Fine Rohlbart war rotblond, groß und breit. Ihre Stimme hatte eine beachtliche Resonanz. Als Romy ihr das erste Mal begegnete, war sie gerade dabei, zwei junge Polizisten auf Spur zu bringen, was die alles andere als erquicklich fanden, und Romy hatte augenblicklich an eine resolute Wikingerfrau gedacht. Später erfuhr sie, dass Fine den Vergleich schon häufiger gehört hatte, aber weder zutreffend noch sonderlich geistreich oder witzig fand, und Romy war heilfroh, eine entsprechende Bemerkung heruntergeschluckt zu haben. Wer es sich mit Fine verdarb, war selber schuld.
Als Romy am Montagmorgen in dem schmucklosen, dreistöckigen Polizeigebäude das Kommissariat betrat, beendete Fine gerade ein Telefonat mit dem Rechtsmedizinischen Institut in Greifswald.
»Kaffee ist fertig«, dröhnte sie statt einer Begrüßung. »Der Richardt liegt bereits auf dem Tisch. Das ging richtig schnell. Die melden sich, sobald es was zu berichten gibt.«
Angesichts des vergleichsweise besonderen Falls hatte Romy sich eigentlich eine emotionalere Reaktion von Fine vorgestellt, doch die agierte wie immer und typisch rüganisch: pragmatisch und tatkräftig.
»Okay. Kasper schon da?«, gab Romy ebenso karg zurück und goss sich eine Tasse Kaffee ein.
»Er ist von zu Hause gleich ins Geschäft vom Richardt gefahren – das ist ja bei ihm um die Ecke am Marktplatz – und will die Angestellten befragen. Ich hab noch einen Uniformierten zur Unterstützung hingeschickt.«
»Gute Idee.«
Romy ging in ihr Büro, das direkt vom Gemeinschaftsraum abzweigte, schloss die Tür und sah einen Moment aus dem Fenster. Der kleine Sportplatz lag verlassen unter ihr. Sie setzte sich an den Schreibtisch und notierte ihre Eindrücke von den ersten Befragungen mit Thomas Bittner und Vera Richardt.
Eine halbe Stunde später steckte Kasper den Kopf zur Tür herein. »Der Laptop ist komplett leer«, erklärte er nach flüchtigem Morgengruß und zog den Kopf wieder zurück.
»Wie bitte?« Romy stand auf und folgte ihm.
»Da ist nicht mal ein Betriebssystem drauf«, ergänzte Kasper mit Grüblermiene. »Ich hab das Teil gestern Abend noch einem Techniker vorbeigebracht, bei dem ich was gut habe. Der hat gleich einen Blick drauf geworfen und fand das auch ungewöhnlich.«
Schneider versorgte sich mit Kaffee, und sie setzten sich an den großen Tisch in der Mitte des Raums. Fine hatte Zeit gefunden, eine Schale mit Obst und etwas Gebäck bereitzustellen.
»Vera Richardt hat berichtet, dass ihr Mann den Laptop gerade erst gekauft hat und am Wochenende neu einrichten wollte. Vielleicht hatte er doch noch nicht damit angefangen«, überlegte Romy. »Allerdings werden die Dinger doch heutzutage mit einer Grundausstattung aller möglichen Programme verkauft, die bereits vorinstalliert sind.«
Kasper nickte. »Das ist der Punkt. Der Techniker vermutet, dass die Platte komplett gelöscht, also formatiert wurde, und zwar richtig – da lässt sich nichts mehr wiederherstellen.«
»Schade.«
»Sehe ich auch so.« Schneider stellte seine Tasse ab. »Können wir aber nicht ändern. Dafür hat mir die Sekretärin von Richardt eine lange Liste mit Namen zusammengestellt: Sportkollegen, Geschäftsfreunde, Kunden, aktuelle Aufträge und so weiter. Und den E-Mail-Verkehr der letzten zwei Wochen hat sie mir auch überlassen.«
»Wenigstens etwas. Vielleicht findet sich ja irgendein Hinweis. Wie läuft der Laden denn so?«, fragte Romy.
»Gut. Bestens sogar. Die haben dicke Auftragsbücher und sind völlig von den Socken«, erwiderte Kasper. »Der stellvertretende Geschäftsführer ist fast aus den Latschen gekippt – ein ziemlich junger Kerl, der den Laden jetzt weiterführen muss.«
»Bekleidet Richardts Frau da eigentlich irgendeine Funktion?«
Kasper schüttelte den Kopf. »Sie hat mit den Geschäften kaum was zu tun, hat man mir gesagt, kriegt aber ein Gehalt. Sie kümmert sich um Repräsentatives, wie es so schön heißt.«
»Super«, kommentierte Romy. »Und dafür kriegt sie das Gehalt? Oder eher aus steuerlichen Gründen?«
»Tja ...«
»Aha. Und in der Firma kann sich niemand vorstellen, wer ein Motiv gehabt haben könnte? Irgendwelche Mutmaßungen?«
Schneider schüttelte den Kopf. »Der Mann war beliebt und wurde geschätzt, von Männern und Frauen. Der hätte sich als Ortsbürgermeister zur Wahl stellen können – egal, für welche Partei, er hätte viele Stimmen bekommen.«
Romy lächelte. »Verstehe. Was ist eigentlich mit seiner Familie? Hat er Geschwister? Leben die Eltern noch?«
Kasper zog einen Ordner aus seiner Aktentasche zu seinen Füßen und setzte seine Lesebrille auf, die nach Romys Auffassung völlig deplatziert in seinem Gesicht wirkte, aber sie behielt ihre Meinung für sich.
