Das Hotel folgte hundertzehnprozentig dem Stil der mondänen Bäderarchitektur – eine grellweiß verputzte Villa, die von gepflegten Grünanlagen umgeben und mit filigranen Veranden und Balkonen, zahlreichen Türmen und Erkern herausgeputzt und auf den Ansturm der Rügen-Urlauber bestens vorbereitet war.
Man kann es mit dem mediterranen Flair auch übertreiben, dachte Romy mit unterdrücktem Seufzen, während sie in einer Sitzecke im Foyer zwischen plätscherndem Brunnen und zwei lebensgroßen Büsten prominenter Inselsöhne – Caspar David Friedrich und Ernst Moritz Arndt, wie sie den Plaketten entnahm – auf den Geschäftsführer warteten. Sie hätte glatt ihren Roller darauf verwettet, dass die neue Anlage mit Heinrich Laubers ursprünglichem Hotel kaum noch etwas gemein hatte. Bis auf den Standort. Es mochte voreingenommen sein, aber sie hätte sich für ein Zimmer in Laubers Hotel entschieden – wenn sie die Wahl gehabt hätte.
Hinz Posall hatte kaum fünf Minuten später Zeit für sie. Der Geschäftsführer war ein rothaariger, bleichgesichtiger Mann von schätzungsweise Mitte fünfzig, der leicht ins Schwitzen geriet. Er dürfte gerade mal eins siebzig groß sein, schätzte Romy, und hatte ungefähr die Figur von Danny DeVito und auch dessen flinke Augen. Er bat die Kommissare freundlich lächelnd in sein Büro hinter der Rezeption und ging bemerkenswert leichtfüßig voran.
»Was kann ich für Sie tun?«, fragte er und wies einladend auf eine Sitzecke am Fenster.
Das Meer lag direkt vor ihnen. Schaumgekrönte Wellen unter hellblauem Himmel und windzerfetzten Wolkenbänken. In der diesigen Ferne die graue Silhouette einer Fähre, vielleicht die nach Trelleburg.
Was für ein Ausblick, dachte Romy. Hier käme ich nie zum Arbeiten. Sie setzte sich mit dem Rücken zum Fenster. »Danke, dass Sie uns so spontan empfangen.«
»In der Vorsaison ist das kein Problem«, erwiderte Posall. »Aber wenn das Haus im Sommer voll ist …« Er winkte ab und strahlte. Dann wandte er sich Kasper zu.
»Hat einer meiner Gäste was angestellt?« Er lächelte breit und runzelte dann unvermittelt die Stirn. »Ach je, jetzt weiß ich, warum Sie hier sind. Es geht um Kai, nicht wahr? Natürlich geht es um Kai.«
Er atmete tief ein und schüttelte den Kopf, als wunderte er sich über seine Gedankenlosigkeit.
Romy nickte. »Ja. Sie haben davon gehört?«
Posall drehte sein Gesicht der Kommissarin zu, sichtlich erstaunt, dass sie das Wort an ihn richtete. »Natürlich, Thomas Bittner hat mich am Sonntagabend angerufen. Ich konnte es zunächst gar nicht glauben …«
»Waren Sie eng befreundet?«
»Ich kenne Kai seit ewigen Zeiten. Aber Freundschaft ist für mich immer noch ein großes Wort.« Er schüttelte nachdenklich den Kopf. »Nein, eng befreundet waren wir nicht.«
»Kennen Sie ihn länger als zwanzig Jahre?«
Hinz Posall warf ihr einen verblüfften Blick zu. »Ja, so um den Dreh. Meine Güte, wie die Zeit vergeht. Wir sind aber eher Geschäftspartner als dicke Freunde oder Sportkollegen. Im Gegensatz zu Bittner tauge ich nicht gerade als Laufpartner, wie Sie bereits unschwer festgestellt haben dürften.« Posall verzog leicht amüsiert den Mund. »Noch nie gewesen. Kai sagte mal, meine Größe wäre perfekt, nur das Gewicht müsste ich noch halbieren – dann könnte ich läuferisch durchaus was auf die Beine stellen. Er fand das Wortspiel übrigens ganz lustig. War aber noch nie mein Sport, wenn ich ehrlich bin.«
Romy lächelte. »Wie haben Sie Kai Richardt eigentlich kennengelernt?«
»Über seine Eltern in Lübeck.«
»Ach?« Romy lehnte sich zurück. »Erzählen Sie mal.«
»Ich stamme aus Bad Segeberg, das ist quasi um die Ecke – ich meine: in der Nähe von Lübeck. Der alte Richardt hat zusammen mit seiner Frau ein großes Hotel in Lübeck geführt, und ich habe als Geschäftsführer bei ihm gearbeitet, Ende der achtziger Jahre«, begann Posall. »Kai fing wenig später an, die Segel zu streichen, um sich hier im Osten was Eigenes aufzubauen.«
»Aber er hat die Branche gewechselt?«
Posall schlug ein Bein über das andere. »Er hat zwar hin und wieder im elterlichen Hotel ausgeholfen, sich aber entschieden, Innenarchitektur zu studieren. Kai war noch ziemlich jung – gerade mal Mitte zwanzig. Er wollte weg aus dem beschaulichen Lübeck, weg von den Eltern und weg von dem, was die ihr Leben lang gemacht hatten – eine Hotelkarriere kam für ihn nicht infrage. Was Eltern gut und wichtig finden, müssen Kinder noch lange nicht genauso bewerten.«
Wem sagst du das, dachte Romy.
