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Romy hatte sich mit dem Oberstaatsanwalt in Stralsund verbinden lassen, um sich für eigenständige Ermittlungen des Bergener Kommissariats in Stralsund, Rostock und Greifswald Rückendeckung zu holen. Romy schätzte Dr. Schwedtner als unkomplizierten und direkten Typen, der sich gerne auch mal im Detail mit einem Fall befasste.

Schwedtner stimmte sofort zu, nachdem sie ihm die neue Lage eingehend geschildert und darauf verwiesen hatte, dass die Nachforschungen unbedingt in einer Hand bleiben sollten. Er versprach sogar, sich für die Bewilligung zusätzlicher Leute stark zu machen und bei organisatorischen Fragen zügig zu helfen. Keine Frage: Weder Stralsund noch Rügen hatte ein Interesse daran, die Hauptferiensaison mit einem oder mehreren ungelösten Verbrechen zu eröffnen.

»Bisher geht es erst mal darum, sehr behutsam abzuklopfen, ob der Verdacht sich erhärten könnte und ob die Entführungsfälle unter Umständen mit dem Mord an Richardt zusammenhängen«, fügte Romy ihrem Bericht hinzu. »Wir wissen aber noch nicht …«

»Ich habe schon verstanden, Kommissarin Beccare, aber sollte da was dran sein, müssen wir das unbedingt zügig abarbeiten. Denken Sie mal daran, wie voll die Insel zu Pfingsten sein wird – in diesem Jahr noch voller als sonst!«

Das klang verdammt wichtig. Ich schätze, ich habe was verpasst, dachte Romy betreten. Noch eine Störtebeker-Aufführung?

»Der Sand-Skulpturen-Wettbewerb«, half Schwedtner nach. »Sie wissen doch sicherlich, dass Rügen den Weltrekord holen will?«

Romy erinnerte sich flüchtig, irgendwas zu dem Thema in der Ostsee-Zeitung gelesen zu haben. Die Betonung lag auf flüchtig.

»Zwischen Glowe und Juliusruh soll eine 27.300 Meter lange Figur aus Sand entstehen. Damit würde Rügen eine Skulptur aus den USA, die den Rekord bisher mit 26,1 Kilometern hält, deutlich schlagen. Sozusagen um Längen.«

»Ach ja«, meinte Romy zögernd.

Sand-Skulpturen-Wettbewerb. Nun ja, nicht gerade ihr bevorzugtes Hobby. Moritz hatte gerne Burgen und Schlösser gebaut – eifrig und verträumt wie ein Kind –, und sie hatte erraten müssen, an welchem bedeutsamen Bauwerk er sich gerade versuchte. Sie hatte häufig falschgelegen, warum auch immer. Romy liebte es, die Zehen in den Sand zu bohren. Im Job baute sie, ehrlich gesagt, ungern auf Sand, aber der Spruch war hier wohl nicht angebracht.

»Sie können sich ja vorstellen, was dann bei Ihnen los sein wird«, fügte der Staatsanwalt hinzu.

»Ja, unbedingt.«

»Es wäre sehr wichtig, bis dahin …«

»Wir tun, was wir können. Apropos Ermittlungen beschleunigen: Könnten die Stralsunder Kollegen uns einen Weg abnehmen und einen Zeugen vorbeibringen?«

»Kein Problem. Lassen Sie Namen und Adresse durchgeben, und ich sorge dafür, dass ein Wagen vorbeifährt.«

»Danke, Doktor Schwedtner.«

»Nichts zu danken. Und melden Sie sich, wenn ich irgendwie helfen kann.«

»Das mache ich gerne.«

Romy legte auf und bat Fine, die Adresse von Tim Beier weiterzuleiten. Kasper stand in der offenen Tür.

»Kümmerst du dich um den Läufer?«, fragte Romy im Aufstehen. Sie packte ihre Notizen und einige Fotos ein.

»Was genau meinst du mit ›kümmern‹?«

»Er soll noch mal detailliert erzählen, wie gut er Kai Richardt kannte, was er am Wochenende gemacht hat und so weiter. Achte auf die Zwischentöne. Aber bitte noch kein Wort von Mirjam, Beate Lauber und unserem neuen Verdacht. Und lass dir Zeit mit ihm.«

»Verstehe. Und was machst du jetzt?«

»Ich fahre zu Mirjam Lupak. Ich möchte nicht, dass sie von einem Polizeiwagen abgeholt wird. Nach dem, was sie erlebt hat, verdient sie jede erdenkliche Form von Rücksichtnahme.«

»Verstehe«, meinte Kasper erneut.

»Max soll weiterhin seine Listen füllen und Fine unterstützen.«

Kasper öffnete den Mund, aber Romy kam ihm zuvor: »Sag jetzt um Gottes willen nicht schon wieder: verstehe!«

Kasper griente. »Alles klar.«

 

Sie saßen in dem kleinen Büro hinter dem Kassentresen. Tim hatte den Laden bereits am frühen Abend geschlossen. Der Dienstag war nicht gerade ein umsatzstarker Wochentag, was den Kauf von Sportausstattung und den Wunsch nach Trainingsberatung betraf.

»Nimm dir ein paar Tage frei«, sagte er, öffnete eine Flasche Wasser und trank gierig. Er war nervös, das konnte Steffen förmlich riechen. Seit dieser Sache war Tim eigentlich ständig nervös. Mal mehr, mal weniger. Heute mehr.

»Mein Vater hat in Drigge einen kleinen Gartenbungalow, direkt am Strelasund mit Blick auf Werft und Rügenbrücke«, meinte Tim. »Wald und Wasser, idyllisch, abgelegen und zu dieser Zeit fast frei von Touristen. Wenn du da morgens durch die Gegend wanderst, laufen dir allenfalls Rehe über den Weg, und das Einzige, was du hörst, ist das Singen der Schwäne auf dem Wasser und das Rauschen der Bäume, die im Wind schaukeln. Na, ist das nichts? Einziger Nachteil: schlechter Handyempfang. Ach ja: Burger kriegst du da auch nicht. Aber wer braucht schon Burger?« Tim versuchte ein Lachen, aber es misslang gründlich.