»Geschwister gibt es nicht. Richardt stammt übrigens aus Lübeck, wo die Eltern in einer schnieken Seniorenresidenz leben«, berichtete Kasper und sah kurz hoch. »Ich hab da gleich vom Geschäft aus angerufen. Zurzeit befindet sich das Ehepaar auf Kreuzfahrt im Mittelmeer, wie fast jedes Jahr um diese Zeit.«
»Können wir sie dort irgendwie erreichen?«
»Schon, aber … Wenn es nicht dringend erforderlich ist, sollten wir abwarten, bis sie wieder im Lande sind. Das rät uns auch die Heimleitung.«
»Ach? Warum?«
»Der familiäre Kontakt ist nicht der Rede wert. Richardts Sekretärin verschickt zum Geburtstag der Mutter immer einen üppigen Blumenstrauß. Für den Vater gibt es einen teuren Wein. Zu Weihnachten läuft das ähnlich«, berichtete Kasper. »Wir sollten denen nicht die Reise vermiesen, wenn es nicht unbedingt nötig ist, und bis die Leiche zur Beerdigung freigegeben wird, vergehen noch locker zwei Wochen.«
»Na schön, und falls die Witwe anderer Meinung ist und die Eltern benachrichtigt …«
»Ist das ihre Sache.« Kasper nickte. »Sehe ich auch so.«
»Hast du mal nachgebohrt, was die Ehe der beiden angeht?«, hakte Romy nach.
»Der Mann hat Privates und Geschäft strikt getrennt. Das sagen alle. Zu Vermutungen oder Tratsch wollte sich niemand hinreißen lassen. Wäre auch ein denkbar schlechter Zeitpunkt.« Kasper zuckte mit den Achseln. »Ich denke …«
Er brach ab, als Fine um die Ecke polterte und mit dem Telefonhörer wedelte. »Rechtsmedizin. Wer will?«
Romy streckte die Hand aus. »Guten Morgen. Kommissarin Ramona Beccare am Apparat. Das ging ja schnell«, sagte sie.
»Dr. Möller – Ulrich Möller«, entgegnete eine tiefe Stimme. »Nun, die meisten Untersuchungen stehen noch aus, aber ich glaube, ich habe vorweg schon mal was Interessantes für Sie, das für die weiteren Ermittlungen bedeutsam sein könnte.«
»Ich bin gespannt«, sagte Romy und stellte den Lautsprecher an.
»Der Mann ist am frühen Sonntagmorgen gestorben – er hat heftige Prügel bezogen«, hob der Rechtsmediziner an.
Hochinteressant, dachte Romy. Das habe ich gestern Abend schon gewusst. Sie räusperte sich und hob eine Braue, während sie Kasper einen vielsagenden Blick zuwarf.
»Ich möchte Ihnen nicht zu nahe treten, aber das ist uns bei der Tatortbesichtigung nicht entgangen, Dr. Möller«, bemerkte sie mit einem Lächeln in der Stimme.
Der Mediziner lachte amüsiert auf. »Ich begrüße es sehr, dass Sie offenbar aufmerksam hingesehen haben – das tun beileibe nicht alle Kriminalbeamten. Zugleich gehe ich jedoch stark davon aus, dass ich Ihnen etwas Neues sage, wenn ich darauf hinweise, dass das Opfer nicht etwa verprügelt wurde und kurz darauf verstarb.«
»Sondern?«
»Nach den bisherigen Untersuchungen der zahlreichen Hämatome am ganzen Körper, die aufgrund stumpfer Gewalt entstanden sind, halte ich es für denkbar, dass der Mann ungefähr einen Tag vor seinem Tod massiv geschlagen wurde, aber erst am Sonntagmorgen den tödlichen Hieb auf den Kopf erhielt.«
Das war in der Tat neu. »Interessant.«
»Nicht wahr? Darüber hinaus lässt der Zustand seiner Haut den Schluss zu, dass er ziemlich ausgetrocknet und entsprechend geschwächt war«, ergänzte Möller. »Die Abdrücke der Fesseln belegen, dass er eine ganze Weile daran gezerrt und sich zu befreien versucht und schließlich entkräftet aufgegeben hat. Zum Mageninhalt kann ich noch nichts sagen. Im Moment spricht sehr viel dafür, dass der Mann dort eine ganze Weile festgehalten wurde und keine gute Zeit hatte.«
Romy pfiff leise.
»Sehen Sie. Dachte ich mir doch, dass Sie dieser Information erhöhte Aufmerksamkeit schenken würden«, sagte Möller, und er klang sehr zufrieden. »Haben Sie bereits die Tatwaffe gefunden?«
»Noch nicht. Was käme denn Ihrer Ansicht nach infrage?«
»Ein schwerer, länglicher, glatter Gegenstand«, antwortete Möller prompt. »In der Wunde fanden sich keinerlei Rückstände. Eine Glasflasche wäre denkbar.«
»Danke, Dr. Möller. Ich freue mich schon auf Ihren ausführlichen Bericht. Ach, bevor ich es vergesse: Wir brauchen den Zahnstatus des Opfers für einen Abgleich. Die Witwe wird sich unter Umständen weigern, eine Identifizierung vorzunehmen, und andere nahe Verwandte sind nicht verfügbar.«
»Wird erledigt.«
Romy verabschiedete sich, gab Fine das Telefon zurück und sah Kasper an. »Ich denke, wir sollten noch mal rausfahren.«
Der stand sofort auf. »Bin dabei.«
Romy schlüpfte in ihre Jacke, mit der Hand an der Klinke drehte sie sich noch einmal zu Fine um: »Kannst du dich schon mal um die Genehmigung für die Einsicht in Richardts Telefonverbindungen kümmern und die Alibis abklopfen – die Notizen müssten auf meinem Schreibtisch liegen?«
»Na klar. Mach ich sofort.«
Romy hatte den Roller in Bergen stehen gelassen und war in Kaspers Wagen mitgefahren.