»Die waren darüber natürlich alles andere als begeistert«, fuhr Posall fort. »Aber schließlich haben sie ihn mit einem ordentlichen Startkapital ausgestattet ziehen lassen, und Kai hat sich ganz unerschrocken auf die Socken gemacht, wie das so seine Art war. In Schwerin hat er Jürgen Dreyer kennengelernt …«
Romy beugte sich vor. »Sie meinen Richardts späteren Geschäftspartner?«
»Ja, der Mann hatte Karriere in der DDR-Verwaltung gemacht – allerdings keine zu große Karriere, die ihm später hätte hinderlich werden können, wenn Sie verstehen, was ich meine – und damit die besten Kontakte und Voraussetzungen, um Kai den Weg in der aufregenden Zeit nach der Wende zu ebnen«, erklärte Posall. »Außerdem war Dreyer bereits vierzig und wirkte nicht mehr so jugendlich übermütig wie Kai zu der Zeit – das kommt deutlich besser an, wenn man sich selbständig machen und Vertrauen wecken will.«
Hinz Posall neigte seinen Kopf zur Seite. Es sah aus, als lauschte er dem Echo seiner Worte nach. »Die beiden haben schließlich auf Rügen gemeinsam die Firma aufgebaut, die ja in ganz Mecklenburg-Vorpommern tätig ist und schon nach kurzer Zeit bestens lief«, fuhr er dann fort. »Umbruch und Neubeginn haben die Auftragsbücher gut gefüllt, und Kai ist … war ein großes Ass.«
»Warum?«, hakte Romy nach. »Was machte ihn aus?«
»Er konnte den Leuten klarmachen, was sie für ihre Büros oder Geschäftsräume oder Praxen wirklich brauchen, ohne dass die das Gefühl hatten, ihnen würde was aufgeschwatzt«, entgegnete Posall ohne Zögern. »Er hat sich intensiv mit seinen Kunden befasst, und es ist kein Zufall, dass er so viele Stammkunden hat. Kai war ein fantastischer und ideenreicher Praktiker und ein fast noch besserer Verkäufer. Der hätte wahrscheinlich in jeder Branche Karriere gemacht.«
»Haben Sie eine Vermutung, warum Dreyer und Richardt sich wieder getrennt haben?«, fragte Romy. Sie hatte den Eindruck, dass Posall im Gegensatz zu Bittner alles andere als fassungslos oder niedergeschlagen war.
Hinz Posall nickte sofort. »Ganz einfach: Kai wollte den Laden für sich. Er war sehr schnell der Motor des Ganzen, und er hatte keine Lust, sich was sagen zu lassen oder großartig zu diskutieren. Seine Ideen erwiesen sich ohnehin grundsätzlich als die besseren, und warum sollte er an einem Partner festhalten, den er immer stärker als Klotz am Bein empfand?«
»Weil der ihm den Weg geebnet hatte, zum Beispiel«, argumentierte Romy für Dreyer.
Posall lächelte. »Das entsprach nicht Kais Geschäftsverständnis.«
»Ach so. Er wollte alleine verdienen?«
»Ja, das auch. Er hat Dreyer ausbezahlt, und das war’s. Danach gingen seine Geschäfte gleich noch mal so gut.« Hinz Posall zuckte mit den Achseln. »Ja, ich weiß – hört sich hart an, zumal Dreyer später sehr krank wurde und inzwischen nicht mehr lebt, aber so war es nun mal. Kai hatte schon immer einen guten Riecher.«
Romy warf Kasper einen vielsagenden Blick zu. Dann wandte sie sich wieder dem Geschäftsführer zu. »Ihre Erörterungen sind ausgesprochen interessant, aber haben Sie nicht etwas Wichtiges vergessen?«
Posall verschränkte die Arme vor der Brust. »Das will ich nicht ausschließen.« Er lächelte höflich. »Verraten Sie mir, worauf Sie hinauswollen?«
Romy machte eine raumgreifende Handbewegung. »Das Hotel.«
»Ach so, ja, natürlich.« Er schlug sich leicht vor die Stirn. »Kai hat mich damals darauf aufmerksam gemacht, vielleicht hatte er die Info auch von Dreyer – das weiß ich nicht, aber das wäre gut möglich. Auf Rügen geht richtig was, hat er gesagt und einen Kontakt für mich hergestellt. So konnte ich den Laden hier günstig kaufen.«
Romy sah aus den Augenwinkeln, dass Schneiders Miene sich verdüstert hatte.
