Die Überraschung war gelungen. Tim Beier hatte am frühen Morgen von der Stralsunder Polizei Besuch bekommen und war nach Bergen gebracht worden, während zwei Uniformierte aus Sassnitz Steffen Brandt aus Drigge abgeholt hatten. Die beiden begegneten sich im Flur, und Romy hatte das deutliche Gefühl, dass Brandt für einen Augenblick sehr irritiert war. Er starrte Beier an, als erwarte er einen Hinweis. Aber Romy wusste auch, dass sie manchmal zu Überinterpretationen neigte.
Sie ließ Steffen Brandt ins Vernehmungszimmer bringen. Tim Beier musste auf der Wache warten. Er warf ihr einen ärgerlichen Blick zu, den sie amüsiert zurückgab.
Die Kommissarin holte sich einen frischen Kaffee und stattete Fine einen Besuch ab, während sie auf Kaspers Rückkehr aus Sassnitz wartete. »Tust du mir einen Gefallen?«
»Klar.« Fine biss herzhaft von ihrem Schinkenbrötchen ab. »Fast jeden – das weißt du doch.« Sie grinste – rücksichtsvollerweise mit geschlossenen Lippen.
»Ich möchte die Festnetzverbindungen des Richardt-Anschlusses noch mal überprüfen, und zwar die aktuellen, also die ein- und ausgehenden Anrufe nach Kais Tod. Und Veras Handyverbindungen interessieren mich eigentlich auch.«
»Du traust der Witwe nicht?«
»Tja, ich weiß nicht so recht … Kasper meint, dass ich mit meiner Skepsis bei ihr falschliege – weil ich mich davon leiten lasse, dass ich sie nicht ausstehen kann. Letzteres stimmt, das gebe ich unumwunden zu. Sie mag mich übrigens auch nicht. Ich glaube, Frauen in Lederkluft und auf dem Motorrad sind ihr nicht ganz geheuer, aber das nur nebenbei.« Romy setzte sich auf die Schreibtischkante und trank einen Schluck.
»Andererseits hat sie kein überzeugendes Alibi, und die Ehe mit Kai gestaltete sich garantiert nicht viel entspannter als zu Ricardas Zeiten«, fuhr sie fort. »Darüber redet sie zwar nicht, was natürlich ihr gutes Recht ist, aber … Ich denke schon, dass sie etwas weiß oder wenigstens ahnt, was uns weiterbringen könnte. Außerdem reagiert sie manchmal ziemlich merkwürdig, jedenfalls meiner Einschätzung nach.«
»Das sind nicht unbedingt die schlagenden Argumente, die für eine richterliche Genehmigung reichen würden«, wandte Fine in ironischem Unterton ein. »Schon gar nicht, wenn es um die Ehefrau des Opfers geht.«
»Ich weiß.« Romy seufzte. »Versuch trotzdem mal dein Glück. Es geht ja nicht allein um Kai. Wir sind auf jeden noch so kleinen Fingerzeig angewiesen. Und vielleicht kannst du mit deinem besonderen Charme …«
Fine lächelte. »Überredet. Mach ich. Die Sache mit dem fehlenden Alibi kann man ja durchaus ein bisschen übertreiben. Unter Umständen verdichten sich auch die Hinweise auf einen Liebhaber … Und wir wollen doch keine Möglichkeit ausschließen, nicht wahr?«
Romy lächelte. »Auf gar keinen Fall! Ich stelle mit Freuden fest, dass wir uns verstehen.«
Kasper traf wenige Minuten später ein. Seine Miene verhieß nichts Gutes. »Marko hat im Gerümpel ein paar Möbelteile gefunden, die Kai durchaus für seine Zwecke genutzt haben könnte«, berichtete er. »Bett, Stuhl, eine alte Waschschüssel. Damit könnte er den Raum eingerichtet haben.«
Er legte seine Videokamera auf den Tisch. »Wenn wir Glück haben, lassen sich Spuren sichern.«
»Das ist doch eine gute Nachricht. Warum ziehst du so ein Gesicht?«, fragte Romy.
