DER LIEBESCLUB

 

Ich habe immer noch nicht die Liebesromane aus der Bücherei geholt. Und jetzt muss ich nach Hause, Mama und Fruchtzwerg warten. Sie warten auf Jo, genannt Felix, weil Felix Mittag essen soll.

Mama sagt, ich müsse mal wieder mein Zimmer aufräumen. Bis vier Uhr. Aufräumen mit Zeitangabe ist bei Mama absolute Alarmstufe und die Ausweichmanöver müssen dann umso geschickter gewählt werden.

»Warum kommen Sachen überhaupt durcheinander?«, frag ich.

»Weil du sie durcheinander bringst«, antwortet Mama völlig cool, »und weil man von Zeit zu Zeit dieses Durcheinander wieder in eine Ordnung bringen muss.«

»Woher kommt es aber, dass Sachen von selbst durcheinander kommen, aber nie von selbst in Ordnung kommen?«

»Schwierige Frage«, sagt Mama, »aber von selbst in Unordnung kommen sie ja wohl nicht. Denn wenn keiner in deinem Zimmer ist, kommt seltsamerweise auch nichts durcheinander. «

»Trotzdem ist da aber ein Unterschied... Irgendwie kommen Sachen nämlich eher in Unordnung als in Ordnung.«

Jetzt wird’s schwierig. Ich kratz mich am Kopf, ich ruckel an meiner Brille. Das tu ich immer, wenn ich angestrengt über etwas nachdenke.

»Was ist eigentlich Ordnung?«, frage ich Mama.

Mama überlegt kurz. »Bei Ordnung hat jedes Ding seinen Platz«, sagt sie.

»Jetzt hab ich’s«, sag ich, »und bei Unordnung hat jedes Ding viele Plätze, hundert Plätze, tausend Plätze, und das ist der Unterschied. Wenn ich aufräume, tu ich also jedes Ding an >seinen< Platz.«

»Ja, weil es nämlich bei Unordnung hier und da und dort sein kann.«

»Und wer legt den Platz für jedes Ding fest?«, frage ich.

»Der Besitzer«, sagt Mama.

»Und wenn der Besitzer sagt: Meine Unordnung ist jetzt meine neue Ordnung. Mein Schlafanzug muss vorm Bett liegen, meine schmutzige Wäsche sammel ich ab jetzt auf dem Fußboden, Blätter für meine Schulmappen lasse ich am ordentlichsten lose in der Tasche...«

»Das kannst du zwar sagen«, fällt Mama mir ins Wort, »aber jetzt räumst du auf. Und zwar stellst du deine alte Ordnung wieder her.«

»Mist.«

»Mist hin, Mist her«, sagt Mama, »in einer Stunde ist aufgeräumt.«

Ich ergebe mich. Hat ja doch keinen Sinn, mit Mama über so was zu diskutieren. Vor allem muss ich verhindern, dass Mama meine Wurmkiste findet und mein Tagebuch. Außerdem wollte ich noch nachsehen, wie die Würmer sich entwickelt haben. Aber dafür bleibt jetzt keine Zeit. Nur weil meine Mama ein ausgesprochener Aufräumfanatiker ist. Fanatiker sind Menschen, die nur das im Kopf haben, was sie gerade wollen. So wie Flo, der ist ein Liebesfanatiker.

Während ich aufräume, kommt mir eine Idee.

Flo und ich könnten doch einen Liebesclub gründen. Aufgenommen werden nur echte Verliebte, solche, die es werden wollen, und auch welche, die sich grundsätzlich für Liebe interessieren. Wir könnten da zum Beispiel eine Kartei anlegen mit verschiedenen Typen von Liebesbriefen, wie ein Junge ein Mädchen anspricht, wie ein Mädchen einen Jungen anspricht.

In unserem Liebesclub könnten wir außerdem noch folgende Fragen gemeinsam herauskriegen:

 

1. Was fühlt man, wenn man liebt? Im Kopf, im Bauch, in den Füßen?

2. Wie fühlt sich das an? Im Kopf, im Bauch, in den Füßen?

3. Woran merkt man das? Im Kopf, im Bauch, in den Füßen?

4. Was tut man, wenn man zum ersten Mal zusammen ist? Händchen halten...

5. Wann küsst man und wie? Küsse üben im Kussheft! Mit Lippenstift. Augen zumachen beim Küssen! Dann kann man sich bestimmt besser konzentrieren. Üben!