»Und was soll ich da machen? Blumen gießen und Rasen mähen? Oder Schwäne fotografieren?« Steffen war alles andere als begeistert.

»Warum nicht?«

»Ich bin kein Garten- und Naturfreak, das weißt du. Warum …?«

»Ich will dich aus dem Schlamassel raushalten«, versicherte Tim eilig. Er gab sich Mühe, ruhig zu klingen. »Es ist anzunehmen, dass die Polizei demnächst auftaucht und weitere Fragen stellt. Dein Lebenslauf ist nicht der allersauberste, das muss ich nicht extra betonen. Du solltest dann …«

Steffen schüttelte den Kopf. »Warum sollten die Bullen aufkreuzen? Wir haben Handschuhe getragen und keine Spuren hinterlassen, niemand hat uns gesehen. Und der Typ hat noch gelebt, als wir gegangen sind. Ich bin ganz sicher.«

»Ich nicht.«

»Aber klar doch! Keine Frage, wir haben ihm mächtig eingeheizt. Aber der war zäh, und ich sag’s noch mal: Er hat gelebt, als wir aufbrachen.«

Tim fuhr sich mit beiden Händen durch das kurze Haar. »Selbst wenn du recht hast – dann wird er wohl später an seinen Verletzungen gestorben sein. Wo ist der Unterschied? Wir haben ihm nicht nur mächtig eingeheizt, wir haben ihn so fertiggemacht, dass er kaum noch kriechen konnte. Und nun ist er tot! Das war aber so nicht geplant …«

»Nein, das war nicht geplant. Aber freiwillig hätte er nicht geredet«, gab Steffen zu bedenken. »Doch keiner unserer Schläge war tödlich. In der Zeitung stand …«

»Die Zeitung kannst du vergessen. Und noch was: Ein Freund aus Sassnitz hat erzählt, dass die Polizei auf dem Gelände hinter der Fischfabrik keinen Stein auf dem anderen lässt! Die finden immer irgendwas. Es bleibt dabei – ich will, dass du für ein paar Tage von der Bildfläche verschwindest.«

Steffen kniff die Augen zusammen. »Entspann dich! Du hast selbst gesagt, dass die Polizei bereits mit dir telefoniert hat – reine Routine, weil ihr euch durch die Lauferei gekannt habt. Warum sollten die sich noch mal melden? Und von mir war nie die Rede – ich kenne das Arschloch gar nicht, glücklicherweise. Außerdem bist du am Samstag nach Berlin zum Halbmarathon gefahren. Wenn das kein gutes Alibi ist.«

»Das ist ein gutes Alibi, aber …«

Plötzlich ging Steffen ein Licht auf. »Wovor hast du wirklich Schiss? Sei ehrlich – du denkst, dass ich noch mal hingefahren bin, um ihm den Rest zu geben, nicht wahr? Ist es das? Hältst du mich für den Mörder von diesem Typen?«

Darauf sagte Tim eine ganze Weile nichts, was auch eine Antwort war. Schließlich stand er auf und stellte die leere Wasserflasche mit lautem Scheppern in den Kasten zurück. Steffen spürte, dass sein Herz mit kräftigem Wummern gegen die Rippen schlug. Seine Hände zitterten.

»Du hältst mich wirklich für einen Mörder?«, fragte er noch einmal leise, aber das war eigentlich gar keine Frage. »Ich bin echt platt.«

Tim drehte sich um und sah ihn an. »Ich halte dich für den besten Freund, den ich je hatte.«

»Das ist keine Antwort auf meine Frage.«

»Doch, Steffen, das genau ist die Antwort.«

»Was?«

»Du hast mitbekommen, wie mich diese Geschichte fertiggemacht hat. Du weißt im Einzelnen, was der Typ angestellt hat, nachdem wir ihn erst mal zum Reden gebracht hatten …«

»Ja, ein Mann, dem man besser niemals begegnen sollte«, unterbrach Steffen ihn. »Da stimme ich dir zu. Wahrscheinlich hat er es verdient, dort unten zu verrecken – auf miese Weise zu verrecken. Aber du hast gesagt, dass wir ihn windelweich prügeln, bis er alles gesagt hat, eine Weile da schmoren lassen und dann die Polizei benachrichtigen. So haben wir es gemacht. So und nicht anders.« Und ich war überhaupt nicht scharf darauf, an den Ort zurückzukehren, fügte er in Gedanken hinzu.

Tim fuhr sich über die Nase, und Steffen nickte nachdenklich.

»Ich hätte ihn ja gern nach Binz gebracht und in der Prora-Anlage abgelegt – dann hätten die Bullen wenigstens richtig was zu suchen gehabt. Aber das wolltest du auch nicht.« Steffen zuckte mit den Achseln. »Lange Rede, kurzer Sinn: Du wolltest es anders haben, und daran habe ich mich gehalten. Und weißt du, warum? Weil ich mich immer an das halte, was du sagst.«

Tim blickte ihm so lange starr in die Augen, bis es Steffen unheimlich wurde. Dann nickte er plötzlich. »Okay.«

Das Schrillen der Ladenglocke ließ beide zusammenfahren. Tim erblasste.

»Du bleibst hier, verstanden?«, flüsterte er. »Falls das die Polizei ist, wartest du noch fünfzehn Minuten und haust dann hinten raus ab, okay?«

Steffen nickte. »Aber …?«

Tim legte den Zeigefinger auf seine Lippen und eilte dann nach vorn. Steffen lauschte angestrengt. Dem kurzen Wortwechsel konnte er entnehmen, dass Tim recht gehabt hatte. Die Polizei bat ihn zu einer Befragung ins Kommissariat. Steffen blieb mucksmäuschenstill sitzen. Er hörte, dass Tim die Tür zweimal umschloss. Augenblicke später fuhr ein Wagen an.

Steffen blieb noch zehn Minuten sitzen. Tims Unruhe war also berechtigt gewesen und hing nicht nur damit zusammen, dass er Steffen verdächtigt hatte. Aber was wollte die Polizei noch von ihm?

