SCHWESTERNSCHRECK

UND LIEBESBRIEFE

 

Es klopft. Da kommt Flo. Zu unserer ersten Beratungsstunde. Als Flo im Zimmer ist, schließe ich die Tür und klappe mein Türschild Nr. 11 aus:

 

Geheime Beratung
Stören verboten
Topsecret
Wer stört, wird unter Arrest gestellt!

 

Der zweijährige Fruchtzwerg stört übrigens am allermeisten. Der Fruchtzwerg ist Kitty. Das ist ja klar. Weil sie noch nicht lesen kann, hab ich für sie extra ein Schild mit Totenkopf gemacht. Wenn sie stört, kommt sie auf den Balkon unter Arrest. Aber auch lesende Mütter können geheime Beratungen ganz schön stören. »Topsecret« ist übrigens echt englisch und heißt »streng geheim«.

Flo hat zwei Hauptprobleme.

Das erste: Woher weiß Flo (ganz sicher), dass er verliebt ist? Dafür drück ich ihm meinen Fragebogen in die Hand. Er hat elfmal Ja. Er weiß nur noch nicht, ob sie ihn auch mag.

Das zweite Problem: Wenn es wirklich stimmt, dass er verliebt ist, wie sagt er es ihr? Sagt er es direkt? Schaltet er einen Vermittler ein? Schreibt er einen Brief? Kurz gesagt: Wie kommt er an sie ran?

Wir eröffnen eine Denkclubsitzung. Flo und ich, wir haben nämlich einen Denkclub gegründet, und wir eröffnen unsere Sitzungen immer mit: »Zicke - Zacke - Bam, jetzt fängt die Sitzung an!« Und wenn die Sitzung zu Ende ist, sagen wir: »Zicke - Zacke - Bum, die Sitzung ist jetzt um!«

Wir wenden uns nun dem zweiten Problem zu.

»So ein Brief«, sagt Flo und kratzt sich am Kopf, »ist ganz schön kompliziert.« Und er hat auch Beweise dafür mitgebracht: Briefe aus dem Sekretär seiner Mutter, die er sich nur mal ausgeliehen hat. Er will sie sofort nach Gebrauch zurückgeben. Er zieht ein ganzes Bündel aus der Tasche.

»Was schreibt man, wenn man sie mal küssen möchte?«, frag ich.

Da wird Flo ein bisschen wütend. Er haut mir eine. »Du bist vielleicht bescheuert«, sagt er, »meinst du, man fängt sofort an zu küssen?«

»Vielleicht«, sag ich.

»Du bist bescheuert«, sagt Flo und will gehen, aber ich versperre ihm den Weg.

»War doch nicht so gemeint.«

»Gut«, sagt er, »dann bleib ich. Und wir schreiben einen Brief.«

»Einverstanden«, sag ich. Ich bin ja schließlich Flos Oberberater. Oberliebesberater.

Wir vereinbaren das mit Handschlag. Das tun wir, seitdem wir Blutsbrüderschaft geschworen haben nach unserer ersten großen Erfindung. Nach der Erfindung der Alarmanlage Schwesternschreck.

Flo macht jetzt das Briefbündel mit den Liebesbriefen von seinem Papa auf.

»Sehr verehrtes Fräulein Magnus«, steht da.

»Sehr verehrtes...« Ich biege mich vor Lachen und frage: »In welchem Jahrhundert hat dein Papa sich denn verknallt?«

Da ist Flo beleidigt. »Du hast aber auch gar keine Ahnung«, sagt er ganz streng und faltet den Brief hastig wieder zusammen. Er will schon wieder gehen. Seufz.

