5

Hinz Posall ließ sich aus der Küche einen »Rügener Badejungen« auf backfrischem Weißbrot bringen. Er liebte den Inselcamembert und aß ihn am liebsten in der sahnigen Variante, dazu ein Glas Rotwein, und der Gaumenschmaus war perfekt.

Das anstrengende Gespräch mit den Kommissaren hatte ihm den Appetit nicht verdorben, allerdings konnte Posall sich kaum eine Situation ausmalen, die ihm länger als eine halbe Stunde auf den Magen schlagen würde. Im Übrigen konnte er viel besser nachdenken, wenn seine Kauwerkzeuge genussvoll beschäftigt waren.

Nein, er trauerte nicht um Kai – das wäre eine scheinheilige Behauptung. Allenfalls erschreckte es Posall, dass der Mann unter gewaltsamen Umständen sein Leben verloren hatte. Doch vermissen würde er Richardt ganz bestimmt nicht, und ungläubiges Entsetzen über das Geschehen hatte ihn auch nicht ergriffen, denn im Gegensatz zu den meisten anderen, die mit ihm zu tun gehabt hatten, hielt Hinz es nicht für ausgeschlossen, dass Kai sich Feinde gemacht hatte. Oder auch nur einen Feind. Einen Todfeind. Das genügte ja.

Richardt war ein glänzender Geschäftsmann gewesen, daran gab es nicht den geringsten Zweifel. Er hatte Posall schon als junger Mann mit seinem scharfen Verstand, seinem zielgerichteten Arbeitseifer und seiner Geschicklichkeit im Umgang mit Menschen imponiert. Später war ihm klargeworden, dass Richardt ein manipulativer und herrischer Typ war, der keine Unachtsamkeit, keinen noch so kleinen Fehler durchgehen ließ und der es nicht ertrug, wenn man ihm die Fäden aus der Hand nahm oder dies auch nur beabsichtigte. Wer seine Autorität infrage stellte, musste sich warm anziehen – sowohl im Geschäfts- als auch im Privatleben.

Ganz der Sohn seiner Mutter, dachte Hinz, während er sich ein großes Stück Brot in den Mund schob und mit Wein nachspülte. Anna Richardt hatte in der Familie und im Hotel die Hosen angehabt – immer. Ihren Mann Martin, Kais Vater, hatte er als kuschenden Jammerlappen in Erinnerung, obwohl er durchaus etwas von seinem Fach verstand, und selbst Kai hatte erst spät gewagt, gegen die Alte aufzubegehren und seinen eigenen Weg zu gehen.

Hinz schüttelte den Kopf. Was für eine widerliche, kaltherzige Hexe, dachte er. Im Gegensatz zu Kai war sie keine gute Schauspielerin gewesen – ihr hatte man meist sehr genau angesehen, wenn ihr etwas gegen den Strich gegangen war. Dann hatten ihre Lippen nur noch eine schmale, leicht gekrümmte Linie gebildet, und in ihren Augen war eine stille, machtvolle Wut gewesen, die nur darauf gewartet hatte, sich zu entladen. Posall war davon überzeugt, dass sie mit genau diesem Ausdruck auf dem Gesicht sterben würde.

Was für ein seltsamer Gedanke! Er schüttelte den Kopf. Erst jetzt fiel ihm auf, dass er Angst vor ihr gehabt hatte und ihretwegen seiner Zeit im Hotel in Lübeck keine Träne nachweinte. Nein, erst jetzt konnte er es sich eingestehen.

Kai hätte es niemals zugegeben und eine diesbezügliche Frage empört abgewiesen, aber Hinz hielt es durchaus für denkbar, dass auch er seine Mutter gefürchtet und darum unter ihrer Fuchtel gelernt hatte, sein wahres Gesicht und seine wahren Gefühle immer perfekter hinter einer Maske aus freundlicher Verbindlichkeit und charmanter Zugewandtheit zu verbergen. Zunächst lediglich, um sie zu täuschen. Später dürfte er festgestellt haben, wie nützlich dieses Talent war, und hatte es stetig ausgebaut – im Geschäftsleben, bei Frauen, im Freundeskreis. Kaum jemand wusste, was Kai wirklich dachte – gedacht hatte –, welche seiner Kunden er geradezu verachtet, wen er gerne gehabt hatte und zu schätzen wusste und wen er nicht ausstehen konnte.

Hinz gegenüber hatte er sich manchmal erlaubt, die Maske ein Stück zu lüften und seine Regungen sichtbar werden zu lassen. Posall verzog das Gesicht. Es war nicht nötig, mir irgendetwas vorzuspielen, dachte er. Ich bin ein jämmerlicher Versager und wäre ohne Kai grandios gescheitert. Ohne sein Geld und seine vorausschauende Klugheit wäre ich aufgeschmissen gewesen, während Kai stets durchs Leben marschiert war, als könnte ihm niemals etwas misslingen. Bis auf eine klitzekleine Ausnahme – vor vielen Jahren, noch in Lübeck, hat er mal mein Wort gebraucht. Es war auch um eine Frau gegangen, aber das lag ewig und drei Tage zurück.

Als die Lauber im Hotel aufgetaucht war und ihren unverschämten Auftritt hingelegt hatte, war Kai für Momente wie gelähmt gewesen. Dann hatte er Hinz den Kopf zugewandt, und in seinen Augen waren für Sekundenbruchteile unbändige Wut und Hass aufgeflackert, bis er sich wieder in der Gewalt gehabt hatte. Sollte die Frau ihm tatsächlich noch mal über den Weg gelaufen sein, würde Posall seine Hand nicht dafür ins Feuer legen, dass Kai höflich geblieben war. Nein, gewiss nicht. Er hätte ganz sicher große Lust gehabt, ihr einen Denkzettel zu verpassen, zumal der Hotelverkauf tatsächlich nicht sauber abgewickelt worden war.