Kasper winkte ab. »Marko hat die Sachen im Keller aufgebaut, um das Ganze atmosphärisch zu veranschaulichen. Ich kann dir sagen, das sieht richtig unheimlich aus.« Er fuhr sich durchs Haar. »Selbst auf dem Video.«
Romy riss sich nicht darum, Mirjam Lupak darauf vorzubereiten, sich die Kellervideos anzusehen. Sie kann sich weigern, dachte sie. Vielleicht wäre es schlau, genau das zu tun. Um den kleinen Seelenfrieden nicht zu gefährden …
»Nimm dir auch einen Kaffee«, sagte sie zu Schneider. »Wir fangen mit Steffen Brandt an. Der ist übrigens kein unbeschriebenes Blatt.«
»Wer ist das schon?«
Brandt hatte die muskulösen Unterarme auf den Tisch gelegt. Eine Schlangen-Tätowierung kringelte sich um sein Handgelenk. Der Mann war Ende dreißig, wirkte aber deutlich älter. Sein Kopf war kahlgeschoren, die dunklen schmalen Augen musterten erst Schneider, dann Romy. Ein Gesicht, in dem sich das Leben tief eingegraben hatte – besonders mit seinen Schattenseiten.
Romy warf einen Ordner auf den Tisch, stellte Schneider und sich vor und setzte das Aufnahmegerät in Gang. Brandt verzog keine Miene.
»Sind Sie schon lange mit Tim Beier befreundet?«, fragte Romy in freundlichem Ton, nachdem sie einige einleitende Sätze fürs Protokoll gesprochen hatte.
»Ein paar Jahre, aber deswegen bin ich wohl kaum hier. Was wollen Sie von mir?«, gab er gelassen zurück.
Seine Stimme klang angenehm tief und selbstbewusst. Keine Spur mehr von Irritation. Er schien nicht besorgt zu sein oder verstand es hervorragend, seine Gefühle zu verbergen.
»Wir untersuchen mehrere schwerwiegende Straftaten, dazu gehört auch Mord …«
»Und was hab ich damit zu tun? Oder Tim?«
»Das wird sich zeigen.«
»Verdächtigen Sie mich?«
»Noch nicht. Wir haben lediglich einige Fragen an Sie. Dann sehen wir weiter.«
»Wer’s glaubt …«
Romy lächelte zuvorkommend und strich sich eine Locke aus der Stirn. »Herr Brandt, was haben Sie am letzten Wochenende gemacht?«
»Ausgeschlafen und im Vereinsheim gearbeitet«, gab er prompt zurück. »Dafür gibt es Zeugen. Fragen Sie nach.« Er machte eine wegwerfende Handbewegung.
»Waren Sie vielleicht zwischendurch auch mal in Sassnitz?«
»Nö.«
»Oder überhaupt auf Rügen unterwegs?«
»Nö.«
»Vielleicht in der Woche davor?«
Brandt zuckte mit den Achseln. »Ich stehe nicht auf Rügen. Zu viele Touristen, wenn Sie mich fragen.«
»Immerhin sind Sie seit gestern in Drigge.«
»Ja, ausnahmsweise. Ich sollte mich um den Bungalow von Tims Vater kümmern – da sind ein paar kleinere Handwerksarbeiten zu erledigen.«
»Aha. Arbeiten Sie häufiger für Tim Beier?«
»Ja. Ist ja nicht verboten.«
»Auf gar keinen Fall.«
Brandt nickte zufrieden. Romy nickte freundlich zurück. Sie hörte, dass er entspannt durchatmete.
»Letzte Woche waren Sie in Buschvitz und haben vor dem Haus von Kai Richardt Wache geschoben. War das auch ein Job? Womöglich ein Job, den Sie für Tim erledigten?«
Eine Augenbraue zuckte. Na bitte, dachte Romy. »Was wollten Sie dort?«
»Ich war nicht in Buschvitz«, widersprach er.