»Nicht gehen!«, sag ich zu Flo. »So einen Brief kannst du doch wirklich nicht schreiben.«

Das sieht er ein. »Aber trotzdem sollst du nicht so doofe Sachen sagen.«

»Schon gut«, murmel ich. »Also: >Sehr verehrtes Fräulein< können wir nicht schreiben. Das steht schon mal fest. Dann schreiben wir eben: Jemand liebt dich. Und der, der dich liebt, will sich um 17.00 Uhr mit dir hinter der Schule bei den Fahrradständern treffen! <«

»Jemand liebt dich, jemand liebt dich...< Das kannst du doch nicht sagen.« Flo ist ganz aufgeregt. Er tippt sich an die Stirn. »Du bist doof.«

Jetzt bin ich zur Abwechslung beleidigt. Aber ich bin ja schon zu Hause. Ich kann also nicht einfach nach Hause rennen, nur weil ich beleidigt bin. Also gehe ich auch nicht, hole stattdessen zwei weiße Blätter Papier, drücke Flo einen Stift in die Hand und sage: »Jetzt schreibt jeder erst mal für sich einen Brief und dann schauen wir uns beide Briefe an. Abgemacht?«

»Abgemacht.«

Wir geben uns die Hand, wie Blutsbrüder das tun, dann setzt Flo sich links, ich mich rechts an meinen Schreibtisch und wir kauen auf unseren Bleistiften herum.

»Schwer«, seufzt Flo und schreibt ein Wort oben auf sein Blatt.

»Verteufelt schwer«, sage ich.

Nach zehn Minuten sind beide Blätter noch leer! Flo hat nur das Wort »Brief« da stehen. Wir müssen schrecklich lachen und uns etwas anderes ausdenken.

»Dichten«, sagt Flo. Aber Dichten ist auch nichts. Gedichte kann man nicht so auf Befehl schreiben. Das merken wir. Unsere Bleistifte sind schon fast abgekaut und unsere Blätter sind immer noch leer.

»Telefonieren«, sag ich.

»Schwer.« Flo kratzt sich am Kopf.

»Aber probieren können wir es doch. Hast du die Nummer?«

Flo kann die Nummer schon auswendig.

Ich wähle.

Flo hält den Hörer in der Hand. Er sagt sich einen Satz auf. Immer wieder. Seine Lippen bewegen sich, aber verstehen kann ich ihn nicht.

»Hallo, hier Viola Jarusch.«

Flo hält den Atem an. Flo öffnet den Mund. Flo schweigt.

»Wer ist da?«, fragt Viola.

Flo öffnet den Mund. Flo atmet schwer. Flo schweigt.

»Hallo, hallo, ist da jemand?«

Flo schließt die Augen. Flo öffnet den Mund. Flo schweigt. Flo legt den Hörer auf.

»Geht nicht«, sagt er.

Wir schweigen. Wir denken.

»Warum gehst du nicht einfach zu ihr und sagst: Du, ich will dich zu einem Eis einladen.«

»Weil das nicht geht.«

»Und warum nicht?«

»Weil das zu wenig sagt.«

»Dann sag doch: Du, ich glaub, ich lieb dich. Ich will dich kennen lernen.«

»Das geht auch nicht.«

»Und warum nicht?«

»Darum. Einfach darum. Weil man Angst hat, dass sie einen nicht mag, und dann ist es aus.« Flo wird ganz rot und ernst.

»Und warum ist es dann aus?«

»Weil...« Er überlegt. »Weil... ach, das verstehst du nicht. Weil man halt immer dran denken muss. Auf dem Schulweg, zu Hause, beim Frühstück, beim Einkaufen, immer.«

»Und dann ist dieses immer weg?«

»Ja, dann ist es weg.«

»Ich glaube, ich verstehe. Wenn bei mir das immer weg wäre, dann würde ich auch nichts riskieren.«

Aber eins versteh ich noch nicht. »Warum kann man nicht schreiben: Du, ich glaube, ich mag dich. Ich möchte dich kennen lernen? Eigentlich ist das doch das Ehrlichste.«

»Nein«, sagt Flo, »es geht nicht.«

Schließlich entwerfen wir vier Typen von Liebesbriefen.

 

Typ 1 sieht so aus:

Willst du mit mir gehen?

Ja

Nein

Zutreffendes ankreuzen.

Unterschrift:................

Dieser Brief ist natürlich ganz neutral.

 

Typ 2:

Du, ich würde mit dir mal gerne ein Eis essen. Kommst du um fünf Uhr in die Eisdiele?

Bei diesem Brief bleibt alles offen. Man sagt nichts über den Grund und über die eigenen Gefühle.

 

Typ 3:

Du, ich glaube, ich mag dich. Ich möchte dich kennen lernen.

Der ist ehrlicher und offener. Der sagt auch etwas über die Gefühle aus.