 

Weitere Fragen:

Wie soll eine Freundin sein?

Wie soll ein Freund sein?

Kann man sich bestimmte Briefe auch von

anderen schreiben lassen?

Was sagt man, wenn man anruft?

Warum fühlt man sich so elend, wenn man Liebeskummer hat?

Was ist Liebeskummer? Was gehört alles dazu?

Ich werde mir noch ein neues, extradickes Liebesheft zulegen und es dann für den Anfang unserem Liebesclub zur Verfügung stellen. Vielleicht werde ich auch Stellen aus den Liebesromanen kopieren, die ich noch ausleihen will.

Aber Hilfe, ich muss aufräumen. In einer Viertelstunde muss alles erledigt sein, nicht nur, weil Mama sicher kommt und guckt, sondern auch, weil ich noch Hausaufgaben machen muss (heute in Schnellform) und dann zu Flo will, um ihm bei seinen Vorbereitungen zum ersten Viola-Treffen zu helfen. Das tut man so für einen Freund.

Wohin stelle ich mein Liebesheft? Neben das Kussheft und Erfinderheft und Einschlafheft.

Jetzt aber die Hausaufgaben. Schnellform.

Einen Hausaufgabenclub sollte man übrigens auch gründen. Zusammen mit der Gedankenübertragungsmaschine wäre das super. Wo man Erfahrungen austauscht und dann über Fragen nachdenkt. Solche zum Beispiel:

 

1. Wie mache ich Hausaufgaben am schnellsten?

2. Wann und wie behalte ich was am besten?

3. In welcher Reihenfolge muss ich Hausaufgaben machen? Gibt es da Unterschiede? (Einen Unterschied habe ich schon festgestellt: Wenn ich zwei Sachen auswendig lerne, darf ich das nicht direkt hintereinander. Dann behalte ich das Erste nicht so gut. Flos Mutter hat da Ahnung. Die hat mir das erklärt. Es gibt ein Kurzzeitgedächtnis, hat sie gesagt. Das ist wie ein kleiner Flur, der zum richtigen Gedächtnis führt. Wenn man etwas gelernt hat, kommt es also in diesen Flur. Und während man etwas anderes macht, zum Beispiel Matheaufgaben lösen, während dieser Zeit sickert das Gelernte langsam vom Flur ins Gedächtnis und der Flur wird langsam wieder leer und frei für etwas Neues. Gut, dass Flos Mutter mir das erklärt hat. Ich finde es nämlich besser, wenn man weiß, was man macht.)

Aber jetzt muss ich anfangen.

Schnellform bei Hausaufgaben bedeutet: Alles in Windeseile runterschreiben. Nur an den Stellen nachdenken, wo es wirklich erforderlich ist. Aufsätze in Kurzform bringen. Vokabeln dreimal laut nachsprechen und dabei wirklich dran denken. Schon sind sie im Hirn! Hefte zu. Eben alles überdenken. Tasche zu. Fertig.

Schnellform mache ich viermal in der Woche, einmal mache ich ein bisschen langsamer und übe dabei. Viermal Schnellform trainiert und tut gut. Meinem Kopf und meiner Zeit!

Jetzt muss ich zu Flo. Möglichst unauffällig aus dem Haus schleichen, denn manchmal kommt Mama auf die Idee, sich meine Haus-aufgaben-Schnellform genauer anzusehen. Und dann ist sie kaputt, die Schnellform. Und ich muss wirklich weg.

Ich renne den ganzen Weg zu Flo. Er ist im Badezimmer. Das ist ein schlechtes Zeichen.

Als ich sein Zimmer betrete, bekomme ich eine Ahnung davon, was los ist. Seine ganze Kleidung liegt vor dem Schrank auf dem Fußboden.

»Ich habe nichts anzuziehen!«, murmelt er, als er aus dem Badezimmer kommt.

Ach du lieber Schwesternschreck! Flos Haare sehen grauenhaft aus: Wachs? Gel? Schaum? Oder etwa alles auf einmal?

»Die Jeans passt mir nicht mehr«, jammert Flo, »die Haare stehen nicht, der Pullover ist verwaschen...« Flo ist den Tränen nahe.

Zuerst müssen die Haare in Ordnung gebracht werden. Wir verbarrikadieren uns im Bad.