»Wie dürfen wir uns das Szenario vorstellen?«, sinnierte Romy laut. »Jemand überfällt Kai Richardt am Samstagmorgen, als er sein Rad repariert – vielleicht waren es auch mehrere, das ist zum jetzigen Zeitpunkt völlig offen. Der Mann bezieht Prügel, aller Wahrscheinlichkeit nach aus persönlichen Gründen, denn geklaut wurde ja nichts. Er wird gefesselt und geknebelt zurückgelassen, einen ganzen Tag lang. Am Sonntagmorgen kehrt der Entführer zurück und gibt Kai den Rest. Warum? Ein perfides Spiel?«
»Kurzschlusshandlung«, schlug Kasper vor. Er bog auf die B 96 in Richtung Lietzow ab. »Vielleicht hat Kai etwas gesagt, was den Täter provoziert hat.«
»Ja, möglich, dass sie miteinander gesprochen haben, der Knebel lag daneben … Vielleicht war der Mord aber auch von Anfang an geplant.« Romy starrte zum Fenster hinaus. »Wir müssen uns seine Biografie genauer ansehen. Was ist mit dem ehemaligen Geschäftspartner? Warum haben die beiden sich getrennt? War die Ehe harmonisch?«
Sie schwiegen eine Weile. Als sie das Schloss von Lietzow mit seinem in der Morgensonne weiß schimmernden Turm hinter sich gelassen hatten, klingelte Schneiders Handy. Romy nahm das Gespräch an. Einer der Kriminaltechniker wollte Kasper sprechen.
»Der sitzt am Steuer«, erklärte sie. »Sie müssen mit mir vorliebnehmen.«
Wenn sie die Stimme richtig in Erinnerung hatte, war der hagere, unfreundliche Typ vom Vorabend am Apparat. Pluspunkte hatte der bei ihrer ersten Begegnung nicht gerade gesammelt.
»Ja, muss ich wohl«, gab er lakonisch zurück. »Wir haben in einem der anderen Kellerräume was Interessantes gefunden.« Er legte eine Pause ein.
Romy atmete tief durch. »Machen Sie es eigentlich immer so spannend, Kollege?«
»Nö. Aber bei Ihnen mach ich gern ’ne Ausnahme.«
»Super Idee, aber ich sage Bescheid, wenn ich scharf auf eine Sonderbehandlung bin!« Romy hätte vor Empörung beinahe das Handy fallengelassen. »Legen Sie schon los: Was haben Sie gefunden?«
Kasper warf ihr einen Seitenblick zu und schnalzte mit der Zunge.
»Ein Skelett.«
»Was?«
»Wir haben in einer ausrangierten Gefriertruhe ein Skelett gefunden«, wiederholte der Mann in aller Seelenruhe.
»Bis gleich.« Romy legte das Handy beiseite.
Kasper schnalzte erneut mit der Zunge. »Du, hör mal, der Marko ist ganz in Ordnung – ein guter Mann in seinem Fach, ein bisschen unwirsch manchmal, aber …«
»Der Marko kann mich mal! Der geht mir nämlich, gelinde ausgedrückt, ganz gewaltig auf die Eierstöcke. Aber das jetzt nur mal so nebenbei.« Romy zeigte auf den Tacho. »Gib Gas, Kasper. Die haben noch eine Leiche gefunden.«
In dem Keller standen etliche alte Kühl- und Gefrierschränke zwischen wurmstichigen Büromöbeln, die schon eine ganze Weile vor der Wende nicht mehr modern gewesen sein dürften. Die meisten lagerten dort seit über zwanzig Jahren, wie Bittner auf Nachfrage von Kasper Auskunft erteilt hatte.
»Auf den ersten Blick vermute ich, dass es sich um ein Frauenskelett handelt«, erläuterte Marko Buhl betont sachlich, während Romy ein Frösteln unterdrückte und sich über die Gefriertruhe beugte. »Es dürfte schon eine ganze Weile hier liegen. Nicht mal mehr Fasern von Kleidungsstücken sind vorhanden. Alles ratzfatz weg.«
»Das kann auch bedeuten, dass die Leiche nackt hier abgelegt wurde«, wandte Romy ein. »War der Deckel der Truhe geöffnet?«
Buhl stutzte und nickte dann. »Ja, zumindest einen kleinen Spalt. Insofern konnte Ungeziefer mühelos eindringen.«
»Sie sollte rasch zu Möller auf den Tisch. Können Sie das zwischendurch bewerkstelligen?«, fragte Romy, und sie gab sich Mühe, höflich zu klingen oder zumindest sachlich.
»Ich glaub schon.«
»Danke. Das weiß ich zu schätzen. Sehr sogar.«
Sie hätte durchaus noch die eine oder andere Bemerkung auf der Zunge gehabt, verkniff sich aber weitere Spitzen. Es wäre ziemlich dumm, wenn sie die reibungslose Zusammenarbeit mit den Kollegen von der KTU gefährdete, nur weil es zwischen Buhl und ihr nicht ganz so harmonisch lief – um es behutsam zu formulieren.
Romy drehte sich zu Kasper um, und sie gingen gemeinsam wieder nach oben. Die frische Brise tat beiden gut. Es roch nach Regen. Frühlingsregen.
»Wir müssen noch mal mit Bittner reden«, sagte sie und blickte kurz hinüber zum alten Fährhafen, wo zwei Krähne ihre Hälse in den blaugrauen Himmel reckten. »Die alten Schuppen bergen ja so manche ungute Überraschung. Außerdem können wir Verstärkung gebrauchen. Hier muss alles sehr gründlich durchsucht werden.«
Sie strich sich die Locken zurück. »Erst haben wir monatelang nur Kleinkram und dann gleich zwei Leichen auf einmal. Wer weiß, was da noch auf uns zukommt.«
»Vorschlag zur Vorgehensweise?«
»Ich telefoniere gleich mal mit Stralsund und hoffe, dass die uns ein paar Leute zur Verfügung stellen. Sprich mit Bittner und sorg bitte dafür, dass wir die Pläne von dem Grundstück bekommen. Es wäre mir ganz lieb, wenn du hier vor Ort die Stellung halten und dich auch mit den Sassnitzer Kollegen abstimmen könntest.«
»Schon klar«, stimmte Kasper zu. Abstimmung war seine Spezialität.