Jürgen Dreyer und Kai hatten seinerzeit mit den üblichen Methoden und in bekannter Manier nachgeholfen, dass Lauber nicht als kreditwürdig eingestuft wurde. Man musste nur an den richtigen Schrauben zu drehen wissen. Bei der Treuhand, bei der Bank, alte und neue Seilschaften … Das war in der Tat lange her, längst nicht mehr nachweisbar und hätte aller Wahrscheinlichkeit nach niemanden wirklich gekümmert, aber darum war es ja auch gar nicht gegangen. Die Frau hatte Kai provoziert und ihn vorgeführt, noch dazu vor ihm: Hinz. Unverzeihlich.

Posall hielt es auch nach genauerem Überlegen für eine gute Entscheidung, der Polizei keine Gefühle vorgespielt zu haben, die er nicht empfand. Die dunklen Augen dieser südländischen Kommissarin waren immer wieder über sein Gesicht gehuscht. Das hatte ihn verunsichert. Sie war sehr engagiert gewesen und hatte nur darauf gewartet, ihm eine Lücke in seiner Argumentation nachweisen zu können. Den trauernden und verzweifelten Freund hätte sie ihm ohnehin nicht abgenommen. Manchmal war es sinnvoll und einfach zugleich, bei der Wahrheit zu bleiben – oder zumindest in ihrer Nähe.

Kai hätte ihn wahrscheinlich ausgelacht, sich von einer jungen Frau – Polizistin oder nicht Polizistin – unter Druck setzen zu lassen. Posall ballte eine Hand zur Faust. Aber Kai hatte nichts mehr zu lachen, und wenn er Bittner richtig verstanden hatte, war Richardts Ende alles andere als lustig gewesen. Posalls Mitgefühl hielt sich in erstaunlich engen Grenzen.

 

Kasper stellte ein Glas Wasser vor Bittner auf den Tisch und setzte sich ihm gegenüber. »Meine Kollegin ist auf dem Weg. Wir fangen einfach schon mal an.«

Er startete das Aufnahmegerät und gab den üblichen Standardtext ein, bevor er den Fabrikbesitzer bat, fürs Protokoll noch einmal zu erzählen, was am Samstagmorgen passiert war.

Thomas Bittner hatte sich offensichtlich wieder gefangen. Zumindest wirkte er zunächst so. Kasper hatte nach Romys Anruf einen aufgewühlten, unter Umständen sogar zutiefst empörten Mann erwartet, doch Bittner berichtete sachlich, was vorgefallen war, und schilderte erneut seine langjährige Freundschaft und Geschäftspartnerschaft mit Kai Richardt. Auch die Fragen des Kommissars zur Nutzung der alten Gebäude hinter der neuen Fischfabrik beantwortete er bemerkenswert geduldig. Obwohl er sich zu den meisten Aspekten schon mehrfach geäußert hatte, gab er sich Mühe, nicht in einen leiernden Ton zu verfallen.

»So, mehr habe ich nicht zu sagen«, erklärte er abschließend. »Und falls Sie mich ernsthaft verdächtigen, mit Kais und Beate Laubers Tod irgendetwas zu tun zu haben, möchte ich meinen Anwalt sprechen. Und zwar sofort.« Der barsche Nachsatz wirkte deplatziert.

Kasper hob eine Augenbraue. »Nun mal halblang …«

»Ihre Kollegin hat das jedenfalls so formuliert«, unterbrach Bittner ihn. »Und ich kenne meine Rechte.«

»Zwei Leichen hinter Ihrer Fabrik …«

»Ich bin damals gar nicht mit Frau Lauber zusammengetroffen. Die kann sonst wer da unten abgelegt haben. Das wissen Sie ganz genau.«

Kasper seufzte. »Sie müssen doch zugeben, dass Ihnen Beate Laubers damaliges Verschwinden sehr gelegen kam.«

Bittner beugte sich ruckartig vor. »Quatsch! Die Frau war mir völlig egal. Das können Sie mir glauben!«

Schneider sah ihn abwartend an. »Warum eigentlich?«

»Was meinen Sie?«

»Nun, Sie wirken gar nicht so herzlos auf mich. Ist Ihnen das Schicksal der Laubers tatsächlich so gleichgültig gewesen – mal ganz davon abgesehen, wie das Ganze nach all den Jahren nun juristisch zu bewerten war?«

Bittner richtete sich wieder gerade auf.

»Nun?«

»Was soll ich sagen? Sie wirkte ziemlich hysterisch auf mich – nach dem, was Kai und Hinz mir erzählt hatten und auch bezogen auf die Art und Weise, wie sie mit mir in Kontakt zu treten versuchte.« Er schüttelte den Kopf. »Steht einfach bei mir vor der Tür und will ein Riesenfass aufmachen – unmöglich so was!«

»Sie hatten Geld in das Hotel-Geschäft gesteckt, plötzlich tauchte die Frau auf …«

»Na und? Eigentlich war das doch alles gar nicht mein Problem«, unterbrach Bittner den Kommissar wütend. »Wissen Sie, Hinz Posall hat den Karren in den Dreck gefahren, andere konnten ihn wieder rausziehen. Auf Rügen unmittelbar an einem der schönsten Strände der Insel mit einem Hotel kein gutes Geschäft zu machen – auch wenn zugegebenermaßen großer Investitionsbedarf bestand –, ist schon ein starkes Stück. Das hätte ich ja besser gemacht, und ich verstehe nichts von der Branche.«

»Posall sprach von einer lauen Anfangszeit und einem maroden Haus …«

»Mein Gott, er hat es verbockt! Er hatte zu viele Privatentnahmen, mit denen er es sich gutgehen ließ – so einfach war das, und auf die Art und Weise entsteht ganz schnell ein ziemlich großes Loch in der Kasse.«

»Und Kai Richardt hat ihm aus der Patsche geholfen?«

»Kai hat den Laden auf eine betriebswirtschaftlich vernünftige Basis gestellt und mit einem Geschäftsführervertrag, in dem Posalls Kompetenzen und vor allen Dingen Grenzen klar geregelt sind, dafür gesorgt, dass er nicht mehr allzu viel kaputt machen kann«, entgegnete Bittner.