»So gut gingen die Geschäfte dann aber doch nicht – zumindest am Anfang nicht, oder?«, ergriff Kasper plötzlich das Wort.
»Sie sind gut informiert«, bemerkte Posall anerkennend. »Ja, so war das. Mein Startkapital war schnell aufgebraucht – das Hotel war total marode, dann kam noch ein laues und ein allenfalls bescheidenes Jahr hinzu. Kurz nach der Wende flogen viele lieber erst mal nach Mallorca, wenn sie schon das Geld für Urlaubsreisen hatten, vor allen Dingen die Ossis – wie man damals sagte.« Er hob beschwichtigend die Hände. »Eins kam zum anderen. Ich habe mich dann noch eine Weile über Wasser gehalten, aber es hätte eindeutig besser laufen können. Kai hatte dann die Idee, das Ganze über eine GmbH zu sanieren … Eine gute Idee.«
»Haben Sie einen Bruder, Herr Posall?«, setzte Schneider nach. »Klaus Posall.«
»Ja.« Der Hotelier zog ein verblüfftes Gesicht.
»Er ist gemeinsam mit Thomas Bittner und der Firma von Kai Richardt Gesellschafter der GmbH, der das Hotel seit mittlerweile gut elf Jahren gehört.«
»Richtig, und ich bin der Geschäftsführer.« Posall runzelte die Stirn. »Sagen Sie mal, was hat das Hotel eigentlich mit Kais Tod zu tun?«
»Mal sehen … Wissen Sie, Ihr Geschäftspartner ist auf höchst unerfreuliche Weise ums Leben gekommen«, erläuterte Romy. »Man hat ihn brutal erschlagen. In dem Zusammenhang interessiert uns alles Mögliche – auch zehn oder zwanzig Jahre zurückliegende Ereignisse können von Bedeutung sein.«
Posall nickte langsam. »Ja, durchaus …«
»Sie waren kein Fan von ihm, stimmt’s?«
Er hielt kurz den Atem an.
Die Frage war ihr einfach herausgerutscht. Posalls Leutseligkeit wirkte ihrem Empfinden nach an einigen Stellen unpassend und sollte vielleicht etwas überspielen, das über die übliche Unsicherheit im Gespräch mit Polizeibeamten hinausging.
»Wissen Sie, dieser Aspekt interessiert mich ganz besonders, denn in seinem Umfeld stoßen wir bislang nur ausnahmsweise auf Menschen, die Richardt nicht toll fanden: sympathisch, beliebt und so weiter. Kaum jemand kann sich vorstellen, dass dieser Mann Feinde hatte, noch dazu solche, die ihm richtig ans Leder wollten, geschweige denn für ein Gewaltverbrechen infrage kämen«, fuhr Romy fort. »Was haben Sie gegen ihn, zumal er Sie bei der Hotelsanierung so tatkräftig unterstützt hat?«
»Hat er das?«, rutschte es Posall heraus. Er biss sich auf die Unterlippe. Romy hatte ihn eindeutig auf dem falschen Fuß erwischt. »Ja, na klar hat er das, aber … Sehen Sie, Kai hat noch nie uneigennützig gehandelt. Ich habe hier nämlich nicht mehr viel zu sagen, auch wenn ich der Geschäftsführer bin.«
Romy nickte ihm aufmunternd zu. »Interessant. Fahren Sie fort.«
»Kai hat meinen Bruder mit einem kleinen Gesellschaftsanteil ausgestattet – damit ein bisschen was in meiner Familie bleibt, ich aber keinen unmittelbaren Einfluss habe – und mir einen Knebelvertrag verpasst, mit dem er mich ganz schnell abservieren kann, wenn er will«, erläuterte Posall, und sein Ton klang inzwischen deutlich weniger leutselig. »Und wie ich schon erwähnte: Er hatte gerne das Sagen. Sehr gerne. Insofern bin ich, ehrlich gesagt, durchaus ambivalent, was Richardts Geschäfte angeht, besonders natürlich in meinem Fall. Darüber hinaus …«
»Ja?«
»Man hatte es nicht leicht neben ihm. Er überstrahlte die meisten, sowohl als heller Kopf und vorausschauender Geschäftsmann wie auch als Frauentyp. Männer wie ich wurden neben ihm gar nicht wahrgenommen. Oder aber als Witzfiguren.« Er rieb sich mit Daumen und Zeigefinger die Nase.