»Es gibt eine Zeugin.«
»Super. Dann irrt sie sich.«
Romy wiegte den Kopf von einer Seite zur anderen. »Ja, so was kann vorkommen. Einen Moment bitte. Wir unterbrechen an dieser Stelle mal kurz.«
Sie schaltete das Gerät aus, entnahm ihm die Kassette und reichte sie an Kasper weiter, der sie, ohne ein Wort zu sagen, nach vorne brachte. Sie lächelte Brandt freundlich zu und schob eine zweite Kassette in den Rekorder. Er verfolgte ihre Bewegungen mit flinken Augen, verkniff sich aber eine Nachfrage.
»Wir lassen Ihre Stimme analysieren«, erklärte Romy. »Wenn Sie sich einen Gefallen tun möchten, dann geben Sie lieber gleich zu, dass Sie der anonyme Anrufer waren, der die Polizei am Sonntagabend auf die Leiche von Kai Richardt aufmerksam gemacht hat. Es gibt Pluspunkte, wenn man mit der Wahrheit rausrückt, bevor wir sie Ihnen ohnehin nachweisen können.«
Brandt zog die Brauen zusammen. »Ich sammle keine Pluspunkte – ich bin kein Rabatttyp.«
»Was sind Sie denn für ein Typ?« Romy schlug den Hefter auf. »Sie sind schon einige Male von der Polizei aufgegriffen worden: kein fester Wohnsitz …«
»Das ist kein Verbrechen und außerdem ewig her.«
»Stimmt. Aber Klauen und Randalieren sind zumindest kleinere Delikte.«
»Es gibt Schlimmeres.«
»Genau das wollte ich zum Ausdruck bringen – kleinere Delikte, aber immerhin Delikte, mit denen sich die Polizei schon mal beschäftigen musste.«
»Die Polizei beschäftigt sich mit allerlei unwichtigem Kram«, bemerkte Brandt lässig.
Kasper betrat wieder den Raum und setzte sich.
»Kann schon sein. Aber manchmal geht es auch um richtig fiese Geschichten.«
»Kommen Sie langsam zum Punkt, Frau Kommissarin. Was wollen Sie von mir?«, fragte Brandt ungeduldig.
»Wie haben Sie Tim kennengelernt?«
»Spielt das eine Rolle?«
»Vielleicht.«
»Das glaube ich nicht«, widersprach er. »Wir sind Freunde, und ich jobbe oft für ihn. Mehr sage ich dazu nicht, auch wenn Sie die Frage noch zehn Mal stellen.«
»Für Freunde tut man einiges, nicht wahr?«
Auch dazu wollte Brandt nichts sagen. Romy nahm ein Foto von Mirjam Lupak aus der Akte und legte es vor ihn auf den Tisch. »Kennen Sie das Schicksal dieser Frau?«
»Ich kenne das Schicksal von keinem Menschen auf diesem Planeten.«
Romy beugte sich vor. »Reden Sie keinen Scheiß, Brandt!«, fuhr sie ihn an. »Diese Frau war vor einigen Jahren mit ihrem Freund zusammen und ist das Opfer eines Verbrechers geworden, der mit allergrößter Wahrscheinlichkeit Kai Richardt heißt – vor dessen Haus Sie sich einige Tage zuvor noch herumgetrieben haben und der wenig später erschlagen wurde!«
»Ich sagte eben schon, dass das nicht stimmt, und daran ändert sich auch nichts, wenn Sie laut werden«, gab Brandt aufreizend lakonisch zurück.
Romy atmete tief aus. »Na schön. Wir werden weitere Zeugen finden, die sich an Ihren Fiat erinnern können – das ist kein typisches Fahrzeug hier in der Gegend. Außerdem ist die Straße nicht gerade lebhaft befahren. Jemand, der dort nicht wohnt und in seinem Wagen sitzend die Gegend beobachtet, fällt auf.«
Er zuckte mit den Achseln, aber Romy spürte, dass ihm der Gedanke nicht gefiel. Sie wandte sich zu Kasper um. »Ich schlage vor, wir ziehen die erkennungsdienstliche Behandlung vor und Herr Brandt bekommt etwas Zeit, seine Aussage zu überdenken. Währenddessen warten wir das Ergebnis der Stimmanalyse ab und unterhalten uns zunächst mit Tim Beier.«
Schneider erhob sich und bedeutete Brandt, ebenfalls aufzustehen. An der Tür holte ihn kurz darauf ein Uniformierter ab.