»Interessant«, kommentierte Kasper. »Und das hat Richardt aus reiner Nächstenliebe getan – im Gedenken an alte Lübecker Zeiten, oder wie darf ich das verstehen?«

»Natürlich nicht. Dabei ging es um eine Menge Geld – nebenbei gesagt: Ich habe da auch investiert, wie Sie ja wissen. Und natürlich hat Kai wie immer auch die eigene Rendite im Auge gehabt – sonst wäre er nicht da, wo er heute …« Bittner brach ab.

Kasper verzog den Mund.

»Sie wissen schon, wie ich das meine.«

»Tue ich das?« Kasper gönnte sich die Andeutung eines ironischen Lächelns.

Im gleichen Moment klopfte es. Romy trat ein und setzte sich nach beiläufigem Gruß neben den Kollegen. Kasper erschrak, als er sie ansah.

Ihr Gesicht war verdüstert – unruhige Augen, bleiche Lippen, abwesender Blick. So sah sie manchmal aus, wenn ihr die Gefühle aus dem Ruder liefen. Ihr Moritz war schwer in Ordnung gewesen – das hatte ein Kollege aus Schwerin erzählt. Und die beiden waren ein schönes Paar gewesen. Man hatte gespürt, dass sie sich viel zu sagen hatten, der Rostocker und die Italienerin – so hatte man sie genannt.

Ob Romy wohl auch nur ahnte, wie sehr man ihr den Kummer vom Gesicht ablesen konnte? Und das Bemühen, ihn in Schach zu halten. Als stünde sie ihm im Ring gegenüber, schwer atmend und mit weichen Knien; er führte nach Punkten, und sie hatte Angst, angezählt zu werden.

Aber es war nicht Kaspers Aufgabe, ihr das zu sagen, und noch weniger seine Art. Er machte nicht gern viele Worte. Jeder hat sein Päcklein zu tragen, und jeder macht es auf seine Weise. Da hatte niemand was reinzureden.

Vielleicht guck ich ja manchmal genauso aus der Wäsche, fuhr es ihm durch den Kopf, während Romy ihren Stuhl zurechtrückte, und bilde mir nur ein, dass ich gelernt habe, meinen Schmerz in Linien und Falten zu verstecken. Hinter Müdigkeit und einer gewissen Abgeklärtheit, die kaum jemand zu hinterfragen wagte, die aber nur zur einen Hälfte aus Altersweisheit bestand und zur anderen, ja: Lüge war.

So ähnlich wie Fine meinte, dass niemand auf die Idee kam, ihre Polterei und emsige Fröhlichkeit auch als Schutzschild zu verstehen. Niemand außer Kasper und einigen anderen, die sie schon lange kannten. Je lauter Fine wurde, desto mehr zitterte sie tief in ihrem Innersten um ihren saufenden Bruder. Und je hektischer sie den Tag begann, umso mehr fürchtete sie, dass ihr Mann längst entdeckt hatte, dass sie sich doch wieder um den Bruder kümmerte. Einen Säufer muss man fallen lassen, sonst lernt er nie, allein aufzustehen und sein Leben zu meistern. Fine hielt nicht viel vom Credo ihres Mannes. Und sein Gebot missachtete sie, seit er gemeint hatte, es aufstellen zu müssen.

Kasper wischte die schweren Gedanken beiseite und nickte Romy zu, die ihr Notizheft auf den Tisch legte und einen Moment konzentriert darin blätterte, bevor sie hochsah und Bittner nachdenklich betrachtete. Das war eine von Romys Stärken: sich innerhalb eines Augenblicks auf ihre Aufgabe besinnen zu können, neben der nichts anderes mehr Platz hatte. Schon gar kein Kummer.

 

Die Kommissarin spürte seine Ablehnung wie feine Nadelstiche. Er hat die Nase voll von mir, dachte sie.

»Herr Bittner, auch wenn wir Gefahr laufen, uns zu wiederholen – lassen Sie mich vorab einige Tatsachen auflisten«, hob sie schließlich an. »Ende 1999 gründeten Sie gemeinsam mit Kai Richardt und Posalls Bruder eine GmbH, um Hinz Posalls Hotel zu sanieren, Anfang 2000 startete das Projekt so richtig durch.«

»In der Tat, Frau Kommissarin, Sie wiederholen sich.«

»Seinerzeit war Richardts Ehe am Ende. Ricarda verließ ihren Mann«, fuhr Romy ungerührt fort. »Wie Sie meinem Kollegen erläuterten, begann Kai voller Elan mit dem Ausbau Ihrer gemeinsamen Werkstatt, um sich von diesem persönlichen Tiefschlag abzulenken. Könnte man das so formulieren?«

Bittner runzelte die Stirn. »Ja, irgendwie schon. Ich hatte zumindest den Eindruck, dass es so war. Die Arbeit tat ihm gut.«

»Hatte der Mann nicht genug Arbeit? Die Firma, für die er ständig unterwegs war, das Hotelprojekt, sein Training, und Familienvater war er auch noch.«

»Kai hat schon immer für drei gearbeitet. Der war ungewöhnlich aktiv, nicht mit normalen Maßstäben zu messen«, entgegnete Bittner. »Als Unternehmer ist man ohnehin immer im Einsatz.« In seinem Mundwinkel zuckte es.

Jede Wette, dass er Beamte für faules Pack hält und Nicht-Unternehmer für schlicht bescheuert, sich etwas Eigenes aufzubauen, dachte Romy. »Na schön, Sie haben ihm beim Ausbau freie Hand gelassen und sich nicht darum gekümmert. Liege ich mit dieser Feststellung richtig?«

»Ja, liegen Sie«, stimmte Bittner zu. »Ich bin außerdem im Gegensatz zu Kai handwerklich weder besonders geschickt, noch hat es mich je interessiert, daran etwas zu ändern. Und?«

»Sie haben nicht bemerkt, dass Kai im Keller des Gebäudes zusätzlich einen weiteren Raum benutzt hat und dorthin sogar ein Stromkabel verlegt hat?«

Bittner drehte die Augen zur Decke. »Er hätte auch alle anderen Keller benutzen können, ohne mich jedes Mal fragen zu müssen. Das war mir schnurzegal. Worauf wollen Sie eigentlich hinaus?« Er gab sich keinerlei Mühe, seine Genervtheit zu verbergen.