Vielleicht war Tim gar nicht nach Berlin gefahren. Der Gedanke tauchte nicht plötzlich auf – er drang langsam an die Oberfläche wie eine Luftblase.

Tim war zum Halbmarathon gemeldet, überlegte Steffen, und in der Regel trat er einen Lauf mit einem Chip an, der am Schuh befestigt wurde und seine Zeit erfasste. Schon Stunden nach einem Laufevent konnte man im Internet Einzelheiten zu seinem Rennen abfragen. Steffen hatte häufig danebengesessen, wenn Tim seine Startnummer eingegeben und sein Ergebnis abgerufen hatte. Ein gutes Alibi. Ein besseres konnte es kaum geben.

Steffen nickte. Er war erleichtert. Allerdings nur für einen Moment. War es möglich, dass ein anderer Läufer den Chip getragen hatte?

 

Romy wartete gegenüber der Tierarztpraxis in der Langenstraße, in der Mirjam arbeitete. Anhand eines Fotos aus der Akte erkannte sie die zierliche Frau sofort, die gegen halb sieben das Haus verließ und das Schloss an ihrem Fahrrad öffnete.

Romy überquerte die Straße und blieb neben Mirjam Lupak stehen. Die junge Frau richtete sich auf und lächelte freundlich. Sie hält mich für eine Touristin, die den Weg zum Meeresmuseum sucht, dachte Romy amüsiert.

»Hallo, kann ich Ihnen helfen?«, fragte Tim Beiers Exfreundin.

Romy nickte. »Vielleicht. Mein Name ist Ramona Beccare. Ich bin die leitende Kommissarin aus Bergen.«

Das Lächeln erlosch augenblicklich. »Aha. Und?« Sie befestigte das Schloss am Gepäckträger und umfasste den Lenker.

»Können wir uns irgendwo ein paar Minuten ungestört unterhalten?«, fragte Romy.

»Worum geht es denn?«

»Wir bearbeiten den Fall des ermordeten Geschäftsmannes Kai Richardt, den Sie vielleicht kannten.«

»Was? Wie kommen Sie denn darauf.« Mirjam Lupak schüttelte den Kopf. »Nein, der Name sagt mir nichts.«

»Möglicherweise doch: Tim Beier, Ihr Exfreund, hat durch den Laufsport viel mit ihm zu tun gehabt.«

Lupak strich über den Sattel und schüttelte erneut den Kopf. »Selbst wenn mir der Mann mal über den Weg gelaufen sein sollte – das ist Jahre her. Ich kann Ihnen bestimmt nicht weiterhelfen. Außerdem habe ich es eilig …«

»Frau Lupak«, unterbrach Romy die Frau und hob die Hand, als wollte sie freundschaftlich nach ihrem Arm fassen, aber Mirjam wich der Berührung mit einer geschickten Körperdrehung aus. »Glauben Sie mir bitte – es ist sehr wichtig. Möglicherweise sind Sie eine entscheidende Zeugin und können uns mit Hinweisen weiterhelfen, die sich im Bezug auf die Aufklärung gleich mehrerer Verbrechen als bedeutsam erweisen. Verbrechen, die viele Jahre zurückliegen und unermessliches Leid verursacht haben.«

Lupak wechselte die Gesichtsfarbe. Sie starrte an Romy vorbei ins Leere. Scheiße, dachte die Kommissarin, die Frau ist immer noch traumatisiert. Natürlich ist sie das – wahrscheinlich wird sie in fünfzig Jahren nicht vergessen haben, was sich damals abgespielt hat, und mit der Polizei will sie auch nie wieder etwas zu tun haben.

Der sachliche Ton in der Akte hatte nicht darüber hinweggetäuscht, dass die Frau eine existenzielle Ausnahmesituation durchlitten hatte, über die sie nur mühsam in der Lage gewesen war zu sprechen. Andere zerbrachen daran. Wie zum Beispiel Maria Bernburg.

Mirjam Lupak atmete einmal tief durch. Dann sah sie Romy an.

»Na schön. Ich wohne in der Mühlenstraße, das ist nicht weit von hier«, sagte sie bemüht sachlich, doch Romy hörte die wispernde Unruhe in ihrer Stimme. »Aber ich möchte das Gespräch nicht bei mir zu Hause führen. Wir könnten in den ›Kaffeekoop‹ gehen, ein kleines Café zwei Häuser weiter.«

»Das ist eine gute Idee.«

Zehn Minuten später saßen sie im »Kaffeekoop«. Romy hatte einen Cappuccino bestellt, Mirjam ein Glas Tee.

»Kann es sein, dass Sie nicht allzu viel Vertrauen in die Arbeit der Polizei haben?«, fragte Romy und legte den Hefter auf den Tisch.

Mirjams Augen huschten eilig über die Mappe, bevor sie die Kommissarin anblickte. »Das tut nichts zur Sache.«

Romy öffnete den Hefter und zog ein Foto von Kai Richardt heraus, das sie Mirjam vorlegte. Die fasste es nicht an, beugte sich aber darüber und betrachtete es mit konzentrierter Miene.

»Wie ich vorhin schon sagte: Ich kenne den Mann nicht«, erklärte sie.