»Ich gucke mir in der Zwischenzeit mal Richardts Kontakte an und telefoniere. Ich hoffe, dass Fine mich dabei unterstützt. Sobald die Rechtsmedizin das Skelett zeitlich einordnen kann, geht’s weiter.«
Schneider warf ihr einen nachdenklichen Blick zu. »Was denkst du? Hat das Skelett in der Truhe was mit dem Richardt zu tun?«
»Kann ich mir nicht vorstellen.«
Ein Kollege aus Sassnitz brachte Romy nach Bergen zurück. Sie öffnete das Seitenfenster einen kleinen Spalt, atmete in tiefen Zügen die kalte Meeresluft ein und hielt nach den Rapsfeldern Ausschau, die in wenigen Wochen leuchten würden.
Wie sie es nicht anders erwartet hatte, war man in der Polizeiinspektion Stralsund alles andere als begeistert über ihre Anfrage nach zusätzlichen Leuten, versicherte ihr aber, dass man sich kümmern würde. Romy war klar, dass der Hinweis zunächst mal gar nichts bedeutete, aber zumindest freundlich klang.
Sie schnappte sich die Unterlagen, die Kasper aus Richardts Geschäft mitgebracht hatte, und teilte sich mit Fine, die darüber hinaus ihre üblichen Koordinierungsaufgaben wahrnahm, die Anrufliste. Die Mails waren auf einem Stick gespeichert, den sie zunächst beiseitelegte.
Nach zwei Stunden hatte Romy den Eindruck, genügend Hintergrundmaterial für eine zwölfstrophige Kai-Richardt-Lobeshymne gesammelt zu haben. Geschäftspartner, Kunden, Sportsfreunde – niemand hatte etwas an dem Mann auszusetzen gehabt oder konnte sich vorstellen, dass er Feinde hatte, und alle zeigten sich entsetzt über das tragische Geschehen. Minuspunkte? Fehlanzeige.
Fine zwängte sich durch die Tür und servierte Romy eine Tasse Kaffee, als die gerade das Gespräch mit Tim Beier beendet hatte, einem Fitnesstrainer und Laufkollegen aus Stralsund, der Inhaber eines Sportgeschäfts war und in den letzten Jahren gemeinsam mit Kai Richardt verschiedene Läufe und Triathlons organsiert hatte. Und natürlich völlig fassungslos war. Hatte Romy etwas anderes erwartet?
»Danke. Kann ich gut gebrauchen«, meinte sie seufzend zu Fine. »Gibt’s auch irgendwas zu essen?«
»Fischbrötchen?«
Romy verzog das Gesicht. »Na, ich weiß nicht. Mein Appetit darauf hält sich gerade in Grenzen.«
Fine lachte. »Wie wäre es mit selbstgebackenem Streuselkuchen?«
»Schon besser.«
»Komm mit nach vorne.«
Zwei Minuten später ließen sie es sich gemeinsam schmecken. Fine nestelte zwischen zwei großen Bissen einen Notizzettel aus ihrer Hosentasche.
»Ich kann schon mal was zu den Alibis sagen«, schlug sie mit undeutlicher Stimme vor und wartete Romys Nicken ab, bevor sie fortfuhr. »Vera Richardt hat die Kinder am Samstag gegen achtzehn Uhr bei ihren Eltern abgeliefert und war dann mit der Freundin im Kino, was von allen Seiten bestätigt wird. Bittners hatten Besuch, und sowohl Ehefrau als auch die Verwandten geben an, dass Thomas Bittner ab dem späten Samstagmittag zu Hause war …«
»Der Sonntagmorgen ist bei beiden nicht wirklich abgedeckt«, wandte Romy ein. »Die Witwe hat ausgeschlafen, Bittner war joggen … Na, mal gucken.«
Fine zuckte mit den Achseln und blickte wieder auf ihren Zettel. »Der Super-Kai war übrigens schon mal verheiratet.«
»Das ist nichts Ungewöhnliches«, entgegnete Romy. »Aber trotzdem ein interessanter Hinweis. Die Mister-Makellos-Nummer bringt uns irgendwie nicht weiter und wird, wenn du mich fragst, außerdem allmählich langweilig. Gibt es schon eine Telefonnummer von der Gattin Nummer eins?«
»Klar.« Fine schob ihr den Zettel über den Tisch zu und stand auf, als das Telefon klingelte. »Ich kümmere mich dann erst mal um den Exgeschäftspartner Jürgen Dreyer.«
»Okay.« Romy goss sich frischen Kaffee ein und ging zurück in ihr Büro.
Gattin Nummer eins hieß Ricarda und war nur vier Jahre mit Richardt verheiratet gewesen: von 1997 bis 2001. Inzwischen hieß sie mit Nachnamen Meinold, war also aller Wahrscheinlichkeit nach zum zweiten Mal verheiratet und lebte in Berlin. Fine hatte zwei Telefonnummern notiert, und Romy erreichte Ricarda Meinold unter dem Geschäftsanschluss einer Cateringfirma. Die Stimme klang herzlich.
»Guten Tag, Frau Meinold, mein Name ist Ramona Beccare«, stellte Romy sich vor. »Ich bin Kriminalkommissarin auf Rügen und rufe aus Bergen an. Hätten Sie ein paar Minuten Zeit für mich? Es ist sehr wichtig.«
Ricarda Meinold benötigte einige Sekunden, um ihre Überraschung zu verarbeiten. »Sie sind von der Kripo? Und das ist wirklich kein Scherz?«
»Nein, ganz und gar nicht. Sie können sich gerne vergewissern und mich im Kommissariat zurückrufen.«
»Nein, nein, schon gut … Aber Ihr Name klingt so gar nicht nach Rügen, wenn ich ehrlich sein soll.«
»Mein Vater stammt aus Italien«, sagte Romy ihren üblichen Spruch auf. Zum Heiraten bin ich nicht mehr gekommen. Mein Mann starb vorher.