Romy fand Posalls Darstellung erstaunlich ehrlich.
»Was passiert nun eigentlich mit dem Gesellschaftsanteil, den Richardts Firma hält?«, setzte die Kommissarin nach.
»Soweit ich informiert bin, bleibt alles, wie es ist – Richardts Firma wird vom zweiten Geschäftsführer weitergeführt …«
»Sie meinen Christoph Albrecht?«, fragte Schneider.
»Ja, genau. Der ist zwar noch sehr jung, aber ein guter Mann. Alles ist natürlich in Kais Sinne geregelt. Dementsprechend bleibt die Firma auch weiterhin als Gesellschafterin des Hotels tätig. Irgendwelche Erbstreitigkeiten, juristische Spitzfindigkeiten oder sonstigen Auseinandersetzungen, die die Unternehmen kaputt machen könnten, wird es nicht geben. So ist der Gesellschaftsvertrag ausgerichtet, vernünftigerweise, muss ich in dem Punkt anerkennend hinzufügen.«
Romy ließ die Informationen sacken. Bislang hatte sie nahezu ausschließlich Hinweise erhalten, die sie nicht erwartet hatte. Sie beugte sich über den Tisch vor. Posall hatte eine abwartende Miene aufgesetzt. Er schwitzte.
»Ich muss Sie routinemäßig nach Ihrem Alibi fragen. Wie haben Sie das Wochenende verbracht?«
»Am Samstag war ich von morgens bis abends im Hotel – es fand eine Tanzveranstaltung statt«, erwiderte Posall, ohne zu zögern. »Am Sonntag habe ich ausgeschlafen. Als Zeugin kann ich nur meine Frau anführen, die allerdings auch lange geschlafen hat. Mittags sind wir nach Stralsund gefahren, Freunde besuchen. Die Namen und Telefonnummern kann ich Ihnen aufschreiben.«
»Das wäre hilfreich.« Romy nickte. »Noch was, Herr Posall. Sagt Ihnen der Name Beate Lauber etwas?«
Sie streckte die Hand in Kaspers Richtung aus, der ein Foto der jungen Frau aus der Akte fischte: ein lachendes junges Gesicht, Stupsnase, zierliche Gestalt, mittellanges Haar. Romy legte es vor Posall auf den Tisch.
Der starrte es sekundenlang an und blickte dann hoch. »Ich weiß nicht … irgendwie … Lauber, sagten Sie?«
»Beate Lauber ist die Enkelin von Heinrich Lauber, und dem wiederum gehörte bis 1953 dieses Hotel. Klingelt es jetzt?«
Posall lehnte sich zurück und atmete angestrengt aus. »Ja, richtig, der Altbesitzer wollte es damals ja ursprünglich zurückhaben, aber ihm fehlte das Geld …«
»Ihnen nicht.«
»Nein, aber wie ich Ihnen gerade schilderte – ein Zuckerschlecken war das alles nicht und …« Er sah Romy verdattert an. »Was soll die alte Sache jetzt eigentlich?«
»Das erkläre ich Ihnen gern. Vergegenwärtigen Sie sich doch bitte mal den Sommer im Jahre 2000. Das Hotel gehörte inzwischen der GmbH, es war frisch saniert, erstrahlte in schönstem Bäderzauber, und die Gäste trafen wie erwartet zahlreich ein. Da taucht plötzlich eine junge Frau auf, um eine traurige Geschichte zu erzählen, in deren Mittelpunkt ihr Großvater steht. Vielleicht ist sie sogar giftig geworden, hat Ihnen Vorwürfe gemacht, was auch immer. Die junge Frau war Beate Lauber.«
Posall verschränkte die Arme vor der Brust. »Mag sein, und?«
»Kurze Zeit später verschwand Beate spurlos.«
»Das war vor fast elf Jahren: Na, das nenne ich ja mal eine zeitnahe Ermittlung!« Posall lachte dröhnend.
Schneider beugte sich abrupt vor und ließ seine Faust auf den Tisch krachen, so dass Hinz Posall heftig zusammenzuckte. Romy konnte sich gerade noch beherrschen, es ihm nicht gleichzutun.
»Glauben Sie mir, es ist wirklich nicht die Zeit für dumme Witze!«, donnerte Kasper mit tiefer Stimme. »War die Frau hier – ja oder nein?«
»Ja, sie war hier.«
»Was genau wollte sie?«, übernahm Romy nach einem anerkennenden Seitenblick auf den Kollegen wieder die Befragung. Für seine Verhältnisse war das ein regelrechter Temperamentsausbruch gewesen.
»Sie appellierte an unser Gewissen und wollte, dass wir ihren Großvater entschädigen«, antwortete Posall eilig.
»Wen genau meinen Sie mit ›wir‹?« Romy spürte, dass sich ihre Pulsfrequenz deutlich erhöht hatte.