Kasper lehnte sich an den Türrahmen und sah Romy an. »Ich fahre nach Buschvitz, während du schon mal mit dem Beier sprichst, und befrage die Nachbarn.«
Romy nickte langsam. »Tu das. Falls die Witwe keinen Mist erzählt hat und es tatsächlich jemanden gibt, der die Beobachtung bestätigt, könnte das den selbstbewussten jungen Mann durchaus erschüttern. Und nimm dir ein Foto von einem Fiat 500 mit! Außerdem sollen Max oder Fine mal in dem Vereinsheim anrufen und Brandts Alibi checken.«
»Ich sage Bescheid.« Kasper legte die Hand auf die Klinke, drehte sich dann aber noch einmal um. »Glaubst du, die beiden stecken unter einer Decke?«
»Ich befürchte schon. Fragt sich nur, wobei.«
Tim Beier schien zwischen Nervosität und Ärger zu schwanken. Er wirkte bei weitem nicht so abgeklärt wie Brandt – oder wie Brandt sich zu geben verstand.
»Wie haben Sie Steffen Brandt kennengelernt, Herr Beier?«, fragte Romy.
»Ich habe ihm mal aus einer misslichen Lage geholfen«, erwiderte Beier sichtlich erstaunt. Die Frage hatte er nicht erwartet. »Seitdem sind wir befreundet. Er jobbt auch mal für mich.«
Romy sah ihm direkt in die Augen. Er gab den Blick zurück. Sie öffnete ihren Hefter. »Herr Beier, Sie haben uns angelogen.«
Er lehnte sich zurück. »Tatsächlich?«
»Anhand Ihrer Telefonverbindungen ist ersichtlich, dass Sie mit Mirjam Lupak telefoniert haben, und zwar am Montagmorgen.«
»Ich habe in der Tierarztpraxis angerufen – das stimmt. Hatte ich vergessen.«
Romy hob die Brauen. »Einen so wichtigen Aspekt haben Sie trotz unserer Nachfrage einfach vergessen?«
»Ja – das kommt vor. Ich war sehr aufgeregt wegen der Kai-Richardt-Geschichte …«
»Das glaube ich Ihnen aufs Wort!«
»Und habe ihr nur kurz Bescheid gesagt, dass ein Bekannter ums Leben gekommen ist«, fuhr Beier fort, ohne auf ihren sarkastischen Ton einzugehen. Er legte die Hände auf den Tisch.
»Sie hatten jahrelang keinerlei Kontakt zu Ihrer Exfreundin – warum sollten Sie Mirjam deswegen anrufen? Sie hätte es am nächsten Tag aus der Zeitung erfahren.«
»Solche Verbrechen kommen hier in der Gegend nicht gerade häufig vor, glücklicherweise, und ich vermutete, dass sie sich an den Namen erinnern würde.«
»Sie hat sich nie sonderlich für Ihre Sportaktivitäten und die Laufszene interessiert«, wandte Romy ein. »Das hat sie mir selbst gesagt.«
»Aber ich habe Kai bestimmt trotzdem mal erwähnt«, wandte Beier ein. »Das glaube ich zumindest.«
Romy lehnte sich zurück. »Ihre Darstellung überzeugt mich nicht.«
»Schade.« Tim Beier lächelte – zugegebenermaßen ausgesprochen charmant. »Und deswegen laden Sie mich vor? Wegen eines Telefonats, das ich vergessen hatte zu erwähnen? Was wollen Sie mir denn damit in Bezug auf den Mord an Kai beweisen? Ich war, wie schon letztens ausführlich besprochen und geklärt, am Wochenende in Berlin.«
Gute Frage, dachte Romy. Der einzelne Aspekt war mehr als dünn und würde weder den Staatsanwalt noch den Richter überzeugen. Doch im Zusammenspiel mit Richardts Verbrechen an Mirjam bekam er durchaus eine Bedeutung. Vielleicht musste sie ein bisschen pokern, um Beier aus der Reserve zu locken.