»Eine Italienerin auf Rügen …« Ricarda Meinold lachte leise. »Mal was anderes. Ja, ich habe ein paar Minuten Zeit für Sie. Worum geht es denn?«
»Um Kai Richardt.«
Diesmal dauerte das Schweigen noch länger.
»Sie waren ein paar Jahre mit ihm verheiratet«, fügte Romy schließlich hinzu.
»Ja. Was ist mit ihm? Er hat doch hoffentlich nichts angestellt?«
»Nein, ganz im Gegenteil – ihm ist etwas passiert.«
Erneutes Schweigen.
»Es liegt ein schweres Gewaltverbrechen vor, Frau Meinold. Kai Richardt wurde getötet.«
Meinold atmete scharf ein. »Wie bitte? Er ist tot?«
»Ja, seit gestern. Aller Wahrscheinlichkeit nach ist er erschlagen worden. Die Ermittlungen sind in vollem Gange, und in diesem Zusammenhang sprechen wir mit so vielen Leuten wie möglich und erhoffen uns Hinweise.«
»Sie haben noch niemanden …?«
»Nein. Und ein Motiv ist bislang auch nicht in Sicht. Ihr Exmann war angesehen und beliebt, sehr erfolgreich im Beruf und ein engagierter Sportler, außerdem verheiratet und Vater von zwei kleinen Kindern. Niemand kann sich vorstellen, welches Drama sich hinter der Tat verbirgt. Es gibt nicht mal den Ansatz einer Vermutung.«
»Aber … Sie sagten, er sei erschlagen worden. Ging es um einen Überfall oder hatte es jemand auf Kai …?« Sie brach ab.
»Dem Täter ging es um Ihren Exmann«, betonte Romy. »Das jedenfalls ist ziemlich sicher.«
»Ich verstehe, aber … Unsere Ehe liegt sehr lange zurück, und wir waren nicht lange verheiratet«, wandte Frau Meinold zögernd ein.
»Eben. Darf ich Sie fragen, warum Ihre Partnerschaft nach so kurzer Zeit gescheitert ist?«, fragte Romy geradeheraus. Damit kam man manchmal erstaunlich weit.
»Also, eigentlich …«
»Wir würden die Tat gerne aufklären, Frau Meinold, und jeder Hinweis, mag er im Augenblick auch noch so nebensächlich scheinen, kann zu einer Spur führen. Ich bin zurzeit gezwungen, ein wenig im Trüben zu fischen – wenn ich es mal so salopp ausdrücken darf.«
»Ja, klar, also … Moment bitte.« Es raschelte in der Leitung. »Entschuldigen Sie die Unterbrechung. Ich habe meine Bürotür geschlossen«, erläuterte sie kurz darauf. »Ich verstehe natürlich, dass Sie recherchieren und irgendwo anfangen müssen. Was ich Ihnen sagen kann, ist Folgendes: Kai hatte eine gänzlich andere Vorstellung von unserer Ehe als ich, wie sich bald herausstellte. Ich habe viele seiner Ansichten bezüglich unseres Zusammenlebens nicht geteilt, und das führte notwendigerweise zu Konflikten. Die Trennung war nur folgerichtig.«
Romy ließ die Worte einen Moment nachklingen. Allgemeiner konnte man das Scheitern dieser Beziehung wohl kaum ausdrücken, stellte sie im Stillen fest. »Könnten Sie vielleicht etwas konkreter werden, Frau Meinold?«
»Nun, er war altmodisch. Er wollte das Sagen haben, egal, worum es ging. Geschäftlich und auch privat«, ergänzte Meinold. »Es hat sich schnell gezeigt, dass ich so nicht leben wollte. Nicht konnte. Und er sah keine Veranlassung, mir entgegenzukommen.«
»Könnte man sagen, dass er ein herrischer Typ war? Autoritär?«
»Ja, das könnte man. Aber nach außen gab er sich stets freundlich, tolerant, amüsant und offen. Alle mochten ihn.«
»Interessant.« Romy bedauerte, dass sie der Frau nicht gegenübersaß, um ihre Gestik und ihren Gesichtsausdruck beobachten zu können. Sie hatte lange genug bei der Sitte gearbeitet, um leise Zwischentöne zu registrieren, wenn es um Beziehungsstress und Machtspiele ging. »War er gewalttätig?«
Schweigen. »Das ist alles sehr lange her, Frau Kommissarin. Ich will keine schmutzige Wäsche waschen …«
»Darum geht es nicht!«, unterbrach Romy die Frau. »Ich muss das Opfer und seine Persönlichkeit kennenlernen, um Indizien für mögliche Motive und Täter zu gewinnen.«
»Ja, schon … Ich will aber nicht mehr daran zurückdenken. Ich bin froh, längst ein ganz neues Leben begonnen zu haben. Verstehen Sie, was ich meine?«
»Ich denke schon. Aber in einem Mordfall kann ich darauf keine Rücksicht nehmen. Ich darf es nicht! Und an dem Punkt müssen Sie mich verstehen.«
Erneutes Schweigen. »Na schön. Ja – er war gewalttätig, manchmal. Ein Machtmensch, auf subtile Weise. Er hatte Charme für drei, aber wenn man seine Autorität infrage stellte, wurde es sehr ungemütlich. Mehr möchte ich nicht …«
»Glauben Sie, dass er sich geändert hat?«, fiel Romy ihr schnell ins Wort. »Immerhin liegt das alles sehr lange zurück.«
»Das kann ich nicht beurteilen, Frau Beccare. So viel Menschenkenntnis möchte ich mir nicht anmaßen – auf ihn bezogen schon mal gar nicht.«
»Wie meinen Sie das?«, hakte Romy nach.
