte sie bleiben oder sollte sie mitfahren? Ihre Gedanken drängten sie zur ersten Option.
»Ich bleibe … ich glaube … ich habe das Gefühl …«
Aus den Tiefen ihrer Handtasche erklang fröhliches Vogelgezwitscher.
»Honey? Ist das jetzt eine Mary-Jane-Nummer?«
Doherty hielt ihr die Taxitür auf. Honey klappte ihr Handy auf. »Hallo.«
»Hi, ich bin’s, Zoë. Ich habe was über Ihre Freundin herausgefunden. Sie hat mal bei einer alten Freundin von mir gewohnt. Können Sie herkommen? Ich stelle Sie ihr vor.«
»Ja, Augenblickchen.«
Sie erklärte Doherty, wer am Apparat war und warum sie anrief.
»Das wird Casper gar nicht gefallen«, sagte er und drohte ihr neckisch mit dem Zeigefinger. »Du bleibst nicht bei der Sache.«
»Casper kann mich mal.«
Sie schob sich an Doherty vorbei, sprang geradezu in den Fahrgastraum des Taxis. Sobald sie saß, sprach sie am Telefon weiter. »Zoë? Ich bin schon unterwegs.«
Doherty hatte gerade noch mit einem beherzten Sprung verhindert, dass seine Jacke in der Tür des abfahrenden Taxis eingeklemmt wurde.
»He! Das ist mein Taxi!«
Honey zog Zoës Karte aus der Tasche und gab dem Fahrer die Adresse.
»Ich sehe dich in Bath«, schrie sie noch aus dem Fenster. Doherty winkte halbherzig und schaute ihr niedergeschlagen hinterher. Sie überlegte, dass er sich vielleicht auf die gemeinsame Heimreise gefreut hatte. Anderthalb Stunden nur für sie beide – und ihr Kopf wäre wahrscheinlich an seine Schulter gesunken.
Worauf hatte sie sich da nur wieder eingelassen? Warum war sie so erpicht darauf, die flüchtige Perdita zu finden? Wegen der Augen der alten Dame, deswegen. Dieser Blick hatte in ihr etwas zum Klingen gebracht. So würde sie sich fühlen, wenn jemand, den sie liebte, verschwunden war.