 

Nach fünf Minuten klopft Flos kleine Schwester Anna. »Ich muss ganz nötig.«

»Geh nach unten!«

»Will ich aber nicht!«

»Es geht aber jetzt hier nicht!«

Schließlich schreit Anna so laut, dass ich mich erbarme, während Freund Flo mit nassen Haaren über dem Waschbecken hängt. Wir haben noch exakt 45 Minuten. Anna schreit, Anna nervt total. Aber wenn Anna so laut schreit, dass seine Mama kommt, dann muss Flo mit absoluter Sicherheit noch sein Zimmer aufräumen. Und das schafft selbst ein echter Verliebter nicht mehr. Auch nicht, wenn ihm sein Kumpel dabei hilft.

Ich nehme Anna an die Hand. Anna strahlt mich an. Anna ist drei Jahre alt, fast wie Kitty. Solche Fruchtzwerge mag ich ja. Wir gehen zur Gästetoilette. Anna setzt sich seelenruhig drauf.

»Jetzt pielen«, strahlt sie dann.

Hilfe, was mache ich jetzt? Blitzschnell durchkreuzen verschiedenste Gedanken mein Hirn.

»Morgen, Anna«, sag ich. Morgen hab ich nämlich Mama versprochen, auf Kitty aufzupassen. Einmal pro Woche ist Kitty-Nachmittag und Mama hat frei. Und dann kann ich mit Kitty kommen, die beiden spielen und ich kann mit Flo zusammen sein. Der Trick ist gut.

Anna strahlt. Die Kleinen sind schon lieb und schnuckelig. Und eigentlich freue ich mich auf morgen.

»Noch einmal schlafen«, sag ich zu Anna. Das sagt man so bei kleinen Kindern, wenn etwas einen Tag später ist.

Anna dampft ab. Sie würde am liebsten sofort anfangen zu schlafen.

Jetzt muss ich aber zu Flo. Hoffentlich hat der nicht wieder eine neue Paste in seine Haare geschmiert. Aber was sieht mein entzündetes Auge!

Flo hat eine Haarsträhne in der Hand. Das viel Schlimmere ist: Die Haarsträhne fehlt ihm vorne am Pony. Nämlich da, wo Flo sonst seinen, ehrlich gesagt nicht gerade dekorativen, Wirbel hat, genau da hat er sich ein flaches Plateau geschnitten. Von der Seite sieht sein Kopf jetzt aus wie eine Sprungschanze. Fast hätte ich es gesagt. Aber ich sage es lieber nicht, denn vielleicht kann ich die Stelle beim Föhnen noch ein bisschen hocharbeiten und retten, was noch zu retten ist.

Flos Mutter klopft. Sie ist eingeladen. Sie will sich schminken.

»In zehn Minuten«, ruf ich durch die Badezimmertür.

»Einverstanden, aber wirklich in zehn Minuten. Was macht ihr zwei denn da eigentlich?«

Solche Fragen stören einen echten Verliebten. Und wie! Und auch seinen Kumpel. Zumal Flo jetzt gerade eine Krise bekommt. Ach du lieber Schwesternschreck!

Er hockt auf dem Klo, legt den Kopf auf die angezogenen Knie, schaut hoch in den Spiegel und flüstert: »Ich glaube, ich gehe doch nicht.«

Wenn ich das Ganze nicht schon von meiner älteren Schwester Tutti und ihrem Dödel kennen würde, würde ich jetzt verzweifeln. Aber Mama hat mir damals erklärt, dass man, wenn man verliebt ist, andauernd etwas anderes will. Einmal freut man sich, fühlt sich total gut, weil man sicher ist, dass der andere einen mag. Und dann sinkt man wieder ab, ist total traurig, findet sich hässlich, unfreundlich, wertlos, einfach wie der letzte Mensch. Das Leben geht dann auf und ab wie eine Achterbahn.

Jetzt könnte ich Flo prima mit meiner Gedankenübertragungsmaschine beruhigen. Das wäre was!

»Mensch, Flo«, sag ich, »die hat doch sofort Ja gesagt. Hast du das denn nicht gemerkt? Das sah doch fast so aus, als hätte sie nur darauf gewartet.«

»Echt?«, fragt Flo.

»Mensch, Kumpel!« Ich box ihn in die Rippen. »Du warst doch selbst dabei!«

Da richtet sich Flo wieder auf. Langsam. Am liebsten würde ich zaubern. Und ich tu es auch heimlich und ganz leise: »Zicke, zacke, bum, die Krise ist um.«

Und es nützt! Gut! Ein neues Kapitel Jo-und-Flo-Geschichte kann beginnen.