»Waren Sie nicht mal bei einigen Laufveranstaltungen dabei, wenn Ihr damaliger Freund gestartet ist?«

»Nein – so gut wie nie. Diese Rennerei, ob nun zu Fuß oder auf dem Rad, ist mir schon immer auf die Nerven gegangen.«

»Sie sehen gar nicht so unsportlich aus.«

»Das hat nichts mit Unsportlichkeit zu tun«, erwiderte Mirjam stirnrunzelnd. »Ich fahre sehr gerne Fahrrad, gehe wandern, spiele Squash, aber die Rennerei und der ganze Hype, der darum gemacht wird – grässlich. Hier ein Marathon, dort ein Halbmarathon, dann wieder Crossläufe und Bergtriathlons, Inselcuprennen, Intervalltraining, Kraftausdauertraining … Tims Leidenschaft war übrigens ein ständiger Streitpunkt zwischen ihm und mir.«

»Klingt so.« Endlich geht sie ein bisschen aus sich heraus, dachte Romy. »Aber Sie könnten Richardt auch bei einer anderen Gelegenheit begegnet sein.«

»Tatsächlich?«

»Ja. Wir wissen, dass seine Innenausstattungsfirma für Ihren Chef gearbeitet und die Planung, den Innenausbau und die Einrichtung der Tierarztpraxis übernommen hat.«

Verblüffung flog über Lupaks Gesicht. »Du liebe Güte – ja, kann sein. Doch das ist etliche Jahre her.«

»Ungefähr sechs Jahre?«

»Mag sein. Ich erinnere mich noch gut an die Umbauarbeiten, als die Praxis in die neuen Räume zog, aber nicht an eine Begegnung mit diesem Mann.« Sie machte eine flüchtige Handbewegung in Richtung des Fotos.

»Sie können aber auch nicht hundertprozentig ausschließen, ihm über den Weg gelaufen zu sein?«

»Nein, das nicht, aber warum ist das so wichtig?«, fragte Mirjam. »Ob wir uns damals mal getroffen haben oder nicht, hat doch mit dem Mord an ihm herzlich wenig zu tun.«

Romy lehnte sich zurück. »Das genau ist der entscheidende Punkt.«

»Wie darf ich das denn verstehen?«

Die Kommissarin rührte ihren Cappuccino um und trank einen Schluck, dann beugte sie sich wieder vor.

»Bei den Tatortuntersuchungen in Sassnitz sind wir auf eine weitere Leiche gestoßen«, erörterte sie. »Eine Frauenleiche. Die lag dort knapp elf Jahre, und sie wurde erschlagen, wie die rechtsmedizinische Untersuchung ergeben hat. Kai Richardt hat diese Frau gekannt, wie wir inzwischen zweifelsfrei herausgefunden haben.«

Mirjam umschloss ihr Glas mit beiden Händen. »Und? Jede Großstadt hat mehr Einwohner, als es Rüganer gibt. Hier in der Gegend läuft man sich schon mal zufällig über den Weg, erst recht, wenn man geschäftlich unterwegs ist.«

»Ja, schon klar, doch wenn die Zufälle sich häufen, muss man genauer hinsehen. Im Laufe unserer Recherchen sind wir nämlich auf zwei weitere unaufgeklärte Vermissten- beziehungsweise Entführungsfälle gestoßen, bei denen die Möglichkeit eines vorherigen Zusammentreffens zwischen Kai Richardt und den Entführungsopfern mehr als wahrscheinlich ist«, fuhr Romy fort. »Zum einen geht es um eine Frau aus Greifswald, die nicht mehr lebt, zum anderen – das ahnen Sie natürlich längst – um Sie.«

Mirjam Lupak wollte einen Schluck trinken, stellte das Glas aber wieder ab. »Sie glauben, dass er das war – Kai Richardt?«

»Ich halte das aus mehreren Gründen für sehr wahrscheinlich, aber das allein reicht natürlich nicht aus. Wir müssen uns vergewissern, ob die Annahme einer strengen Überprüfung standhält. Sollten unsere Ermittlungen den Verdacht jedoch erhärten, bin ich außerdem davon überzeugt, dass wir das Motiv für den Mord an Richardt haben.«

»Sie meinen – jemand hat ihn getötet, weil er wusste …?«

Romy hob die Hände. »Genau. Jemand hat etwas mitbekommen, zufällig was erfahren, eins und eins zusammengezählt … Wie auch immer. Das wird sich noch zeigen, da bin ich ziemlich sicher.«

»Und was genau wollen Sie nun von mir?«, fragte Mirjam.

»Das können Sie sich denken, oder?«

»Sie beabsichtigen, den ganzen Fall noch einmal aufzurollen?«

»Ich will nur mit Ihnen sprechen. Erzählen Sie …«

»Ich habe alles gesagt«, unterbrach Lupak sie plötzlich mit Hektik in der Stimme. »Es steht alles in der Akte oder ist auf Band aufgenommen. Machen Sie sich da schlau!«

»Frau Lupak …«

Mirjams Kopf schnellte ruckartig vor. »Hören Sie zu, Frau Kommissarin – ich war jahrelang in Therapie wegen dieser Geschichte, und ich brauche immer wieder Unterstützung, weil ich Panikanfälle bekomme! Und Panikanfälle sind etwas sehr Unfreundliches, das dürfen Sie mir glauben. Mein Therapeut bezeichnete sie mal als Seelenkoliken. Das ist ein sehr treffender Ausdruck. Meine Beziehung ist den Bach heruntergegangen. Den kleinen Seelenfrieden, den ich mir erarbeitet habe und um den ich immer wieder kämpfen muss, lasse ich mir nicht nehmen – auch nicht von Ihnen! Das andere Entführungsopfer hat sich damals umgebracht, das wissen Sie doch, oder?«

»Deswegen habe ich keine Wahl.«

»Doch. Haben Sie. Anscheinend spricht ja wohl so einiges dafür, dass dieser Typ es war. Und wenn ihn jemand deswegen zur Strecke gebracht hat, sollten Sie den für das Bundesverdienstkreuz vorschlagen!«

»Und wenn sich herausstellt, dass er es doch nicht war? Könnten Sie nicht viel besser mit all dem abschließen, wenn der Fall endgültig und hundertprozentig geklärt wäre? Könnte das nicht den kleinen Seelenfrieden sogar festigen und wachsen lassen?«

Mirjam verzog das Gesicht. »Schöne Vorstellung, noch schönere Aussicht. Aber können Sie mir für den Fall, dass Kai Richardt als Entführer doch ausfällt, versprechen, dass Sie den wahren Täter finden und dingfest machen? Nach all den Jahren? Oder bleiben die Akten dann eben einfach wieder liegen – bis zum nächsten Mal? Was ist mit meinem kleinen Seelenfrieden, wenn es Ihnen nicht gelingt, endgültig und unumstößlich für Klarheit zu sorgen?«

Gute Frage, dachte Romy. Sie atmete tief durch.