Romy lehnte sich zurück. »Das dürfte Ihnen wohl allmählich klar sein. Im Spätsommer verschwindet Beate Lauber und taucht jetzt wieder auf: als Leiche unter der Werkstatt in einem der Kellerräume, in denen Kai sich jahrelang wie zu Hause fühlen durfte und ebenfalls einen überaus unerfreulichen, nämlich gewaltsamen Tod starb. Darauf will ich hinaus, und wenn Sie sich mal für einen Augenblick in die Lage der Polizei versetzen, können Sie das bestimmt gut nachvollziehen.« Ihre Stimme war eine Oktave höher geklettert.

Bittner sah sie mit undurchdringlicher Miene an. »Ich habe keine Ahnung, wie die Leiche da hinkommt. Das habe ich schon mehrfach betont. Das Gelände war nicht gesichert. Da kommt jeder drauf – ohne besonders aufzufallen. Und ich sage Ihnen erneut: Ich bin der Lauber nie persönlich begegnet. Ich habe auch nichts bemerkt, was auf ein Verbrechen hindeuten könnte, und ich lass mir aus der alten Geschichte keinen Strick drehen.«

»Gott bewahre, natürlich nicht«, gab Romy süffisant zurück. »Sie haben offenbar so einiges nicht mitgekriegt, unter anderem, dass Ihr hochgeschätzter Freund, Geschäftspartner, Laufkollege, den Sie seit der Wende kannten, seine erste Frau Ricarda geschlagen hat. Das war der Grund für die Trennung der beiden, die von ihr ausging. Kai musste verkraften, dass seine Frau eine eigenständige Entscheidung gegen seinen Willen traf. Nicht einfach für einen Macher-Typen wie ihn, nicht wahr?«

Bittner war zusammengezuckt und atmete scharf ein. Sein Adamsapfel geriet mal wieder in Bewegung.

»Und kurze Zeit später steht Beate Lauber vor ihm und macht ihm klar, dass sie sich nicht für dumm verkaufen lässt«, fuhr Romy fort. »Schon wieder so eine aufmüpfige Frau, die ihren ganz eigenen Willen hatte und auch durchsetzen wollte. Die sich von einem Kai Richardt nicht einschüchtern lassen wollte, was den unbestreitbar auf die Palme gebracht hat. Lassen Sie uns den Faden doch mal weiterspinnen.« Sie beugte sich vor und sah ihn auffordernd an.

»Wollen Sie etwa zum Ausdruck bringen, dass Kai die Frau getötet hat?«, fragte Bittner, und auf seinem Gesicht spiegelte sich neben Ungläubigkeit tiefe Bestürzung.

»Das ist eine vorstellbare Variante, die ich für ziemlich schlüssig halte. Eine andere lautet, dass Sie gemeinsam für Beates Tod verantwortlich sind«, erwiderte Romy.

»Was …«

»Vielleicht gab es nach all den Jahren aus welchem Anlass auch immer plötzlich Streit wegen der alten Geschichte, der am Samstagmorgen so richtig ausbrach. Es fielen böse Worte, Vorwürfe wurden laut, unter Umständen sogar Drohungen. Kai ging, Sie sind ihm kurz darauf gefolgt …«

Bittner schlug mit der Faust auf den Tisch. »Jetzt reicht es aber! Ich will meinen Anwalt sprechen. Sofort!«

Kasper hob die Hand. »Nun schreien Sie hier mal nicht so rum. Wir machen unseren Job und stellen Fragen, das ist alles.«

»Was sie hier macht, ist aber …«

»Mit ›sie‹ meinen Sie wohl Kommissarin Beccare?«, warf Schneider scharf ein.

Romy lächelte unvermittelt und ließ Bittners Aufruhr zumindest äußerlich gelassen an sich abtropfen, wenn ihr das auch zunehmend schwerer fiel. Abrupt wechselte sie das Thema. »Sagen Sie mal, Herr Bittner, benutzen Sie eigentlich die Werkstatt?«

Er atmete tief durch, strich sich die Haare zurück und legte dann die Hände auf den Tisch. »Na klar. Immer dann, wenn ich mein Kajak oder das Rad hole und wieder zurückbringe«, fuhr er wieder in angemessener Lautstärke, aber mit gepresster Stimme fort.

»Aber man kann sagen, dass Richardt der Hauptnutzer war?«

»Ja, durchaus.«

»Warum hat er sich eigentlich nicht in seinem Haus so einen Raum eingerichtet? Groß genug dürfte es wohl sein.«

»Der Hafen ist günstiger, auch für unsere Touren und für die Boote sowieso.«

»Was genau wollte Kai am Samstagmorgen von Ihnen?«, fragte Romy, nachdem sie in ihrem Notizheft geblättert hatte.

Bittner stöhnte auf. »Meine Güte, wie oft soll ich das denn noch erzählen: nichts Besonderes …«

Die Kommissarin hob die Hand. »Bewerten Sie bitte meine Fragen nicht, erzählen Sie ganz genau, was sich abgespielt hat. Er kam herein, grüßte und was war dann?«

»Ist das Ihr Ernst?«

Romy schoss einen blitzschnellen und wütenden Blick auf ihn ab. »Natürlich! Nach Witzen ist mir gerade nicht zumute, aber ich sage Bescheid, wenn es so weit ist. Also?«

»Wie Sie wollen. Also …« Bittner schloss für einen Moment die Augen. »Kai sagte, dass er mit der Morgentour bisher sehr zufrieden sei, und nahm sich ein Wasser. Er habe das Gefühl, konditionell noch einmal zugelegt zu haben, und bedauerte, doch nicht am Berliner Halbmarathon teilzunehmen, der ja am letzten Sonntag stattfand …«

»War er gemeldet?«

Bittner zuckte die Achseln. »Keine Ahnung.«

»Ist er regelmäßig in Berlin gestartet?«, fragte Romy nach.