»Nach einer Scheidung ist man meistens nicht allzu gut aufeinander zu sprechen. Meine Einschätzung wäre subjektiv gefärbt.«
»Das sind Einschätzungen meistens.«
»Ich denke, Sie wissen, was ich meine.«
Da wäre ich mir nicht so sicher, dachte Romy, ließ die Behauptung jedoch stehen. »Kannten Sie seine Eltern?«
»Zu denen bestand wenig Kontakt«, erwiderte Ricarda Meinold. »Die lebten in Lübeck. Und wenn Sie mich jetzt bitte entschuldigen würden …«
»Eine letzte Frage! Jürgen Dreyer, den ehemaligen Geschäftspartner – kannten Sie den?«
»Nein. Als ich Kai kennenlernte, war er bereits alleiniger Geschäftsinhaber.«
»Hat er mal etwas verlauten lassen, warum die Zusammenarbeit nicht funktionierte?«
»Wie viele letzte Fragen haben Sie eigentlich noch?«, bemerkte Meinold in nun deutlich genervtem Ton. »Nein, ich weiß nichts davon. Kai hat nicht darüber gesprochen. Und nun …«
»Danke für Ihre Geduld, Frau Meinold.«
Romy legte auf und stützte ihr Kinn auf die Hand. Mister Makellos hat seine erste Ehefrau geschlagen – davon war sie überzeugt. Sie blickte hoch, als Fine eintrat. »Der Dreyer lebt nicht mehr.«
»Oh.«
»Ist vor zwei Jahren gestorben – Krebs.«
»Versuch doch mal jemanden ausfindig zu machen, der Richardts geschäftlichen Start in Bergen mitbekommen hat und auch was dazu sagen könnte.«
»Ich tue mein Bestes«, erwiderte Fine. »Ich könnte mal bei der Bank nachhaken, aber sehr auskunftsfreudig sind die in der Regel ohne richterlichen Beschluss nicht. Hast du schon was rausgekriegt?«
»Kai hat seine erste Frau geschlagen.«
Fine nickte langsam. »Aha.«
»Und nun interessiert es mich natürlich brennend, was Vera Richardt dazu meint.« Romy stand auf und schnappte sich ihre Lederjacke. »Bis später.«
Die Witwe sah übernächtigt aus. Mit einem erneuten Besuch der Polizei hatte sie so schnell nicht gerechnet, und verschärften Wert legte sie auf eine weitere Befragung auch nicht, das sah Romy ihr an der Nasenspitze an.
»Ich fühle mich unwohl«, bemerkte sie, während sie sich abrupt umwandte und in die Diele ging. »Hätten Sie nicht wenigstens vorher anrufen können?«
»Ich war ohnehin gerade unterwegs, Frau Richardt«, gab Romy lapidar zurück. »Und in einem Mordfall tauchen manchmal ganz unvermutet neue Aspekte und Fragen auf, denen wir so schnell wie möglich nachzugehen bemüht sind.«
Ein schneller abschätzender Blick zurück. »Gehen wir in die Küche? Ich wollte mir gerade einen Tee kochen.«
Romy setzte ihr, wie sie meinte, besonders verbindliches Lächeln auf. Ob es auch so bei der Witwe ankam, konnte sie nicht mit Sicherheit sagen. »Gerne.«
Die Küche war größer als Romys Wohnzimmer und verfügte wahrscheinlich über gehobenen Gastronomiestandard, wie die Kommissarin nach einem schnellen Rundumblick mutmaßte. Schwarz-weiße Marmorfliesen blitzten vor Sauberkeit, der Herd thronte majestätisch in der Mitte des Raumes, Kupferpfannen hingen von freiliegenden Balken herab, und die Kühl-Gefrierkombination hatte die Dimension eines Kleinwagens.
Gut gefüllt könnte man wahrscheinlich wochenlang über die Runden kommen, ohne zu verhungern, dachte Romy, was in harten Wintern mit viel Schnee – so wie der letzte, als der Verkehr auf der Insel völlig zusammengebrochen war – sicherlich nicht die schlechteste Idee war. Richardts Geschäfte gingen augenscheinlich hervorragend. Oder die Familie hatte von Hause aus Geld. Oder beides.
Auf dem Esstisch am Fenster standen Blumen. Rosen. Es war auffallend still im Haus.
»Wo sind eigentlich Ihre Kinder?«, fragte Romy und blieb neben dem Herd stehen. »Schule? Kindergarten?«
»Nein. Sie sind bei meinen Eltern. Ich brauche Ruhe.«
»Ich verstehe.«
Vera Richardt warf ihr einen zweifelnden Blick zu und gab sich keinerlei Mühe, ihre Skepsis zu verbergen. Prima, sie mag mich nicht, und ich mag sie wahrscheinlich noch weniger, stellte Romy fest. Das war für die Ermittlungen alles andere als hilfreich, aber im Moment unabänderlich.
»Gibt es Neuigkeiten?«, fragte die Witwe und setzte den Wasserkessel auf. Sie bot Romy keinen Sitzplatz an.
»Der Laptop Ihres Mannes gibt nicht allzu viel her«, sagte die Kommissarin. »Die Festplatte wurde gelöscht beziehungsweise neu formatiert, und zwar ziemlich professionell, wie unser Fachmann sagt. Wissen Sie etwas darüber?«
Die Witwe nahm eine Tasse aus dem Schrank. »Kai hatte ihn erst seit kurzem und wollte sich am Wochenende damit beschäftigen«, erwiderte sie.