»Sprechen Sie mit der Freundin von Maria Bernburg«, hob Mirjam plötzlich erneut an und trank nun trotz zittriger Hände einen Schluck von ihrem Tee. Sie zog ein Gesicht, als erstaunte sie ihr eigener Vorschlag.

Romy blickte sie gespannt an. »Warum?«

»Die Polizei hat ihren Fall damals wieder aufgerollt oder es zumindest versucht – das habe ich mitbekommen. Ich erinnere mich, wie bei einer Befragung ein Beamter einem anderen gegenüber erwähnte, dass damals kein Abschiedsbrief bei ihr gefunden worden sei«, erläuterte Lupak. »Wenn ich das richtig verstanden habe, war die beste Freundin aber fest davon überzeugt, dass es einen Abschiedsbrief gegeben hatte. Und sie hielt es für mehr als wahrscheinlich, dass der Ehemann den Brief verschwinden ließ – aus Entsetzen und aus Scham.«

»Scham?«

Mirjam nickte. »So gab der Polizist die Worte der Freundin wieder. Sie wissen doch – eine vergewaltigte Frau hat ihre Würde verloren. Und sie kriegt sie nie wieder, egal, wie sehr sie sich anstrengt.«

Romy ballte die Fäuste. »Danke für den Hinweis«, sagte sie leise. »Zwei Fragen noch: Wann haben Sie Tim Beier das letzte Mal gesehen oder gesprochen?«

»Keine Ahnung. Das ist Jahre her.«

»Sind Sie sicher?«

»Natürlich bin ich sicher. Ich bin inzwischen verheiratet, und wie Sie bemerkt haben dürften, liegt mir nichts daran, an alten Zeiten festzuhalten«, erwiderte Mirjam Lupak forsch. »Ihre zweite Frage?«

»Ich muss Sie und Ihren Mann routinemäßig nach Ihrem Alibi fragen und Ihre Angaben auch überprüfen.«

Mirjam zuckte mit den Achseln. »Das ist in dem Zusammenhang mein geringstes Problem. Ben war von Donnerstag bis Sonntagabend auf einer Fachtagung in Stuttgart – mein Mann ist Dozent für Energie und Umwelt an der Fachhochschule Stralsund und hat einen Vortrag im Zusammenhang mit dem Stuttgart-21-Projekt gehalten. Ich habe Samstag bis Mittag gearbeitet und hatte abends Besuch von einer Kollegin, sie heißt Sabine Ruhland. Wir sind essen gegangen.«

»Und wie haben Sie den Sonntag verbracht?«

»Wie die meisten Leute nach einer arbeitsreichen Woche: Ich habe ausgeschlafen und dann liegengebliebene Haushaltsarbeit erledigt, zwischendurch telefoniert, mich auf die Rückkehr meines Mannes gefreut ...«

»Danke, Frau Lupak. Darf ich mich noch mal melden – wenn es wichtig ist?«

Mirjam zeigte ein winziges Lächeln. »Das ist bereits die dritte Frage, und Sie kennen die Antwort.«

 

Tim Beier machte keinen Hehl daraus, dass ihn die Situation irritierte.

»Ich hab doch bereits mit der Kommissarin gesprochen«, sagte er zu Kasper, als sie sich im Vernehmungsraum gegenübersaßen.

»Wir müssen ein Protokoll anfertigen«, gab Schneider lapidar zurück.

Beier schüttelte unwillig den Kopf. »Und dafür lassen Sie mich aus Stralsund abholen?«

»Name, Geburtsdatum, Anschrift, Beruf«, leierte Kasper herunter, nachdem er die Aufnahme gestartet hatte. »Legen Sie los. Umso eher sind wir fertig.«

Beier stöhnte kurz auf und leierte dann die Angaben ebenso gelangweilt herunter. Kasper schmunzelte. »Sie sind also siebenunddreißig Jahre alt? Läuft man in dem Alter noch Marathon?«

»Manche fangen in dem Alter erst an.«

»Ach?«

»Ja. Man braucht viel Erfahrung und Geduld, um mit dieser Distanz klarzukommen, und Ausdauer kann man lebenslang trainieren. Man wird zwar langsamer, aber das macht nichts. Über 42,195 Kilometer alle paar Jahre einige Minuten zu verlieren, ist nicht tragisch, oder? Schon gar nicht, wenn man Hobbyläufer ist.«

»Verstehe.«

Beier setzte ein skeptisches Gesicht auf. »Ich bin aber nicht hier, um die Bergener Polizei in die Feinheiten des Marathontrainings einzuweisen, oder? Dann würde ich Ihnen nämlich glatt ’ne Rechnung schreiben.«

»Nö. Mir schon mal gar nicht. Sagten Sie 42,195 Kilometer? Das ist ja Wahnsinn. Und dann noch diese krumme Zahl. Wer sich so was ausdenkt.«

»Dazu gibt es unterschiedliche Geschichten.«

»Das dachte ich mir. Und am Wochenende waren Sie in Berlin?«

»Ja – Halbmarathon: 21,0975 Kilometer.«

»Gibt es eigentlich auch einen Viertelmarathon? Ausrechnen müssen Sie jetzt aber selbst.«

»Ja, auch in Berlin. War aber nicht meine Idee – ehrlich!«

Damit hatte Kasper nicht gerechnet. Für einen Moment wirkte er perplex. »Wann sind Sie gefahren?«

»Samstagnachmittag. Zusammen mit zwei anderen Läufern, die Ihnen das gerne bestätigen werden. Zurückgekehrt sind wir Sonntag, am frühen Abend.«

»Und wie war Ihr Lauf?«, fragte Kasper und setzte eine interessierte Miene auf. Der Junge war ihm irgendwie sympathisch. Hoffentlich hatte der mit dem ganzen Scheiß nichts zu tun.

»Eine Stunde, achtundzwanzig Minuten und zwölf Sekunden«, erwiderte Beier ohne Zögern.