»Regelmäßig schon, aber nicht jedes Jahr. Im letzten Jahr sind wir gemeinsam mit Tim Beier und einigen anderen Läufern aus Stralsund in Berlin gelaufen. Richardt ist in gut anderthalb Stunden durchs Ziel gegangen, was eine klasse Zeit ist, aber Beier hat er nicht das Wasser reichen können. Das hat ihn schon ein bisschen gewurmt, obwohl Tim etliche Jahre jünger ist und hauptberuflich Sport treibt – mit solchen Jungs sollte man sich gar nicht erst vergleichen.«

»Weiter.«

»Ach ja – er sagte unsere Motorboottour ab, die wir fürs nächste Wochenende geplant hatten. Eigentlich wollten wir um die Insel schippern und uns einen schönen Tag machen.«

»Nannte er einen Grund für die Absage?«

Bittner überlegte kurz. »Warten Sie … ja, er wollte sich um seine Steuererklärung kümmern und noch einen Kunden in Stralsund besuchen. Er meinte, dass ihm das zeitlich zu eng würde.«

Romy ließ ihn nicht aus den Augen. »Hat Sie das gewundert?«

Bittner nickte zögernd. »Ein bisschen schon, ja, doch. Kai liebte das Motorbootfahren und ließ normalerweise keine Gelegenheit aus, aber na ja …«

»Und das war’s?«

»Ja, wir verabredeten uns noch zu einem Lauf Mitte der Woche, dann erwähnte er, dass er kurz in die Werkstatt wollte, und verschwand wieder. Alles in allem waren nur einige Minuten vergangen.«

Romy legte die Hände auf den Tisch. Auf einmal war es sehr still in dem Raum. Man hörte nur das leise Summen des Aufnahmegeräts.

»Herr Bittner, hat Kai seine Frau Vera geschlagen?«

»Davon weiß ich nichts.«

Romy versuchte, seinen Blick festzuhalten. »Hören Sie, Ihr Freund ist tot. Dass er nicht nur ein toller, tougher, erfolgreicher Typ war, den jeder mochte, ist uns inzwischen längst klargeworden. Sie tun niemandem einen Gefallen, wenn Sie uns wichtige Details seiner Persönlichkeit verschweigen – auch sich selbst nicht. Ganz im Gegenteil.«

»Er hat nie viel von ihr erzählt«, erwiderte Bittner. »Frau, Kinder, Familie – das war ihm nicht so wichtig.«

»Mehr ein Statussymbol?«

»Kann schon sein. Es musste alles funktionieren, das war vorrangig bei ihm«, erklärte Bittner. »Kai hatte klare Vorstellungen, wie sein Leben zu laufen hatte. Alltag, Aufgaben, Arbeit, neue Projekte, Freizeit, Training und so weiter. Alles hatte seinen festen Platz – so war es wohl auch mit Vera und den Kindern. Sie spielten die zweite, vielleicht sogar nur die dritte Geige.«

»Zwischen zweiter oder dritter Geige spielen und Prügel beziehen, besteht aber ein himmelweiter Unterschied«, wandte Romy ein.

»Wie gesagt – davon weiß ich nichts«, beharrte Bittner. »Familie war kein Thema zwischen uns, und soweit ich weiß, gab es nur einen einzigen unumstößlichen Familientermin, der immer in seinem Kalender stand und Priorität hatte: der jährliche Anruf bei seiner Mutter.«

»Zu ihrem Geburtstag?«, fragte Romy. Sie war gelinde erstaunt. Mit einem Seitenblick erfasste sie, dass Kasper ebenfalls irritiert war.

»Nein, zum Todestag des Bruders«, antwortete Bittner. »Kai hatte einen älteren Bruder. Der starb mit acht oder neun Jahren.«

»Und Kai hat jedes Jahr an diesem Tag in Lübeck angerufen, um seine Mutter zu trösten?« Romys Stimme klang noch perplexer.

»Nein. So war das nicht.« Bittner sah Kasper an und wandte den Blick dann wieder Romy zu. »Ich habe so ein Telefonat zufällig mal bei einer Radtour mitbekommen. Sonst hätte Kai ganz sicher nicht darüber gesprochen. Das war nicht seine Art.« Er runzelte die Stirn. Das Thema behagte ihm nicht.

»Kai war davon überzeugt, dass seine Mutter den Tod des Kindes zu verantworten hatte«, erläuterte Bittner schließlich. »Und genau das sagte er ihr, wenn er am Todestag des Bruders anrief. Jedes Jahr: ›Du bist schuld, Mutter. Nur du! Mein Bruder könnte noch leben.‹«

Romy hielt die Luft an und stieß sie langsam wieder aus. »Wissen Sie, was damals passiert ist?«

»Kai erzählte, dass der Junge an einem Blinddarmdurchbruch starb. Er hatte tagelang Schmerzen gehabt, die die Mutter nicht ernst genommen hatte.«

»Und der Vater?«

Bittner zuckte die Achseln. »Der hatte wohl nicht viel zu melden. So äußerte sich Kai, ohne das Thema zu vertiefen. Er bat mich, nicht darüber zu sprechen. Die Geschichte hat er wohl nie ganz verwunden.«

Verständlich, dachte Romy. »Und er rief wirklich jedes Jahr an, um seiner Mutter …?«

»So sagte er mir, ja. Das sei ihre Strafe. Sie ging auch immer ans Telefon. Das war wie ein Ritual zwischen den beiden, das sie nicht gewagt hätte, zu durchbrechen.«

Romy spürte, wie ihr eng ums Herz wurde.

»Kann ich jetzt gehen?«, fragte Thomas Bittner schließlich.