»Ja, Sie haben recht, das klingt auf den ersten Blick wenig bedeutsam«, gab Romy zu. »Sie haben mit Ihrer Ex telefoniert und das bei den ersten Befragungen außen vor gelassen.« Sie nickte beiläufig. »Nicht gerade ein tragisches Vergehen. Andererseits hat auch Mirjam behauptet, seit Jahren nichts mehr von Ihnen gehört zu haben. Warum eigentlich? Warum leugnen Sie beide die Tatsache eines kurzen Telefonats?«
»Sie hat es eben auch vergessen – weil es völlig unwichtig war«, sagte Beier. Er nahm die Hände vom Tisch.
Romy schüttelte den Kopf. »Nein, ganz im Gegenteil – die Tatsache, dass sie miteinander gesprochen haben, war so immens wichtig, dass Sie beide zu einer Lüge bereit sind.«
Tim Beier verzog keine Miene.
»Wir werden natürlich Mirjam auch noch einmal dazu befragen, befragen müssen«, fuhr Romy fort. »Und was dieser ganze Polizeistress bei Ihr bewirkt, muss ich kaum betonen, oder?«
Beier schluckte und wich ihrem Blick aus. Er schwieg weiterhin.
Die Kommissarin beugte sich vor. »Wissen Sie, was ich annehme?«
»Nein, das weiß ich nicht.«
»Sie haben Mirjam angerufen, um ihr zu sagen, dass der Verbrecher, der ihr und damit auch Ihnen vor Jahren Fürchterliches angetan hat, tot ist«, behauptete sie ruhig. »Und dabei stellt sich die brisante Frage, woher Sie zu diesem Zeitpunkt bereits über Kai Richardt und seine Taten Bescheid wussten – eine von mehreren brisanten Fragen.«
Beier schüttelte den Kopf. »Quatsch! Das wusste doch niemand! Und wie sollte ich das in Erfahrung gebracht haben?«
»Das genau werden wir herausfinden. Und wenn die Kriminaltechnik mit ihrer Arbeit durch ist, wird es garantiert irgendeine Spur geben, die beweist, dass Sie hinter der Fischfabrik waren. Gemeinsam mit Steffen Brandt.«
»Das haben Sie schon beim letzten Mal angedroht«, bemerkte Beier betont locker. »Bislang gibt es aber keine Spuren und damit keine Beweise.«
»Hatte ich schon erwähnt, dass Brandt dabei beobachtet wurde, wie er vor Kai Richardts Haus in Buschvitz Wache geschoben hat?«, fragte Romy höflich. »Ich denke, dass er in Ihrem Auftrag handelte. Was sagen Sie dazu?«
Seine Unterlippe zuckte.
»Wir werden beweisen, dass Steffen Brandt der anonyme Anrufer war, der uns netterweise am Sonntagabend auf die Leiche von Kai Richardt hingewiesen hat«, fuhr Romy fort. »Und Sie sollten sich sehr genau überlegen, ob es nicht wesentlich klüger ist, mit der Wahrheit herauszurücken, statt darauf zu warten, dass die Polizei sie Ihnen bröckchenweise vor die Füße wirft. Das kommt vor Gericht nie besonders gut an.«
»Sie wissen schon, dass ich das Recht habe, einen Anwalt zurate zu ziehen?«
»Natürlich haben Sie dieses Recht«, bestätigte Romy. »Nur – der wird Ihnen genau das Gleiche erzählen, aber von mir kriegen Sie den Tipp umsonst.«
Sie stoppte das Aufnahmegerät und rief per Telefon einen Beamten. Während sie auf den Kollegen wartete, sah sie Beier an. Der Mann war blass.