Kasper war baff. »Sie rennen gut zwanzig Kilometer in nicht einmal anderthalb Stunden?«

»So ist es.«

»Das schaffe ich ja kaum mit dem Rad.«

»Dazu möchte ich lieber nichts sagen, jedenfalls nicht ohne Anwalt.«

Kasper grinste. »Na schön. Ja, schreiben Sie die Namen ihrer Mitstreiter mal auf. Das müssen wir überprüfen. Und zur erkennungsdienstlichen Behandlung müssen Sie auch.«

Beier runzelte die Stirn. »Warum das denn?«

»Reine Routine.«

»Das glaube ich Ihnen nicht. Sie nehmen doch nicht zur Routine meine Fingerabdrücke!«

»Doch, das tun wir.« Kasper zog die Liste mit Richardts Telefonverbindungen aus seinem Ordner. »Sie haben am Freitag mit Kai Richardt telefoniert …«

»Na und? Das kam hin und wieder vor. Ich habe nachgefragt, ob er nicht doch in Berlin laufen würde. Das war alles. Und das habe ich der Kommissarin auch schon am Telefon gesagt.«

»Kai war nicht für den Lauf gemeldet?«, fragte Kasper weiter. »Warum nicht?«

»Er hatte in diesem Jahr keine Lust, das war alles. Er wollte im Frühjahr mehr mit dem Rad trainieren.«

»Das hat er gesagt?«

»Ja.«

»Hat er erwähnt, dass er am Samstag eine lange Tour vorhatte?«

»Kann sein.« Beier hob die Hände und legte die Fingerspitzen aneinander. »Kai hat meistens am Wochenende die langen Einheiten trainiert. Wann denn auch sonst?«

»Wie lange kannten Sie ihn eigentlich?«

»Ich weiß nicht – vielleicht sieben Jahre.«

»Und wann haben Sie ihn das letzte Mal getroffen?«

Beier überlegte kurz. »Vor zwei, drei Wochen schätzungsweise. Kai kam nach Stralsund, und wir haben über die Organisation des nächsten Triathlons gesprochen.«

»Kai Richardt hat Sie in Ihrem Laden besucht?«

»Ja, und das nicht zum ersten Mal. Wollen Sie es ganz genau wissen? Ich habe den Termin noch in meinem Handy gespeichert und suche ihn gerne heraus.«

Er zückte sein Telefon, als Kasper nickte, und öffnete die Kalenderfunktion. »Richtig: Das war am Freitag, dem 18. März. Er kam abends vorbei. Wir sind die Planung durchgegangen und waren dann noch eine Kleinigkeit trinken.«

»Einen Energiedrink?«, ließ Kasper sich hinreißen, in ironischem Ton nachzufragen.

»Apfelsaftschorle ist der beste Energiedrink, den Sie kriegen können, und ab und an ein Bier ist ausgesprochen gesund«, entgegnete Beier, ohne eine Miene zu verziehen. »Noch dazu wenn es ein alkoholfreies ist.«

Kasper hielt alkoholfreies Bier für einen Widerspruch in sich – so wie Süßstoff und Halbfettbutter auch –, aber die Bemerkung verkniff er sich. Er schob Beier Block und Stift hinüber. »Notieren Sie bitte die Namen der anderen Läufer. Dann bringt Sie ein Kollege zum Erkennungsdienst und …«

»Dann kann ich hoffentlich endlich gehen?«

»Nö. Dann hat meine Kollegin noch einige Fragen an Sie.«

Beier sah aus, als wollte er eine patzige Bemerkung machen, schluckte sie dann jedoch im letzten Augenblick herunter.

Kasper lächelte anerkennend. Der Läufer wusste sich zu benehmen.

 

Romy hatte sich gerade einige Stellen der Bandaufnahme von Schneiders Beier-Befragung angehört und sich mit Kasper ausgetauscht, als Fine zur Tür hereinsah.

»Ich mache Feierabend, okay? Es ist schon sehr spät. Der Junge bleibt aber bis zum Schluss – hat er gesagt.«

»Ich nehme an, mit ›dem Jungen‹ meinst du Max Breder?«, vergewisserte sich Romy grinsend.

»Genau den meine ich.« Fine verstand eindeutig keinen Spaß, wenn es um Maximilian ging.

»Ja, mach mal Feierabend«, stimmte Romy zu. »Wir befragen noch mal den Stralsunder Läufer und gehen dann auch. Ach, warte mal: Kannst du mir gleich morgen früh die Bernburg-Akte auf den neuesten Stand bringen? Ich bräuchte auch die Kontaktdaten der besten Freundin des Opfers.«

»Mach ich. Bis morgen, tschüss.«

Romy blickte auf die Uhr. Es war in der Tat schon spät. Kein Wunder, dass sie so müde war.

»Die Lauffreunde bestätigen einhellig die Angaben zur gemeinsamen Fahrt nach Berlin und zurück: Samstagnachmittag war Start in Stralsund, Sonntagabend retour. Ich hoffe, dass der Bursche sauber ist. Netter Kerl«, bemerkte Kasper, während sie durch den Flur ins Vernehmungszimmer gingen. »Bisschen verrückt, was die Rennerei angeht, aber das kann man ertragen. Gibt andere Verrücktheiten, die man nicht so gut ertragen kann.«

»Da gebe ich dir unbedingt recht«, stimmte Romy zu und öffnete die Tür.

Tim Beier hatte bereits Platz genommen und sah ihr entgegen. Ein junger Mann mit schmalem Gesicht, einem Hauch von dunklem Bartschatten und verdammt schönen grau-grünen Augen. Sehr kurzes dunkles Haar. Für einen Mann vergleichsweise kleine Ohren, die ihm etwas Jungenhaftes verliehen.

Romy stellte sich vor und nahm Platz. »Wir haben ja schon telefoniert.«

»Ja, das haben wir. Und ich dachte, es wäre alles klar«, ereiferte sich Beier in vorwurfsvollem Ton. »Ihr Kollege hat mich bereits ewig und drei Tage befragt. Jetzt kommen Sie auch noch dazu. Was soll das eigentlich alles?«

»Erkläre ich Ihnen umgehend.« Sie lächelte.