»Ja. Aber bitte denken Sie daran, das Protokoll in den nächsten Tagen zu unterschreiben und sich für weitere Fragen zu unserer Verfügung zu halten.«

»Wie könnte ich das vergessen? Wissen Sie schon, wie lange Ihre Leute noch auf meinem Gelände unterwegs sein werden?«

Romy schüttelte den Kopf. Als Bittner den Raum verlassen und Kasper das Aufnahmegerät ausgeschaltet hatte, sah sie den Kollegen kopfschüttelnd an.

»Dieser Richardt wird mir langsam, aber sicher unheimlich«, sagte sie. »Der scheint Tiefen gehabt zu haben, in die ich ungern hinabblicke, wenn ich ehrlich sein soll.«

Kasper nickte kommentarlos.

 

Es war mittlerweile Nachmittag geworden. Fine hatte für frischen Kaffee und einen Imbiss gesorgt. Als Romy die Platte mit den Fischbrötchen sah, lief ihr das Wasser im Mund zusammen. Sie hatte das Gefühl, seit Ewigkeiten nichts mehr gegessen zu haben.

Maximilian Breder holte sich ein Glas Saft und setzte sich Romy gegenüber. Seinem leeren Teller nach zu urteilen, an dessen Rand fein säuberlich und der Länge nach Gräten aufgereiht waren, hatte er bereits gegessen.

»Und wie kommen Sie voran, Kollege?«, fragte sie höflich, nachdem Kasper die Ereignisse des Tages mit wenigen knackigen Sätzen für alle zusammengefasst hatte, und biss herzhaft von ihrem Brötchen ab.

»Ganz gut«, entgegnete er eifrig.

Der Widerspruch zwischen der kräftigen, wohltönenden Stimme und der zarten Gestalt verblüffte Romy aufs Neue. Breder trug wieder Anzug und Krawatte, und seine gepflegten Hände ließen eine stundenlange Maniküre vermuten.

»Du müsstest mal sehen, was er für eine ellenlange Tabelle erstellt hat. Da bist du von den Socken«, begeisterte sich Fine.

»Was genau hat es damit auf sich?«, fragte Romy, sobald sie den Mund wieder einigermaßen frei hatte.

Max lächelte zuvorkommend. »Ich habe alle zur Verfügung stehenden Informationen und Ermittlungsergebnisse in einer Datenbanktabelle erfasst – und wenn ich alle Infos sage, dann meine ich das auch so: Telefonnummern, Arbeitgeber, Aussagen, Freunde, rechtsmedizinische Befunde …«

»Ich hab durchaus verstanden, was ›alle‹ heißt«, warf Romy amüsiert ein. »Und abgesehen davon, dass es sinnvoll ist, sich einen Überblick zu verschaffen, in den alle relevanten Details einfließen, gerade wenn es um mehrere Fälle geht – wofür genau soll das gut sein?«

»Das Datenbankprogramm ermöglicht mir, durch geschicktes Abfragen Querverbindungen, Verknüpfungen und Zusammenhänge herzustellen, die den Fall manchmal in einem anderen Licht erscheinen lassen oder überhaupt erhellend sind.«

»Zum Beispiel?«

»Nun, bei der Recherche zu den Vermisstenfällen …«

»Die hat sich ja nun erledigt, da wir inzwischen Gewissheit haben, dass es sich bei dem Skelett um Beate Lauber handelt, die meiner Ansicht nach von Kai Richardt ermordet wurde«, fiel Romy ihm ins Wort. »Aber das werden wir ihm sehr wahrscheinlich nicht mehr nachweisen können. Sie dürfen sich also getrost anderen Aufgaben zuwenden.« Sie biss erneut von ihrem Brötchen ab.

»Die Datenbank-Recherche hat zwei weitere Namen ausgespuckt, die wir uns durchaus näher ansehen sollten«, erwiderte Max eifrig.

Romy erinnerte sich an Fines Hinweis, dass der junge Mann aus Stralsund etwas entdeckt zu haben meinte. Sie griff nach einer Serviette, tupfte sich die Lippen ab und seufzte innerlich.

»Herr Breder, Ihre unifrischen Kenntnisse und Ihre Geschicklichkeit bei der Datenrecherche in allen Ehren, aber wir haben hier inzwischen so viel zu tun, dass es keinerlei Sinn hat, mühsam und zeitraubend nach neuer Arbeit in Form von ungelösten Vermisstenfällen zu suchen, die zufällig auch in Ihrer Datenbankliste aufgetaucht sind«, erläuterte sie ihm.

Fines lautes Ausatmen, in dem überdeutlich Empörung mitschwang, war durch den ganzen Raum zu hören. Kasper stand auf und goss sich einen frischen Kaffee ein. Romy erhaschte einen flüchtigen Blick auf sein Gesicht, über das ein Grinsen gehuscht war. Nebenan klingelte das Telefon, und ein uniformierter Kollege nahm das Gespräch an. Im Flur unterhielten sich zwei Beamte über den geplanten Ausbau der B 96. Der eine war dafür, der andere dagegen – wie es auf der Insel durchgängig der Fall war.

»Ich weiß, was Sie meinen«, stimmte Breder zu. Er lächelte fröhlich. »Aber ›zufällig‹ ist die falsche Umschreibung. Ich vermute, dass Sie Ihre Meinung ändern, wenn ich Ihnen erläutere, dass die beiden Frauen etwas mit dem Fall Kai Richardt und auch Beate Lauber zu tun haben könnten.«

»Wie bitte?« Romys Mund blieb für einen Moment offen stehen, und nach Max’ funkelnden Augen zu urteilen, hatte er genau diese Reaktion erwartet. »Ich hoffe sehr, dass Ihre Behauptung Hand und Fuß hat.«

»Hat sie, Frau Kommissarin.«

»Dann legen Sie mal los.«

Max griff nach einer Mappe, die hinter ihm auf dem Tisch lag.

