KLAR!

 

Wir müssen Flos große Liebe übrigens völlig geheim halten, weil in der Klasse die meisten Jungen Mädchen saublöd finden. Schon seit der zweiten Klasse ist das so. Die spielen dann immer Weiberärgern. Weiberärgern ist, wenn man von weitem etwas Böses hinter den Mädchen herruft. Weiberärgern ist auch An-den-Haaren-Ziehen. Als Mama mal mitbekam, dass wir Weiberärgern machen, machte sie mit mir Jochenärgern. Ich musste einen ganzen Nachmittag in meinem Zimmer bleiben und über Weiberärgern nachdenken. Obschon das sonst gar nicht Mamas Art ist. Aber Mama wollte mir zeigen, dass Weiberärgern ganz doof ist. Mama hat auch mit mir darüber gesprochen. Aber wenn die anderen das alle machen? »Trotzdem«, hat sie gesagt. »Das geht nicht. Wenn die anderen vom Dach springen, springst du ja auch nicht hinterher.«

Aber es ist doch ganz schön blöd. Wenn wir nämlich jetzt sagen, wir finden Mädchen gut, dann sind die Jungen sicher stinkesauer auf uns. Das ist dann wie ein Verrat an den anderen Jungen. Flo und Jo, genannt Felix, halten nicht zu ihnen.

Dabei wäre das doch viel ehrlicher. Aber Flo wäre dann der Weiberheld, würde gemieden und ausgelacht. So ähnlich, als wenn er Spitzentanz machte und Ballett. Das stört einen echten Verliebten. Weil’s dadurch noch schwieriger wird. Dabei ist Liebe allein ja schon verdammt schwierig.

»Ich bin bestimmt nicht der Einzige, der verliebt ist«, flüstert Flo mir in der nächsten Stunde zu. »Aber der Einzige, der’s am liebsten sagen würde.«

Da bin ich nicht so sicher!

»Die wollen doch bloß cool sein!«, sagt Flo.

Gefühle sind nicht angesagt. Auf jeden Fall nicht für einen Jungen. Der lässt tolle Sprüche ab, tut, als wenn nichts wäre, und alles, was er darf, ist zu den Weibern rüberzuschielen. Und überlegen, welche er am besten findet.

Da liegt auf einmal eine Wimper vor mir auf dem Tisch. Ich schenke sie Flo. Wenn man eine Wimper vorsichtig vom Handrücken fortbläst, dann darf man sich etwas wünschen. Man darf es aber nicht verraten, denn sonst geht es nicht in Erfüllung.

Flo bläst. Er wünscht sich etwas. Ich weiß, was er sich wünscht. Ob es trotzdem wirkt? Ob es dann auch in Erfüllung geht? Ich bin nicht sicher. Auf jeden Fall ist die Wimper fort und das Glück kann kommen. Das ist was für echte Verliebte und auch für ihre Kumpels.

 

Im Textilunterricht stößt Flo mich plötzlich an. »Könntest du nicht Werber spielen für mich?«

»Wie bitte?«, möchte ich fragen oder eher: »Was ist denn ein Werber?«

Aber da guckt die Mücke mich scharf an, weil ich seit zehn Minuten nicht mehr die Häkelnadel bewegt habe. Die Mücke, unsere Textillehrerin, ist ziemlich großzügig. Aber sie achtet darauf, dass alle recht geordnet auf ihren Plätzen sitzen und der rechte Arm - es kann auch der linke sein, das ist der Mücke egal -, dass dieser Arm auf jeden Fall von Zeit zu Zeit zu einer Bewegung ausholt, die zur Herstellung einer Luftmasche oder bei Könnern zur Herstellung weiterer hochkomplizierter Maschenmuster dient. Fehlt diese regelmäßige Bewegung, merkt die Mücke das. Leider. Ich häkel also wieder.