»Ich weiß, das sagten Sie bereits gestern. Kannte er sich gut aus mit Computern? Hat er häufiger mal einen PC völlig neu aufgesetzt?«
Vera Richardt nickte. »Ja, Technikkram interessierte ihn. Er wusste eine ganze Menge – soweit ich das beurteilen kann.«
»Ihr Mann hatte zu Beginn seiner Geschäftstätigkeit in Bergen einen Partner, Jürgen Dreyer. Hat er mal von dem erzählt?«, fuhr Romy fort.
»Nur beiläufig. Ich kenne den gar nicht.«
Der Wasserkessel pfiff. Die Witwe stellte eine bauchförmige Teekanne bereit und goss das Wasser auf. Dann sah sie auf die Uhr, bevor ihr Blick langsam wieder zu Romy wanderte. Sie strich sich das Haar nach hinten. »Haben Sie noch mehr Fragen? Ich würde nämlich gern …«
»Hat Ihr Mann Sie geschlagen?«
Vera Richardt erbleichte. »Wie bitte?«
»Sie haben mich ganz gut verstanden.«
»Wie kommen Sie …?«
»Ganz einfach. Die erste Ehe von Kai Richardt scheiterte an seiner Gewalttätigkeit.«
Die Frau ließ die Arme sinken und starrte sie perplex an. »Und was hat das mit mir, mit uns zu tun? Ich habe gestern meinen Mann verloren – durch ein schreckliches Gewaltverbrechen, das ich eben erst zu begreifen beginne –, und Sie stellen mir eine solche Frage! Etwas mehr Feingefühl wäre durchaus angebracht.« Ihr Ton war hoch und schrill.
»Ja, ich stelle Ihnen eine solche Frage«, antwortete Romy gelassen. »Weil sie förmlich auf der Hand liegt: Ihr Mann wurde ermordet, und eine geprügelte Ehefrau hat ein ganz gutes Motiv, oder?«
Vera Richardts Augen zogen sich zu schmalen Schlitzen zusammen. »Wie kommen Sie dazu …?«
»Erkläre ich Ihnen auch gern: Ich muss alle Möglichkeiten in Erwägung ziehen, auch wenn das nicht immer feinfühlig wirkt. Das ist mein Job, und im Übrigen geht es bei Mord selten feinfühlig zu. Ihr Mann starb am Sonntagmorgen ...«
»Ich habe ihn am Samstag als vermisst gemeldet!«, fauchte Vera Richardt.
»Ich weiß.« Romy zuckte die Achseln. »Und?«
»Ich möchte, dass Sie jetzt gehen.«
»Das werde ich. Hat er Sie geschlagen – ja oder nein?«
»So ein Quatsch!«
Das war auch eine Antwort. Romy lächelte und wies auf die Blumen. »Schöne Rosen.« Damit drehte sie sich um und verließ das schmucke Haus.
Als sie zehn Minuten später ihre Vespa vor dem Polizeigebäude abstellte, fuhr Kasper gerade auf den Parkplatz. Sie wartete am Eingang auf ihn.
»Noch mehr böse Überraschungen?«, fragte sie.
Er schüttelte den Kopf. »Das nicht, aber …«
»Ja?«
»Lass uns erst mal hochgehen. Dann zeige ich dir die Pläne.«
Kasper nahm sich einen Kaffee und breitete eine Grundrisszeichnung von der Fischfabrik und den Nebengebäuden auf dem Besprechungstisch aus, während Fine nebenan lautstark mit einem Kollegen von der Bereitschaft diskutierte und das Telefon unablässig schrillte. Romy schloss die Verbindungstür.
Schneider wies mit dem Zeigefinger auf eines der alten Gebäude im Hintergrund der Fabrik. »Zur Orientierung: Hier ist die Werkstatt, in der Kai an seinem Rad gebastelt hat …«
»Hat man das eigentlich gefunden?«, fiel Romy ihm ins Wort.
Kasper nickte. »Es stand neben der Werkbank. Bittner hat es identifiziert – er war sich hundertprozentig sicher. Aber wir könnten es der Witwe auch noch mal zeigen.«
»Ja. Bei Gelegenheit.«
Kasper konzentrierte sich wieder auf die Zeichnung. »Hier, diesen kleinen Gang sind wir nach hinten durchgegangen, bis zum Treppenabgang in den Keller. Die Räume sind teils leer, teils voller Müll. Im vorderen Keller rechts von der Treppe lag die Leiche, in der hintersten Rumpelkammer haben die Kollegen das Skelett in der Truhe gefunden.«
Romy nickte, während sie sich auf der Zeichnung orientierte. Karten waren nicht ihre Stärke. Kasper wusste das und beschrieb die Gegebenheiten darum besonders ausführlich.
»Links von der Treppe befinden sich mehrere ineinanderübergehende Kellerräume, in denen die Kollegen sich vorhin gründlich umgesehen haben«, fuhr er langsam fort. »Der hinterste der Räume ist sehr schwer zugänglich und … ja, seltsam unauffällig.«
»Was heißt das?«
»Wenn man nicht sucht, findet man nichts.«
»Das ist meistens so«, gab Romy zurück. Sie lächelte.
Kasper lächelte zurück. »Wohl wahr. Wie dem auch sei. Wenn man sich durch das Gerümpel des vorderen Kellers hindurchgearbeitet hat, steht man ganz unvermutet vor einem leeren Stahlregal, hinter dem sich eine Tür befindet. Das Regal sieht relativ neu aus – jedenfalls nicht nach jahrzehntealtem Sperrmüll – und es lässt sich ohne sonderlichen Aufwand beiseiteschieben. Die Tür verfügt über ein neues Schloss, in dem ein Schlüssel von innen steckte, und der Keller ist geräumig und leer.«
»Aha. Na ja, vielleicht hat da kürzlich jemand aufgeräumt. Bittner dürfte das wissen.«
»Ganz sicher hat da jemand aufgeräumt. Es ist ungewöhnlich sauber in dem Keller. Da wurde vor nicht allzu langer Zeit gründlich geputzt. Außerdem gibt es ein Stromkabel neueren Datums. Bittner habe ich dazu schon befragt: Der weiß nichts davon.« Kasper strich sich durch den Bart.