»Bis vor einigen Stunden war nicht eindeutig geklärt, dass es sich bei dem Skelettfund um Beate Lauber handelt«, hob er an. »Die Vermutung lag ziemlich nahe, aber einhundertprozentige Sicherheit ist was anderes. So habe ich das jedenfalls mal gelernt, und …«

»Ich auch«, bemerkte Romy und hoffte, dass er ihre eilige Zustimmung als Aufforderung verstand, seinen Vortrag zu beschleunigen. »Und weiter?«

»Ich habe in der Zwischenzeit alle mir zur Verfügung stehenden Informationen über Beate Lauber in die Kai-Richardt-Tabelle eingefügt, um Überschneidungen zu finden, und dann um die beiden anderen Namen ergänzt, die im Zuge der regionalen Abfrage ebenfalls genannt worden waren.«

Der Mann kann eigentlich nicht aus Mecklenburg-Vorpommern stammen, dachte Romy, so umständlich und langatmig, wie der redet. »Sie machen es sehr spannend. Was ist denn nun dabei herausgekommen?«

Max heftete den Blick in seinen Ordner und blätterte zwei Seiten weiter. »Bei dem Fall der im Frühjahr 1995 …«

»Sagten Sie 1995? Das ist ja ewig her! Da gab es noch nicht mal den Euro.«

»Gedulden Sie sich bitte einen Moment«, bat Max höflich, aber bestimmt.

Na schön, dachte Romy – übe ich mich in Geduld. Eine meiner liebsten Übungen. Fine warf ihr einen strengen Blick zu, während Kasper sein leises Schmunzeln zeigte.

»Also, im Frühjahr 1995 verschwand die achtundzwanzigjährige Maria Bernburg, eine junge Frau aus Greifswald«, setzte Breder seinen Bericht fort, als wäre er nie unterbrochen worden. »Sie wurde für knapp zwei Wochen entführt. Als sie wieder auftauchte, war sie traumatisiert und kaum fähig, Einzelheiten zu schildern. Die Polizei fand keinen einzigen brauchbaren Anhaltspunkt für Nachforschungen. Bernburg erläuterte nur, dass sie an einem dunklen, ihr unbekannten Ort von einem ihr fremden Mann gefangen gehalten und gequält worden war, der sie schließlich auf einer Autobahnraststätte aussetzte, nachdem er sie mit Schlaftabletten betäubt hatte. Die Frau verkraftete die Entführung nicht. Einige Monate später beging Maria Bernburg Suizid.«

»Herr Breder, das ist äußerst tragisch, aber …«

»Maria Bernburg arbeitete in einem großen Versicherungsbüro, das zu Kai Richardts Stammkunden zählt – noch heute«, verschaffte Max sich wieder Gehör. »Es ist mehr als wahrscheinlich, dass die beiden sich begegnet sind, als er vor Ort war.«

Romy nickte langsam. »Ein interessanter Aspekt, aber letztlich heißt das gar nichts«, wandte sie ein. »Richardt hatte in ganz Mecklenburg-Vorpommern Kunden, und überprüfen lässt sich auch nichts mehr, da sowohl Richardt als auch die Frau …«

»Nicht mehr leben, ja, schon klar.«

»Allein die Tatsache, dass Richardt Geschäfte mit Maria Bernburgs Arbeitgeber gemacht hat und die Frau wahrscheinlich kennengelernt hatte, reicht nicht für eindeutige Schlussfolgerungen aus, schon gar nicht nach so langer Zeit.« Romy schüttelte den Kopf. »Ich gebe zu, dass das eine durchaus bemerkenswerte Überschneidung in Ihrer Tabelle ist – nicht mehr und nicht weniger –, doch der Entführer hat sie lebend wieder freigelassen, was ein entscheidender Aspekt ist. Also, das überzeugt mich nicht. Was ist mit dem zweiten Fall?«

»Im Herbst 2005, vor fünfeinhalb Jahren, wurde Mirjam Lupak Opfer einer Entführung«, fuhr Max mit Blick in seine Unterlagen fort. »Die damals 25-jährige Tierarzthelferin stammt aus Stralsund und wurde nach zehn Tagen wieder freigelassen. Sie erzählte, dass sie eingesperrt gewesen war, den maskierten Täter nicht kannte und Qualvolles zu erdulden hatte. Tage später kam sie auf einer Autobahnraststätte zu sich. Immerhin erläuterte sie, dass sie mehrfach missbraucht worden war und der Mann sich insbesondere an ihrer Angst und Erniedrigung ergötzt hatte. Verwertbare DNA-Spuren konnten aber nicht gesichert werden.«

Breder sah kurz hoch und vergewisserte sich, dass ihm alle aufmerksam zuhörten. »Die Polizei vermutete trotz der großen Zeitspanne aufgrund der vergleichbaren Umstände, dass Mirjam Lupak und Maria Bernburg Opfer desselben Täters geworden waren, ohne jedoch weitere Beweise oder Hinweise auf das Gefängnis der Frauen oder gar den Täter finden zu können. Die Ermittlungen verliefen seinerzeit im Sande.«

»Scheußlich, aber wo ist der Zusammenhang?«, fragte diesmal ausnahmsweise Kasper Schneider.

»Die Tierarztpraxis hat sich seinerzeit von Richardt bezüglich ihrer Ausstattung beraten lassen. Das ist das eine, doch der zweite Aspekt ist viel bedeutsamer.« Max warf einen Blick in die Runde. »In meiner Tabelle zeigt sich eine Überschneidung mit Tim Beier, dem Laufkollegen von Richardt.«

»Inwiefern?«

»Mirjam Lupak und Tim Beier waren damals ein Paar, und die beiden Lauffanatiker kannten sich auch schon.«

»Oh«, meinte Romy verblüfft.