Er sah ihr direkt in die Augen. »Ich bin gespannt.«

»Ich nehme an, Sie sind mit Chip gelaufen«, mutmaßte Romy in beiläufigem Tonfall.

»Natürlich. Ich hab sogar schon meine Urkunde – die habe ich mir gleich nach dem Zieleinlauf ausdrucken lassen. Ansonsten würde ich jetzt gerne wissen, warum Sie derart auf meinem Alibi herumreiten«, meinte Beier. »Kai war ein guter Bekannter, ein Sportkollege von mir. Was soll ich mit seinem Tod zu tun haben?«

»Das genau ist die Frage.«

Beier tat zunächst amüsiert und schüttelte dann entrüstet den Kopf. »Klingt verdammt albern.«

»Ganz und gar nicht. Wann haben Sie Mirjam Lupak zum letzten Mal gesehen oder gesprochen?«

Tim zuckte zusammen. Die Überraschung war gelungen.

»Das ist ewig her«, sagte er schließlich. »Aber was …«

»Sind Sie sicher? Wir können das mit Leichtigkeit anhand Ihrer Telefonverbindungen überprüfen.«

Beier schüttelte den Kopf. »Was hat Mirjam damit zu tun?«

»Herr Beier, ich stelle hier die Fragen.«

»Was wollen Sie eigentlich? Sie haben gar kein Recht …«

Romy winkte ab. »Mirjam Lupak ist vor gut fünf Jahren entführt worden – eine grässliche Geschichte. Damit erzähle ich Ihnen ja nichts Neues. Wir haben Anlass zu der Vermutung, dass Kai Richardt dahintersteckte.« Sie musterte Beier aufmerksam.

»Wie kommen Sie denn darauf?«, fragte er verblüfft.

Interessant, dass er den Verdacht gegen seinen Laufkollegen nicht vehementer abzuschmettern versucht oder ihn entsetzt als hanebüchene Unterstellung einstuft, dachte Romy.

»Richardt war nicht nur der smarte, charmante, erfolgreiche und allseits beliebte Geschäftsmann und Sportkollege, wie wir mittlerweile wissen«, erklärte die Kommissarin im Plauderton. »Und wenn uns innerhalb weniger Tage, die die Ermittlungen erst laufen, bereits klar wird, dass dieser Mann durchaus kritisch gesehen wurde, ein Problem mit selbstbewusst auftretenden Frauen hatte, einigen Leuten ein Dorn im Auge sowie immer wieder unbeherrscht und jähzornig war, dann dürften Sie doch viel mehr von ihm mitbekommen haben, als Sie uns weismachen wollen.«

»Ich will niemandem was weismachen – außerdem sprechen Sie von einer Vermutung.« Beier winkte lässig ab. »Warum sollte Kai meine damalige Freundin entführen?« Er schluckte. »Die kannten sich doch gar nicht.«

»Doch. Kai hat Mirjam in der Tierarztpraxis gesehen. Seine Firma ist dort tätig geworden. Sie war sein Typ.«

Fast wäre Beier aufgesprungen. Er umfasste die Tischkante.

»Reden Sie nicht so!«, fuhr er die Kommissarin an. »Sie wissen nicht, in welcher Verfassung Mirjam damals war! Ich dachte, sie überlebt das nicht. Aber sie war stark genug, gerade so. Dafür ging unsere Beziehung baden, und wie es manchmal in ihr aussieht, will wirklich niemand wissen.«

»Woher wissen Sie es denn? Ich denke, Sie haben keinen Kontakt zu ihr.«

»Ich vermute, dass es so ist. Als wir uns trennten, ging es ihr verdammt schlecht, und so eine Sache überwindet man nicht … auch nicht nach Jahren. Wahrscheinlich nie.«

Da hat er wohl recht, dachte Romy. »Eine andere Frau, die mit ziemlicher Sicherheit auch ein Opfer von Richardt gewesen ist, hat sich umgebracht, wie Sie wahrscheinlich im Zusammenhang mit Mirjams Entführung damals mitbekommen haben«, erläuterte Romy. »Und eine dritte Frau wurde von Kai erschlagen – nur wenige Meter von der Stelle entfernt, an der er vor wenigen Tagen selbst sein Leben lassen musste.«

Tim Beier starrte sie entgeistert an. Ein Schwall von Mitgefühl durchströmte Romy. Sie versuchte es zu ignorieren.

»Ist das Ihr Ernst?«

»Natürlich.«

»Mein Gott.«

»Herr Beier, die Sache sieht folgendermaßen aus: Wenn ich Ihnen nachweisen kann, dass Sie von Richardts dunklen Geheimnissen Kenntnis hatten …«

»Ja – dann hätte ich ein Motiv, das ist mir klar«, unterbrach Beier sie mit bitterer Stimme. »Natürlich hätte ich das. Und eines sage ich Ihnen: Hätte ich damals erfahren, dass er der Täter war, dann wäre die Sache längst über die Bühne. Ich hätte nicht lange gefackelt, das können Sie mir glauben. Aber jetzt, nach so langer Zeit …«

Er schüttelte den Kopf. »Nein, ich habe nichts damit zu tun. Aber wer immer dafür verantwortlich ist, hat bei mir jederzeit ein Essen frei – lebenslänglich und auf Wunsch auch bei Kerzenschein. Und mir braucht auch niemand Bescheid zu geben, wann Kais Beerdigung ist. Ich ginge höchstens hin, um auf sein Grab zu spucken – natürlich nur für den Fall, dass Ihre Vermutungen zutreffen.«

»Ihre Exfreundin drückte sich ganz ähnlich aus.«

»Mit der haben Sie auch schon gesprochen?«

»Natürlich. Und mit ihrem Mann werden wir auch sprechen und mit Ihrer Freundin, falls …«

»Vergessen Sie es. Ich bin zurzeit Single.«

Romy nickte. »Kommen wir noch mal zurück auf den Chip.«

»Nicht schon wieder!«, entgegnete Beier empört. »Wenn Sie wollen, setzen wir uns an einen PC, ich rufe die Website auf, und wir können anhand meiner Startnummer sofort nachprüfen …«