Hinz Posall wischte sich eine einzelne Strähne verschwitzten Haars aus der Stirn. »Kai und ich saßen zusammen, um Geschäftliches zu besprechen. Da platzte sie herein und erzählte die Geschichte von ihrem Großvater.«
Aha, dachte Romy. »Und wie genau stellte sie sich eine Entschädigung vor?«
Der Hotelier rutschte auf seinem Sessel hin und her. »Der Mann war Mitte siebzig, glaube ich, und die Frau wollte, dass wir ihm einen kleinen Job anbieten, als Gärtner oder so, damit er seine magere Rente ein bisschen aufstocken konnte. Und noch mal was von seinem Hotel mitbekommt – so ähnlich drückte sie sich aus, wenn ich mich recht erinnere.«
»Und? Was hielten Sie von der Idee?«
»Na ja … Also, Kai hat sich das alles ganz ruhig angehört und meinte dann, dass wir keine Wohltätigkeitsveranstaltung oder einen sentimentalen Ossi-Begegnungs-Club planten, sondern einen betriebswirtschaftlich korrekt geführten und gewinnorientierten Laden aufziehen wollten«, berichtete Posall zögernd und warf Schneider schnell einen abwiegelnden Blick zu. »Ich gebe nur seine Worte wieder, Herr Kommissar.«
»Das dachte ich mir.«
»Daraufhin ist die Lauber ziemlich wütend geworden. Sie sei gut informiert, zudem Anwaltsgehilfin und kenne sich dementsprechend aus. Sie würde sich dafür stark machen, dass der Verkauf des Hotels nach der Wende trotz des vorliegenden Rückübertragungsanspruchs noch mal durchleuchtet würde – von wegen Korrektheit und so –, und die Presse wollte sie auch einschalten«, berichtete Posall weiter.
»Das konnte Ihnen nicht recht sein«, stellte Romy fest. »Mitten in den schönsten Neubeginn hinein platzt jemand, der in alten Geschichten herumwühlt und Sie unter Druck setzen wollte …«
»Die konnte uns gar nichts!«, wehrte Hinz Posall ab. »Der Lauber hatte damals das Geld nicht, und …«
»Ja, ja, aber selbst wenn er es gehabt hätte – die alten Seilschaften hätten so oder so gut funktioniert, stimmt’s?«, ergriff Schneider wieder das Wort. »Ich bin mir sicher, dass Dreyer …«
»Der Alte wäre doch sowieso pleitegegangen!«, begehrte Posall auf. »Ich bin es doch auch!«
»Das ist natürlich ein überzeugendes Argument: Wenn schon ein Wessi mit seinem Kapital und seiner Erfahrung nicht klarkommt und Hilfe und Geldgeber braucht, dann kann der alte Mann doch richtig froh sein, dass er nicht zu seinem Recht gekommen ist, oder?«, blaffte Romy ihn an.
Sie konnte sich gerade noch beherrschen, ihm keinen Vogel zu zeigen, aber ihre Stimme hatte deutlich an Lautstärke gewonnen.
»Lauber muss Ihnen ja regelrecht dankbar sein, dass Sie ihm das Hotel vor der Nase weggeschnappt haben – sein Hotel! Soll ich ihm Bescheid sagen, dass er dran denkt, Ihnen bei Gelegenheit Blumen zu schicken – was halten Sie von einem üppigen Strauß Rosen?«, schob sie hinterher, ohne darauf zu hoffen, dass der Mann den Hinweis zuordnen konnte.
Posall kniff die Lippen zusammen.
»Also, dann mal der Reihe nach: Sie haben es abgelehnt, auf Beates Forderungen einzugehen? Ich nehme an, dass Sie sie achtkantig hinausgeworfen haben.«
»So in etwa, ja.«
»Sie wollte noch mit Bittner reden. Sie hatte offensichtlich Einsicht ins Handelsregister genommen und wusste, wer die Gesellschafter waren. Kai war ziemlich empört.«
»Sie nicht?«
»Doch, aber anders.«
»Wie dürfen wir das verstehen?«, wollte Romy wissen.
»Ich war verunsichert und unruhig. Und auf herumschnüffelnde Journalisten hatte ich überhaupt keine Lust, während Kai fest davon überzeugt war, dass die Verträge wasserdicht waren und kein Mensch sich für das Schicksal des alten Lauber interessieren würde«, entgegnete Posall. »Niemand interessierte sich nach all den Jahren für derartige Schicksale. Glücklicherweise, denn diese rückwärtsgewandte SED-Bewältigungsscheiße, wie Kai das nannte, behinderte seiner Ansicht nach nur das Vorankommen. Aber die Chuzpe der Frau ging ihm gewaltig gegen den Strich.«
Leider können wir Richardt nicht mehr fragen, wie sehr ihn Beate Laubers Verhalten aufgebracht hat, überlegte Romy, während sie an das Telefonat mit Ricarda zurückdachte. Kai Richardt gewann zunehmend Konturen, unangenehme Konturen. Dass es auch um die Aufklärung seines gewaltsamen Todes ging, hatte sie für einen Moment aus den Augen verloren.