Max nickte ernst. »Ja, genau.«

Sie schob ihren Teller beiseite. »Das ist ein ziemlicher Hammer«, bemerkte sie schlicht und blickte Max an. »Eins zu null für Sie.«

Max wurde rot. Fine nickte stolz. »Diese Tabellen sind gar nicht mal so blöd, oder?«

»Nein, blöd sind sie nicht«, gab Romy zu. »Man muss nur aufpassen, dass man Aspekte nicht überinterpretiert, nur weil sie gemeinsam in einer Tabelle auftauchen.«

»Hier ist aber nichts überinterpretiert, sondern nur aufgelistet«, stellte Fine fest. »Und man muss gucken, was man daraus macht.«

Romy lächelte. »Genau.«

Kasper kratzte sich am Kinn. »Mal im Ernst – glaubst du wirklich, dass Richardt dahintersteckt?«, fragte er an Romy gewandt. »Drei entführte Frauen über einen Zeitraum von sechzehn Jahren?« Das klang skeptisch.

»Zumindest können wir es im Augenblick nicht unbegründet ausschließen«, entgegnete Romy. »Und ich fürchte, wir müssen auf Nummer sicher gehen und nachhaken, auch wenn die Geschichten zeitlich sehr weit auseinanderliegen. Unter Umständen zeigt sich ja, dass Richardt doch nichts damit zu tun hatte und schlicht der Zufall Regie führte. Aber dann wissen wir wenigstens, dass wir die Fälle bei den weiteren Mordermittlungen unberücksichtigt lassen können …«

»Oder?«

»Oder es finden sich tatsächlich weitere Aspekte, die den Verdacht erhärten. Auf jeden Fall ist es ungewöhnlich, dass Richardt alle drei Frauen entweder nachweislich gekannt hat oder ihnen zumindest begegnet sein könnte.«

»Und der Fall Lauber?«, fragte Kasper. »Bei ihr geht es um Mord. Du hast gerade selbst darauf hingewiesen, dass die Fälle ganz unterschiedlich gelagert sind. Beate Lauber hat er wahrscheinlich erschlagen, die beiden anderen entführt, tagelang gequält und wieder freigelassen.«

Romy hob die Hände. »Stimmt. Es ist viel zu früh, um voreilig Schlussfolgerungen zu ziehen, aber denkbar wäre durchaus, dass Richardt bei der Lauber die Sicherungen durchgebrannt sind – aufgrund der Hotelgeschichte. Und was er vorher mit ihr gemacht hat, werden wir wohl nicht mehr erfahren. Vielleicht hat sie ihn auch erkannt.« Sie wies auf Max. »Wir haben gerade von ihm gehört, dass die beiden anderen Frauen von einem maskierten Unbekannten in einer ihnen fremden Umgebung gesprochen haben. Dem Entführer war es ganz offensichtlich sehr wichtig gewesen, nicht erkannt zu werden. Richardt konnte nicht ausschließen, den Frauen wieder zu begegnen.«

»Und der Mord an ihm?«

»Rache?«, mutmaßte Romy. »Denk an den anonymen telefonischen Hinweis. Irgendjemand hat was mitbekommen.«

»Und warum erst jetzt? Die letzte Entführung war vor fünfeinhalb Jahren.«

»Gute Frage«, gab Romy zu. »Vielleicht ein dummer Zufall? Das Leben ist voll davon.«

Max hob den Kopf. »Das glaube ich nicht. Wir bezeichnen Ereignisse nur so lange als Zufälle, wie wir sie nicht einordnen können. Wenn wir das Muster erkannt haben, gibt es keinen Zufall mehr, nur noch folgerichtiges Geschehen.«

»Hört sich schlau an – und wie dürfen wir das bei diesem Beispiel verstehen?«

»Er könnte eine weitere Entführung geplant haben, von der jemand Wind bekommen hat.«

Romy runzelte die Stirn. »Wie kommst du denn darauf?« Das Du war beabsichtigt.

Max tippte auf seinen Hefter. »Frühjahr 1995, Spätsommer 2000, Herbst 2005 – ungefähr alle fünf beziehungsweise fünfeinhalb Jahre ist der Mann tätig geworden. Frühjahr 2011 wäre es wieder so weit gewesen – ungefähr jedenfalls. Ein Serientäter.« Breders Wangen hatten sich rötlich gefärbt.

Einen Augenblick herrschte tiefes Schweigen.

»Das klingt verdammt nach amerikanischem Profilerkrimi«, meinte Kasper. Er schüttelte den Kopf. »Ein Serientäter auf Rügen, das kann ich nicht glauben. Aber das allein ist natürlich kein gutes Gegenargument.«

»Der leere Keller im hinteren Bereich des Gebäudes«, überlegte Romy halblaut. »Er ist sehr sauber und aufgeräumt. Du hast selbst bemerkt, dass er darüber hinaus seltsam unauffällig wirkt, abgelegen – die Tür ist verdeckt von einem Regal, sie hat ein neues Schloss, in dem sogar ein Schlüssel steckt. Denkbar wäre es schon, dort einen Menschen für einige Tage festzuhalten, oder?«

Sie spürte plötzlich, dass sie ihr Fischbrötchen zu schnell und gierig gegessen hatte. Ein unangenehmes Völlegefühl machte sich in ihr breit.

»Ja, in der Tat … Aber die Werkstatt gibt es erst seit elf Jahren«, gab Kasper zu bedenken.

»Er kann das Gebäude bereits vorher genutzt haben«, hielt Romy dagegen. »So lange kannten sich Bittner und Richardt schon. Fünf Jahre später hat er die Sache mit der Werkstatt angeschoben, um dort unauffälliger und selbstverständlicher agieren zu können. Oder er hatte sein erstes Opfer an einem anderen Ort untergebracht, der sich nicht bewährt hat. Vergessen wir nicht, was Bittner erläutert hat: Kai Richardt war ein Perfektionist, der nichts gern dem Zufall überließ.«

Kasper atmete tief durch. »Und wie geht es weiter?«

»Neu sortieren. Neu ansetzen. Die Staatsanwaltschaft informieren. Und die Fälle gut organisiert bearbeiten.« Sie blickte auf die Uhr und dann Max an. »Suchst du bitte mal die Akten heraus?«

»Schon passiert.«