»Vielleicht sollte ein zusätzlicher Lagerraum für Sportgeräte oder Ähnliches entstehen«, vermutete Romy. »Richardt hat unter Umständen eigenmächtig gehandelt, oder Bittner erinnert sich nicht an eine entsprechende Nachfrage von ihm. Die alten Gebäudeteile werden ihn kaum großartig interessieren.«
»Möglich, ja – die beiden waren eng befreundet, wie es scheint. Aber warum hat er einen Keller ausgewählt, der so weit von der Werkstatt entfernt ist? Warum nicht einen, der neben der Treppe liegt?«
»Hm, gute Gegenfrage«, kommentierte Romy. »Wie lange gibt es eigentlich diese Werkstatt schon?«
»Seit zehn, elf Jahren«, erwiderte Kasper prompt. »Bittner erzählte, dass Kai sie nahezu allein ausgebaut hat. Er hat sich da richtig reingestürzt. Das war wohl kurz nach der Trennung und Scheidung von seiner ersten Frau. Bittner schätzte, dass er sich ablenken musste, und hat ihm völlig freie Hand gelassen.«
Romy stutzte. »Will Bittner damit sagen, dass ihn die Trennung sehr mitgenommen hatte?«
Kasper nickte. »So habe ich das verstanden.«
»Interessant«, bemerkte Romy. »Seine Exfrau klang eher erleichtert.« Sie berichtete von ihrem Telefonat mit Ricarda Meinold.
»Tja, und Vera Richardt hat mich fast rausgeschmissen, als ich sie vorhin fragte, ob ihr Mann gewalttätig war.«
»Was alles Mögliche bedeuten kann«, sinnierte Kasper mit zusammengezogenen Brauen. »Wie geht’s jetzt weiter?«
»Wir sollten ein bisschen Hintergrundarbeit leisten und uns im Archiv schlaumachen«, schlug Romy vor. »Gab’s Anzeigen wegen häuslicher Gewalt? Vielleicht anonym? Ist der Richardt sonst mal irgendwie aufgefallen? Außerdem möchte ich, dass wir die Witwe im Auge behalten.«
»Gut.« Er faltete die Zeichnung zusammen. »Und was den Hafen angeht: Die anderen Gebäude werden natürlich auch noch gründlich durchsucht. Dem Bittner schmeckt allerdings nicht, dass die Polizei das Gelände tagelang besetzt, aber …«
»Das können wir nicht ändern«, warf Romy ein. »Vielleicht sollten wir, um das Ganze zu beschleunigen, zusätzlich einen Leichenspürhund einsetzen.«
»Hab ich schon veranlasst.«
Romy lächelte anerkennend. »Ich bin beeindruckt.«
Das Telefon klingelte. Kasper nahm ab. Er lauschte eine ganze Weile konzentriert und sah Romy an. Das Ding hat eine Lautsprecherfunktion, dachte sie, aber sie verkniff sich den Hinweis. Schneider, ansonsten mit einem beeindruckenden Gedächtnis gesegnet, vergaß häufig, technische Finessen zu nutzen.
»Ja, danke. Ich werd’s ihr ausrichten.« Kasper legte auf. »Dr. Möller kann noch keine genaueren Angaben zum Skelett machen, außer dass es sich um eine Frau handelt – eine jüngere Frau. Grob geschätzt geht er davon aus, dass sie seit gut zehn Jahren dort unten liegt. Betonung liegt auf: grob. Es können auch acht sein oder zwölf oder sogar mehr …«
»Dazu kann er im Augenblick natürlich auch noch nichts sagen. Er versucht DNA-Spuren zu gewinnen und macht eine Aufnahme vom Zahnschema. Vielleicht findet sich eine Übereinstimmung in der DNA-Datenbank, die uns weiterbringt.«
»Das wäre zu schön, um wahr zu sein«, seufzte Romy. »Klingt, als müssen wir alte Vermisstenfälle durchgehen, solange keine eindeutigen Hinweise vorliegen. Und zwar nicht nur von Rügen – die Frau kann ja von sonst wo stammen und hier abgelegt worden sein, zufällig oder geplant.«
Schneider runzelte die Stirn. »Das bedeutet, dass wir jetzt zwei Fälle an der Backe haben.«
»Genau. Hattet ihr so was schon mal auf Rügen?«
»Nö.«
Es klopfte, und Fine trat ein.
»Die Verstärkung aus Stralsund«, sagte sie in gewichtigem Tonfall und verdächtig breit lächelnd.
Hinter ihr tauchte ein zarter junger Mann mit langem seidigem Haar auf, das er zu einem Zopf zusammengebunden hatte. Er trug Anzug und Krawatte, trat scheu lächelnd zwei Schritte nach vorne und nickte freundlich in die Runde.
Wahrscheinlich macht er eine Rolle vorwärts oder gleich einen Salto, wenn Fine ihm auf den Rücken klopft, überlegte Romy verblüfft, während sie die weichen Gesichtszüge des Mannes musterte.
»Maximilian Breder – er hat vor kaum einem Jahr seine Ausbildung beendet«, stellte Fine die Verstärkung vor. »Stralsund könnte ihn ein paar Tage entbehren.« Sie lächelte noch breiter, als würde sie dafür bezahlt werden.
Kasper hob die Hand. »Willkommen.«
Romy versuchte, ihre Überraschung zu verbergen, und ging ihm mit schnellen Schritten entgegen.
»Gut, dass Sie da sind«, erklärte sie. »Wir brauchen jemanden, der das Archiv durchforstet und zudem alte Vermisstenfälle durchgeht. Wäre das was für Sie?«
»Und ob«, sagte Maximilian mit bemerkenswert kräftiger Stimme. »Womit soll ich anfangen?«