Sie suchte Posalls Blick. »Geht das genauer? Hat er irgendwas gesagt, was eindeutige Schlussfolgerungen zuließe? Ich denke da zum Beispiel an rustikale Sprüche wie ›Die knöpf ich mir noch mal vor‹ oder Ähnliches in der Preisklasse. Ich denke, Sie ahnen, was ich meine.«
Posall schüttelte den Kopf. »Nein, daran erinnere ich mich nicht, aber, nun … Ja, er war schon ziemlich stinkig.«
»Wie ging es weiter? War Beate Lauber auch bei Bittner?«
Hinz Posall nickte sofort. »Ja, aber den hatten wir natürlich vorgewarnt, und er hat sie gar nicht erst reingelassen. Und wenig später war Ruhe. Wir haben nichts mehr von ihr gehört.«
Romy verschränkte die Arme vor der Brust und schüttelte den Kopf. »Haben Sie sich nicht darüber gewundert? Ich meine, nachdem die Frau so einen Alarm veranstaltet und sich sogar die Mühe gemacht hat, den Einzelheiten der Hotelsanierung auf den Grund zu gehen, hören Sie plötzlich gar nichts mehr von ihr. Hat Ihnen das nicht zu denken gegeben?«
»Ja, Sie haben recht, irgendwie schon … Aber hauptsächlich war ich erleichtert.«
»Und Kai? Hat er sich noch mal zu ihr geäußert?«
»Er hat gelacht – nichts als heiße Luft, meinte er. Und ist wieder zur Tagesordnung übergegangen. So war er eben.« Posall schüttelte den Kopf. »Und nun verraten Sie mir doch bitte mal, was das Ganze plötzlich soll.«
Romy warf Schneider einen Seitenblick zu und stand dann so abrupt auf, dass Posall zusammenschrak.
»Im Moment können wir Ihnen dazu keine Einzelheiten mitteilen. Tut uns leid.« Oder auch nicht, fügte sie in Gedanken hinzu. »Aber Sie hören bestimmt wieder von uns.«
Hinz Posall wirkte nicht gerade begeistert über diese Aussicht. Er erhob sich ebenfalls.
»Schreiben Sie uns bitte noch die Namen Ihrer Freunde in Stralsund auf?«, fragte Romy abschließend.
Der Hotelier eilte hinter den Schreibtisch und kritzelte einige Zeilen, bevor er die Kommissare zur Tür begleitete. Er war heilfroh, sie los zu sein.
Zwei Minuten später traten die beiden ins Freie.
»Sassnitz?«, fragte Kasper. »Würde mich sehr interessieren, was der Bittner zu der Geschichte sagt.«
»Unbedingt«, stimmte Romy zu. »Aber ich denke, wir sollten uns teilen. Fährst du schon mal nach Bergen und sondierst dort die Lage?«
Schneider hob nur die Hand und stieg wortlos in den Wagen.
Er ist restlos bedient, dachte Romy, während sie ihm einen Augenblick nachsah. Muss damals eine heiße Zeit gewesen sein. Nachbeben der ›Aktion Rose‹ nach fast sechzig Jahren. Unglaublich, aber wahr.
Bittner sah sich das Foto sehr lange an, nachdem er seinen Unmut über den neuerlichen Polizeibesuch mühsam heruntergeschluckt hatte. Falls das überhaupt möglich war, sah der Mann noch erschöpfter und deprimierter aus als am Sonntag.
»Damit kann ich nichts anfangen«, sagte er schließlich und hob den Kopf. »Wer ist das? Und warum …?«
»Beate Lauber, die Enkelin von Heinrich Lauber.«
Thomas Bittner stutzte. »Die Namen habe ich schon mal gehört.«
Romy ging stark davon aus, dass Posall Bittner angerufen und vorgewarnt hatte, kaum dass sie und Kasper aus der Tür waren, ging aber nicht darauf ein.