Flo und ich sind übrigens nur deshalb im Häkelunterricht, weil Flo, dieser Wahnsinnsknabe, bei den Mädchen sein wollte. Wir konnten nämlich wählen zwischen Werken und Textil. Ich hätte lieber Werken genommen, obschon ich da auch kein Weltmeister bin. Aber Flo meinte, da wäre wirklich mal Gelegenheit, mit Mädchen zusammen zu sein, ohne ausgelacht zu werden, und sie »intensiv zu beobachten«. (Der Ausdruck stammt wahrscheinlich wieder von seinen Eltern.)

Und jetzt häkeln wir. Flo häkelt Topflappen, ich häkel Luftmaschenschnüre. Ich will Papa eine schenken, damit er die Briefe auf seinem Schreibtisch damit zusammenbinden kann. Eine in Rosa für die schönen und eine in Schwarz für die verhassten Briefe. Mama soll eine gehäkelte Hundeleine bekommen, wahrscheinlich in Naturfarben. Mama wünscht sich nämlich so sehr einen Hund. Dann hat sie wenigstens schon mal eine Leine. Mit automatischer Aufwicklung soll die sein. Die muss ich aber noch erfinden. Bis Weihnachten schaff ich das bequem. Das ist was für einen echten Erfinder. Und Kitty bekommt ein gehäkeltes Armband, dann hat der Häkelunterricht echt seine Dienste getan. Ich hab bestimmt schon so viel gehäkelt wie von der Schule nach Hause. Ich kann eigentlich den Anfang meiner Schnur zu Hause lassen und in der Schule einfach weiterhäkeln. Auf dem Rückweg muss ich die Häkelsachen bloß wieder aufrollen.

Flo stößt mich an. »Toll, dass du den Werber machst!«

»Was mach ich?«

»Den Werber, du hast doch gerade eben Ja gesagt.«

»Ja, aber nur, weil die Mücke geguckt hat. Was ist denn ein Werber? Das muss ich erst mal wissen.«

»Ein Werber ist praktisch ein Liebesvermittler«, sagt Flo, »der geht zu den Mädchen, zu Viola« - und Flos Augen leuchten - »und fragt: Willst du mit Flo, meinem Freund, gehen?«

»Und warum macht Flo, mein Freund, das nicht selbst?«, frage ich.

»Weil...« Flo stottert, Flo überlegt. »Das war doch immer schon so: im Märchen, in Büchern und bei den Rittern.« Er bekommt dabei einen ganz roten Kopf.

»Ich bin aber weder im Märchen, noch bin ich ein Ritter.«

Doch Flo hört gar nicht hin. Er lauscht nur gebannt Viola, die gerade ihren ersten violetten Topflappen vorzeigt und dabei das Muster erklärt.

»Wahrscheinlich nimmt man sich einen Werber für den Fall, dass sie Nein sagt, dann ist das für den, der verknallt ist, nicht so schlimm«, flüstert Flo.

»Und das Herzklopfen hört sie dann auch nicht, wenn man ganz aufgeregt ist...«

Flo nickt. Klar. Er schielt wieder zu Viola hinüber. Er ist ganz weg. Flo häkelt genau wie Viola einen lila Topflappen. Die können sie dann später nebeneinander hängen an ihren Herd, hab ich mal zu Flo gesagt, aber da wurde er sehr sauer.

»Und was muss ich machen, wenn ich Werber bin?«

»Ganz einfach. Du gehst zu ihr hin. Es ist natürlich am besten, wenn sie ziemlich allein ist - und dann fragst du sie: Willst du mit Flo gehen? Oder: Willst du mit meinem Freund Flo gehen?«

»Weil du es bist«, sage ich.

»Echt?« Flo hopst hoch. Die Mücke guckt erstaunt. Flo springt hinter seinem Knäuel her, das nach vorne in die Mädchenreihen gerollt ist. Aber das stört keinen echten Verliebten. Auch nicht seinen Kumpel. Flo strahlt.

»Und wenn sie Ja sagt«, murmelt er, als er zurückkommt, »dann kann ich ihr auf dem Nachhauseweg sofort das mit den Briefen erklären.«

»Klar, Kumpel«, sag ich, »wird gemacht.«

Es klingelt zur Pause. Ich habe wahrscheinlich wieder nur siebenundzwanzig Luftmaschen geschafft. Vielleicht klappt das doch nicht bis Weihnachten.