 

Typ 4:

Ich mag dich, seitdem ich dich zum ersten Mal gesehen habe. Ich mochte es nur nicht sagen. Aber jetzt sag ich es, weil ich gerne mit dir gehen möchte.

Der Brief legt alles offen.

 

Flo entschließt sich für Typ 2.

Das Ganze auf einem einfachen weißen Briefbogen. Danach werfen wir gemeinsam den Brief in den Briefkasten. Mal sehen, was draus wird.

 

Als Flo nach Hause gegangen ist, nehme ich mein Tagebuch und schreibe alles auf, was heute war. Ich schreibe es auf rosa Seiten. Die klebe ich ein. Auf rosa Seiten kommt alles, was mit Liebe zu tun hat.

Hoffentlich muss ich nicht bald schwarze Seiten nehmen, Trauerseiten. Schwarz und Rosa, Liebe und Trauer. Das alles liegt sehr nah beieinander. Das hab ich schon gemerkt.

Ich nehme mein Kussheft heraus. Darin haben Flo und ich Küssen geübt mit Mamas Lippenstift. Ich drehe es um und schreibe auf die Rückseite: »Liebesheft«. Das passt ganz gut zusammen: Liebe und Küssen.

Das Erste, was ich in mein Liebesheft schreibe: »Es ist ganz schön kompliziert, einen Liebesbrief zu schreiben. Auf jeden Fall den ersten. Weil jeder da die Angst hat, dass der andere ihn nicht mag. Und weil man dann den oder die, an die man immerzu gedacht hat, verliert. Für immer. Und trotzdem. Trotzdem ist es besser, von den Gefühlen zu reden, auch, wenn man vielleicht ausgelacht wird.«

Und in mein Tagebuch schreibe ich: »Das Leben ist manchmal ganz schön gestreift: schwarz und weiß. Eigentlich ist Liebe ja was sehr Schönes, aber wenn man sie nicht rüberbringt, kann sie einen ganz dunkel und traurig machen.« Und dahinter schreibe ich: »P S: Morgen geh ich vielleicht zur Stadtbücherei und hole mir Liebesromane. Liebe ist ganz schön spannend.«

Aber wahrscheinlich geben die mir die Liebesromane wieder mal nicht. Alles, was wirklich spannend und interessant ist, ist nur für Erwachsene. Nur das, was mindestens schon hundertfach erprobt und dabei natürlich völlig abgelutscht ist, das ist was für Kinder und das dürfen dann alle ab fünf mitnehmen.

Ich finde, Erwachsene nehmen Kinder oft nicht richtig ernst. Vor allem nicht ihre total starken Gefühle. Vielleicht weil sie selbst sich nichts Starkes erlauben. Das hab ich übrigens von Toto. »Gefühlszwerge« hat der zu Erwachsenen gesagt.

Bevor ich schlafe, muss ich noch meine Würmer füttern. Die sind in meiner Wurmkiste, und die ist natürlich völlig geheim. Ich habe sie in meinen Bettkasten eingebaut, oben Löcher reingemacht, mit Erde gefüllt und vierzehn Würmer eingefüllt. Weil noch Winter ist, fütter ich sie mit Blättern von Mamas Zimmerlinde. Die werden zerschnipselt und in die Erde gehoben mit einem großen Löffel. Ich will herauskriegen, ob das wirklich stimmt, was

Flo gesagt hat, dass Würmer sich rasend schnell vermehren. Dann müsste ich nämlich bis zum Frühjahr meinen ganzen Bettkasten voller Würmer haben. Damit würde ich dann am Anglerufer einen Stand eröffnen und sie für fünf Cent das Stück verkaufen.

 

Offene Fragen, die noch bleiben:

 

1. Wie kommen neue Blätter an Mamas Zimmerlinde? Sie jammert schon. Aber ich habe gesagt: »Jeder Baum hat mal einen Herbst.«

»Stimmt«, hat sie gesagt, »aber im Herbst verschwinden die Blätter nicht einfach, sondern fallen ab.«

Ob Mama etwas merkt?

2. Fressen Würmer Tagebücher, die hinter Bettkästen versteckt sind?

3. Leben meine Würmer eigentlich noch?

 

Morgen will ich das alles nachgucken und überlegen. Für heute habe ich genug gedacht.