»Dass ihr Chip unterwegs war – ja. Und?«

Tim Beier starrte sie perplex an. »Sie meinen …?«

»Warum nicht? Irgendein Kumpel trägt Ihren Chip und Ihre Startnummer durch Berlin. Was spricht dagegen, wenn man wirklich unbedingt ein Alibi braucht?«

»Keiner meiner Kumpel läuft diese fantastische Zeit, das ist das eine«, wandte Tim triumphierend ein, nachdem er die Überraschung abgeschüttelt hatte. »Das andere: Unterwegs werden immer wieder Fotos gemacht und ins Netz gestellt, wenn man sich einverstanden erklärt hat.«

»Und? Haben Sie sich einverstanden erklärt?«

»Ja, klar. Ich zelebriere meine Läufe – ist ja auch unter anderem mein Job. Und die Fotos von mir sind klasse, das können Sie mir glauben.«

Romy nickte. Gegen ihren Willen musste sie plötzlich lächeln, und sie spürte Kaspers Seitenblick.

»Wann fiel der Startschuss für die Läufer?«, fragte sie weiter.

»Um elf Uhr.«

»Das ist spät.«

»Stimmt – viel zu spät, zumal es so ungewöhnlich warm war, fünfundzwanzig Grad oder so. Da sind einige umgekippt. Mir macht die Wärme nichts aus. Kälte übrigens auch nicht.«

»Freut mich für Sie. Demnach mussten Sie also spätestens gegen halb elf im Startbereich sein«, überlegte Romy. »Wie lange braucht man für die Strecke Berlin—Stralsund? Drei Stunden höchstens, oder? Noch dazu in aller Herrgottsfrühe. Das hätten Sie locker schaffen können.«

Tim Beier sah aus, als würde er Romy am liebsten einen Vogel zeigen. »Was soll denn der Quatsch? Ich denke, Richardt ist am Samstag verschwunden? Das stand zumindest in der Zeitung.«

»Ja, das ist richtig, aber er starb erst am Sonntagmorgen. Zeitlich kommt das ganz gut hin. Und bevor Sie sich wieder über meine insistierenden Fragen aufregen: Wenn die Suche auf dem Hafengelände und die kriminaltechnischen Untersuchungen abgeschlossen sind, wird man, falls Sie dort gewesen sind, Spuren von Ihnen finden. Dazu reicht ein einzelnes Haar, ein Fußabdruck, Kaugummi …«

Romy trug ein bisschen dick auf, denn auf dem Gelände gab es so viele Spuren, dass die Techniker Monate dort zubringen müssten, um jedes Detail eingehend zu prüfen. Doch das musste sie Beier nicht unter die Nase reiben.

»Ich hasse Kaugummi, und ich war in Berlin«, sagte er ruhig. »In einem kleinen Hotel in Mitte – Adresse schreibe ich Ihnen auf. Um halb acht haben wir alle zusammen gefrühstückt, danach ein paar Entspannungsübungen gemacht und uns umgezogen. Gegen halb zehn Uhr sind wir aufgebrochen. Und ansonsten will ich jetzt gehen.«

»Das ist mir klar. Übrigens, nur so am Rande: Kai Richardt wurde übel verprügelt …«

»Mir kommen gleich die Tränen – wie gesagt: falls Ihre Vermutungen stimmen.«

»Daran ist er aber nicht gestorben.«

Interesse blitzte in seinen Augen auf. Er verschränkte die Hände ineinander.

»Jemand hat ihn halbtot geschlagen, aber eben nur halb. Richardt hat erst einen Tag später, nämlich am frühen Sonntagmorgen, einen Schlag auf den Kopf bekommen, den er nicht überlebte«, fuhr Romy fort. »Wir haben den Eindruck, dass es jemand ganz spannend machen wollte: Richardt wird überwältigt, als er in das abgelegene, alte Gebäude hinter der Fischfabrik geht. Er wird massiv verprügelt und dann gefesselt zurückgelassen. Vielleicht sollte der Mann Gelegenheit erhalten, über all seine Missetaten nachzudenken. Was meinen Sie?«

Sie wartete, aber Beier sagte nichts dazu.

»Einen Tag später taucht der Entführer wieder auf – das erhöht die Spannung – und gibt ihm den Rest«, erläuterte Romy weiter. »Am Abend ruft er anonym die Polizei an. Kai Richardt sollte gefunden werden. Ich halte das für einen sehr wichtigen und höchst interessanten Aspekt, zum Beispiel auch hinsichtlich der Tatsache, dass der Entführer und Mörder sich verdammt sicher fühlt.«

Beier zog die Schultern hoch, aber Romy nahm ihm die Gelassenheit nicht ab. Er war deutlich angespannt.

»Herr Beier, wir haben Ihre Stimme auf Band und werden sie prüfen«, erklärte die Kommissarin. »Auch wenn der Anrufer seine Stimme verstellt hat – charakteristische Merkmale lassen sich dennoch herausfiltern und taugen zum Vergleich.«

»Wie schön. Kann ich jetzt gehen?«

»Ja. In den nächsten Tagen müssten Sie das Protokoll der Befragung unterschreiben.«

»Ich kann es kaum abwarten.«

»Das dachte ich mir.« Sie lächelte.

»Also, ich glaube ihm«, sagte Kasper, als Beier aus der Tür war.

Und ich würde ihm gern glauben, dachte Romy. Ihr schwirrte der Kopf, und ein leichter Schwindel machte ihr zu schaffen, als sie gemeinsam nach vorne gingen, wo Max Breder bereits auf sie wartete.

»Die haben Zeit bis morgen«, sagte Romy erschöpft und drückte ihm die Vernehmungsbänder in die Hand. »Wir machen Feierabend.«

»Aber eine zeitnahe Datenauswertung …«

»Morgen früh ist zeitnah genug. Dann kriegst du auch meine Notizen zum Gespräch mit Mirjam Lupak. Der Tag war ereignisreich genug. Und viel zu lang.«