»Ich lasse jetzt Mirjam Lupak holen«, sagte sie leise, als die Tür aufschwang und Beier sich erhob. »Überlegen Sie sich gut, was Sie Ihrer Exfreundin zumuten wollen.«
Er versteinerte und starrte sie mit weidwundem Blick an. Romy war sich darüber im Klaren, dass es unfair war, ihn so zu attackieren, aber sie hatte zum ersten Mal das Gefühl, den Geschehnissen auf den Grund gehen zu können. Und Tim Beier und Mirjam Lupak spielten dabei eine zentrale Rolle.
Erna Thile war aufgeregt. Der Kommissar hatte entfernt Ähnlichkeit mit dem Soko-Beamten aus Köln, wenn er auch blaue Augen hatte und einen Bart, einige Jahre älter war und sehr viel ernster wirkte. Außerdem fuhr er kein französisches Auto, sondern einen Audi. Wenn sie es recht bedachte, bestand die Hauptähnlichkeit darin, dass beide den gleichen Beruf ausübten. Aber der Kommissar aus Bergen war echt, aus Fleisch und Blut, und er stand vor ihrer Tür und wollte eine Auskunft – von ihr.
Erna drehte den Rollstuhl zur Seite und bat Kommissar Schneider herein, nachdem sie einen langen prüfenden Blick auf seinen Ausweis geworfen hatte.
»Möchten Sie eine Tasse Tee?«, fragte sie auf dem Weg in die Küche. »Ich mache mir nämlich gerade meinen zweiten Morgentee: Hagebutte oder Jasmin. Sie haben die freie Wahl. Sie sind beide sehr gut.«
Der Kommissar lächelte höflich und lehnte dankend ab. Wahrscheinlich trank er lieber Kaffee, aber der war ungesund. Er griff in die Seitentasche seiner Jacke und holte zwei Fotos heraus. Der abgebildete Mann sagte ihr nichts, aber der Wagen …
»Sie sind viel zu Hause, Frau Thile«, bemerkte der Kommissar. »Unter Umständen bekommen Sie einiges von dem mit, was hier in der Straße so vor sich geht.«
Erna machte ein nachdenkliches Gesicht. »Ja, möglich. Ich sitze häufig auf der Terrasse, auch wenn es kalt ist. Geht es um das schreckliche Verbrechen an unserem Nachbarn, Kai Richardt? Sind Sie deswegen hier?«
»In diesem Zusammenhang ermitteln wir, ja«, antwortete der Kommissar zurückhaltend. Er wies auf das Foto mit dem Auto. »Ist Ihnen ein solches Fahrzeug in letzter Zeit mal aufgefallen?«
Sie blickte erneut auf das Foto. »Ein roter Fiat 500 – ja«, sagte Erna Thile prompt. »So ein Auto stand letztens eine ganze Weile hier rum. Ich kenne mich ganz gut aus mit den verschiedenen Automarken. Mein Sohn ist Kfz-Mechaniker und hat eine eigene Werkstatt.« Sie nickte eifrig. »Ich habe ihn gesehen, als ich draußen in der Sonne saß – also, ich meine den Fiat. Ich dachte erst, der hätte sich verfahren. Aber dann hörte ich, dass er den Motor abgestellt hatte, und nahm an, dass der Fahrer telefonieren wollte. Man darf ja während der Fahrt nicht telefonieren.«
Kommissar Schneider lächelte. »Sie sind gut informiert.«
»Ich bin sechsundachtzig, aber ich bekomme noch alles mit, und blöd bin ich auch nicht.«
»Um Gottes willen – so meinte ich das natürlich nicht!«
Er sah sie so erschrocken an, dass Erna augenblicklich Mitleid bekam.
»Schon gut. Ich meine ja nur. Manche Leute denken, dass man ab dem achtzigsten Lebensjahr nicht mehr ganz rund tickt. Also, so ein Fiat war hier letztens unterwegs«, erklärte sie noch einmal mit Nachdruck.