»Das glaube ich Ihnen gerne«, entgegnete sie. »Die Frau hat sich für ihren Großvater stark gemacht, nachdem sie in Erfahrung gebracht hatte, dass sein altes Hotel inzwischen von einer GmbH übernommen worden war, und hakte bezüglich des Verkaufs nach der Wende ein wenig nach. Da sie Anwaltsgehilfin war, kannte sie sich ganz gut mit Unternehmensgründungen, Gesellschafterverträgen und auch mit Rückübertragungsansprüchen aus.«
Bittner nickte langsam. »Ja, ich erinnere mich. Die ist bei Hinz aufgelaufen, Kai war auch da. Sie wollte, dass wir dem Lauber irgendwie entgegenkommen, nachdem der mit seinem Hotel so viel Pech gehabt hatte.«
»Ja, so kann man es auch ausdrücken.«
Bittner hob die Augenbrauen. »Ach, wissen Sie – als wir die GmbH gegründet haben, lag die Wende doch auch schon wieder gut zehn Jahre zurück, und schließlich konnten wir doch nichts dafür, dass …«
»Beate Lauber war 1990 erst achtzehn Jahre alt«, fiel Romy ihm ins Wort. »Es ist anzunehmen, dass sie erst später – nämlich als das Hotel in neuem Glanz erstrahlte – und auch vor dem Hintergrund ihres Berufs aufmerksam wurde und sich mit dem Schicksal ihrer Familie vertraut gemacht hat. Doch lassen wir diese Zusammenhänge im Augenblick mal beiseite. Was mich interessiert, ist, wie Kai Richardt auf die Frau reagiert hat und ob es möglich ist, dass die beiden sich noch mal begegnet sind.«
»Das kann ich nicht sagen«, gab Bittner nachdenklich zurück. »Er war ohne Frage entrüstet, dass die Lauber sich einfach in unsere Geschäfte mischte und eine ziemlich große Lippe riskierte – das steht mal fest. Aber …«
»Sagen Sie mal, kann es sein, dass Ihr Freund gar nicht auf Frauen stand, die es wagten, ihm selbstbewusst entgegenzutreten?«, unterbrach Romy ihn.
Thomas Bittner schüttelte den Kopf. »Meine Güte – was wollen Sie eigentlich? Was haben denn diese alten Geschichten mit Kais Tod zu tun? Das ist doch eine Ewigkeit her!«
»Es wird sich zeigen, ob …«
Romys Handy signalisierte mit leisem Vogelzwitscher-Ton einen Anruf von Fine. »Entschuldigen Sie bitte«, sagte sie an Bittner gewandt und nahm das Gespräch entgegen. »Ja? Neuigkeiten?«
»Und ob«, dröhnte Fines Stimme in Romys Ohr. »Kommt ihr bald rein, oder …?«
»Ich bin gerade bei Bittner am Sassnitzer Hafen, aber Kasper läuft gleich bei euch auf.«
»Gut, also: Das Ergebnis des Zahnschema-Vergleichs liegt bereits vor. Der Zahnarzt war nicht nur kooperativ, sondern auch noch schnell. Mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit handelt es sich bei dem Skelett um Beate Lauber.«
»Oh.«
»Doktor Möller schätzt außerdem nach weiteren Untersuchungen, dass die Frau keines natürlichen Todes gestorben ist«, berichtete Fine weiter. »Es gibt Verformungen am Schädel, die sehr wahrscheinlich von Gewalteinwirkungen herrühren – sehr wahrscheinlich sollen wir jedoch nicht mit absoluter Sicherheit verwechseln.«
»Verstehe«, murmelte Romy.
Sie war selbstverständlich nicht einen Augenblick davon ausgegangen, dass die Tote auf natürliche Weise ums Leben gekommen war, doch die konkrete Bestätigung durch die Rechtsmedizin war etwas anderes als ihre dumpfe Überzeugung. Bittners Augen huschten über ihr Gesicht.
»Dann habe ich mit dem Filialleiter der Bank gesprochen. Die halten sich vornehm zurück, wie ich schon befürchtet habe«, fuhr Fine fort. »Richardt sei ein sehr guter Kunde gewesen, mit dem es nie Probleme gegeben habe. Nun gut … Ach ja, die Liste mit den Telefonverbindungen ist gekommen. Soll ich gemeinsam mit Max gleich mal einen Blick drauf werfen?«
»Unbedingt. Den Rest klärt Kasper gleich mit euch. Ich komme demnächst. Und noch was: Sag bitte den Sassnitzer Kollegen Bescheid. Ich brauche zwei Leute und einen Wagen.«
»Sofort?«
»Ja.«
»Okay.«
Romy beendete das Gespräch, schwieg einen Moment und sah dabei den Fabrikbesitzer forschend an.
»Bei dem Skelett, das wir in dem Keller gefunden haben, handelt es sich um Beate Lauber, die im Spätsommer 2000 spurlos verschwand, nachdem sie einige Wochen zuvor von ihrem Rügenurlaub zurückgekehrt war«, sagte sie leise. »Es spricht sehr viel dafür, dass sie ermordet wurde. Was sagen Sie dazu?«
Bittner öffnete den Mund und schloss ihn wieder.