»Können Sie einschätzen, wie lange er hier stand?«
»Vielleicht zehn Minuten. Kurz nachdem der Richardt weggefahren war, fuhr er auch wieder los.«
Der Kommissar notierte sich ihre Anmerkung. »Wissen Sie den Tag noch?«
»Mitte der Woche, glaube ich – so vom Gefühl her. Festlegen könnte ich mich aber nicht. Die Tage verschwimmen häufig. Meine Freundin führt ja Tagebuch. Sie sagt, das hilft, wenn man verhindern möchte, dass ein Tag den anderen einfach verschluckt …«
»Interessant«, bemerkte der Kommissar und schloss sein Notizheft. Seine Miene erweckte den Anschein, als meinte er das auch so. »Gut, Frau Thile, das genügt mir erst mal.«
Erna Thile goss sich vorsichtig eine Tasse Tee ein, rührte braunen Zucker hinein und wandte Kommissar Schneider dann das Gesicht wieder zu.
»Wenn Sie schon mal hier sind, kann ich Ihnen auch noch etwas anderes erzählen, was mir letztens aufgefallen ist«, erklärte sie nach kurzem Zögern.
»Ja, nur zu. Jede Beobachtung kann von Bedeutung sein.«
»Die Frau Richardt ist aufs Dach geklettert – am letzten Samstagnachmittag. Auf das Dach ihres Hauses. Das macht sie sonst nie.«
Der Kommissar sah sie verblüfft an und räusperte sich. »Vera Richardt ist aufs Dach geklettert? Sind Sie sicher?«
»Ich saß auf der Terrasse und konnte es gut beobachten. Ich dachte erst, sie hätte ihren Schlüssel vergessen und müsste über den Balkon steigen, aber …« Sie schüttelte den Kopf. »Die Kinder waren ja da, und sie hätte klingeln können. Dann überlegte ich, dass sie vielleicht was reparieren wollte – einen Dachziegel oder so. Aber solche Dinge hat sie nie gemacht.«
Der Kommissar sah sie stirnrunzelnd an. Er glaubt mir nicht, dachte Erna. Die Geschichte mit der Nachbarin auf dem Dach hält er meinem fortgeschrittenen Alter zugute oder meiner Phantasie. Vielleicht auch beidem. Sie seufzte. Laut ausgesprochen hörte sich das Ganze schon ziemlich verrückt an – selbst in ihren eigenen Ohren. Ich hätte den Mund halten sollen. Aber es war so nett, mit ihm zu plaudern, über eine wichtige Beobachtung zu sprechen und irgendwie mal wieder mitten im Leben zu stehen.
»Vergessen Sie es«, sagte sie plötzlich. »Vielleicht habe ich mich getäuscht. Oder mit offenen Augen geträumt. Kann ja mal vorkommen.«
Schneider lächelte. »Ja, so was kommt vor. Nicht weiter tragisch. Ich danke Ihnen erst mal, Frau Thile. Sie haben uns sehr geholfen. Vielleicht kommen wir noch einmal auf Sie zurück.«
Kann ich mir nicht vorstellen, dachte Erna, aber sie wünschte es sich.
Kasper rief Romy während der Rückfahrt an.
»Ich habe sechs Leute in der Straße gefragt. Außer Vera Richardt meinen noch zwei andere, sich an einen Fiat zu erinnern, der am Straßenrand parkte. Eine Zeugin wäre wahrscheinlich vor Gericht nicht hundertprozentig überzeugend, aber immerhin gibt es außer der Witwe einen weiteren Zeugen, den wir benennen können.«
»Okay. Das ist doch was.«
»Gibt es bei dir schon was Neues?«
»Tim Beier blockt nach wie vor, ist aber ziemlich irritiert, wie viel wir wissen. Wir kommen allerdings nicht darum herum, Mirjam Lupak erneut zu befragen. Mir wird schon ganz elend, wenn ich nur daran denke.«
Kasper strich sich durchs Haar. »Ja, mir auch. Gibt es schon eine Nachricht aus Greifswald?«
»Erwarten wir jeden Moment.«
»Gut, ich bin gleich da.«