»Geben Sie es zu – das kann kein Zufall sein, oder? Kai Richardt wird in dem alten Gebäude hinter Ihrer Fabrik gefangen gehalten und erschlagen. Und Beate Lauber, die ihm und Ihnen elf Jahre zuvor mächtig auf die Füße getreten ist, finden wir in einem Keller nur einige Meter von ihm entfernt.«
Romy machte eine Kunstpause. Aber Bittner sagte immer noch nichts.
»Ich denke, Sie werden verstehen, dass wir relativ zügig Ihre Fingerabdrücke brauchen und ein ausführliches Protokoll anfertigen müssen«, fuhr sie fort. »Im Kommissariat in Bergen.«
Bittner löste sich mit einem Ruck aus seiner Erstarrung. »Sie verdächtigen mich?«
»Sagen wir mal so – der eine oder andere Anfangsverdacht macht sich durchaus in mir breit. Immerhin haben Sie kein gutes Alibi, was den Sonntagmorgen betrifft, als Ihr Freund erschlagen wurde«, erläuterte Romy. »Sie haben Kai als Letzter lebend gesehen, Sie kannten auch Beate Lauber und waren ihr alles andere als wohlgesinnt – aus den gerade erörterten Gründen. Wir wissen sogar, dass sie zu Ihnen wollte. Und, ganz wichtig: Beide Leichen wurden auf Ihrem alten Fabrikgelände entsorgt – in einem Gebäude, für das sich kein Mensch interessiert. Kein schlechtes Versteck, das müssen Sie zugeben.«
Bittner sah aus, als würde er jeden Augenblick umkippen. »Das ist nicht Ihr Ernst«, flüsterte er. »Ich bringe doch meinen Freund nicht um und lasse ihn da unten liegen … Warum?«
»Tja, in diesem Punkt stimme ich Ihnen zu – über Ihr Motiv, was Richardt angeht, bin ich mir tatsächlich nicht im Klaren«, gab Romy zu. »Noch nicht. Aber wer weiß, welche alten Geschichten dahinterstecken. Vielleicht waren Sie gar nicht so dick befreundet, wie es uns anfangs schien oder Sie uns weismachen wollen. Vielleicht gab es Streit, warum auch immer.« Sie hob die Hände und ließ sie wieder sinken.
Bittner schüttelte den Kopf. »Sie täuschen sich. Ich bin doch kein Mörder und lasse zwei Leichen auf meinem Gelände verrotten!«, wiederholte er hektisch atmend. »Und die Lauber habe ich gar nicht empfangen! Die hat mehrfach angerufen und sogar vor meiner Tür gestanden, aber Kai meinte, ich solle die gar nicht reinlassen, und daran habe ich mich gehalten. Er hat geschäumt vor Wut, das kann ich Ihnen sagen …«
»Er hat häufiger mal geschäumt vor Wut, nicht wahr?«, unterbrach Romy ihn. »Insbesondere wenn es um Frauen ging. Wie lief das eigentlich in seiner ersten Ehe mit Ricarda?«
Bittner wischte sich über den Mund. »Sie hielt nicht lange. Mehr weiß ich nicht.«
»Das glaube ich Ihnen nicht.«
»Dann eben nicht.«
Es klopfte, und ein uniformierter Polizist trat ein.
»Bitte begleiten Sie Herrn Bittner ins Kommissariat nach Bergen, Kollege«, sagte Romy leise.
Sie war davon überzeugt, dass Bittner nichts mit den Morden zu tun hatte. Aber er wusste mehr, als er bislang zugegeben hatte. Auch davon war sie überzeugt.
Romy fuhr nach kurzer Rücksprache mit Kasper, den sie bat, das Protokoll mit Bittner zu übernehmen, nicht direkt nach Bergen zurück, sondern gönnte sich einen Zwischenstopp am unbebauten Hanggelände der Strandpromenade von Sassnitz.
Dort war es vor einigen Monaten zu einem Erdrutsch am Hochufer gekommen – kein schwerwiegender Steilküstenabbruch, aber immerhin war so viel in Bewegung geraten, dass die Polizei die Absturzstelle gesperrt und sogar mit Hunden nach Verschütteten gesucht hatte. Glücklicherweise war niemand zu Schaden gekommen.
Die Rügener Kreide hat es in sich, dachte Romy und erinnerte sich, dass Moritz mal anschaulich erzählt hatte, wie sich die Kreide mit Wasser vollsog, das sich im Winter im gefrorenen Zustand ausbreitete und dadurch so viel Druck erzeugte, dass die Steine aneinanderrieben, bröckelten, zersprangen, um irgendwann schließlich ins Meer hinabzustürzen.
»Die Steilküsten sind in ständigem Aufruhr«, hatte er hinzugefügt und leise gelächelt. »So wie du.«
Romy starrte aufs Meer hinaus, bis ihr Gesicht im kalten Wind wie eingefroren war und das Bild der aufgewühlten See für Ruhe in ihrem Inneren gesorgt hatte.