Ach du lieber Schwesternschreck! Jetzt muss ich den Werber spielen. Flo schenkt mir

Gummibärchen, von denen esse ich Kopf und Herz, damit ich Mut bekomme. Das haben die im Altertum echt so gemacht. Nicht mit Gummibärchen, mit Menschen. Mit echten Menschen. Die dachten nämlich, den Mut und den Geist könne man mitessen. Gut, dass das nicht stimmt. Dann hätten wir rund um die Welt tausende von Kannibalen.

Nachdem ich die Gummibärchen gegessen habe, ist mir zwar ein bisschen schlecht, aber ich gehe bärenstark mit Flo nach draußen. Doch auf einmal hat Flo echte Gummibeine. Entweder von den Gummibärchen oder von der Aufregung. Aber das ist jetzt egal.

Die Mädchen (ich meine die Fünfergruppe um Viola: Dorte, Anna, Miep, Liz und Viola) marschieren immer geradeaus. Schulhof auf und Schulhof ab. »Blöde Weiber«, sagt Malte dann immer.

Sonst sind wir meistens hinten in der Ecke, aber heute müssen Flo und ich natürlich hier bleiben. Schulhof auf und Schulhof ab. Ich bin besser geeignet als Eckensteher bei den Jungen, merke ich.

Erst gehen wir hinter und vor denen her. Völlig unauffällig natürlich. Bis die Mädchenreihe auf einmal stehen bleibt, auf uns zeigt und lacht. Eigentlich müsste ich jetzt Vorgehen, aber ich will es ja nur Viola sagen. Ich ziehe Flo am Ärmel in eine Ecke, um eine Denkpause einzulegen.

»Mach doch«, sagt Flo, er schreit es fast, er ist völlig entnervt.

»Am Ende der Pause werde ich’s versuchen.«

»Mach doch«, wiederholt Flo. Was anderes bringt er nicht mehr raus. Bei dem ist das Hirn stehen geblieben vor Aufregung. »Mach doch«, sagt Flo noch einmal.

Da dreh ich mich um und geh geradewegs auf die Mädchen zu. Vor Viola bleibe ich stehen. »Hast du Lust mit Flo zu gehen?«

»Klar!«, sagt Viola. Als wäre es das Natürlichste von der ganzen Welt.

»Klar!«, sagen alle Mädchen zusammen.

Ich drehe mich um und gehe zu Flo.

»Klar«, sage ich zu Flo, »Viola hat >klar< gesagt.«

Flo hopst ins Schulhaus. Flo umarmt mich. Flo jubelt. Flo fällt mir um den Hals. Flo ist total aus dem Häuschen. Ich ziehe ihn erst mal in eine Ecke, wo uns die anderen nicht so sehen.

»Jetzt hops mal nicht so«, flüster ich ihm zu, »das Ganze fängt ja jetzt erst an. Es ist besser, wenn du ein bisschen cool tust, sonst merken die andern doch sofort alles.«

Das sieht sogar Flo ein.

Wir gehen also ziemlich cool in die Klasse zurück.

»Klar«, hat Viola gesagt. Als sei es eine Sache wie Butterbrotessen in der Pause. Als sei sie darauf vorbereitet gewesen.

Flo hat ein Lächeln um die Lippen. Er strahlt. Ich glaube, seine Stehhaare stehen jetzt sogar noch besser.

»Ich lad die gleich ins Kino ein«, flüstert er.

»Und die Briefe?«, flüstere ich zurück.

»Ich kann ja vielleicht mit ihr nach Hause gehen.«

»Die geht doch immer mit der Liz.«

»Dann spann du die Liz aus.«

»Ich mag aber lieber die Anna.«

»Bitte, nimm die Liz.« Flos Augen flehen mich an.

»Einverstanden, für dich. Aber nicht, dass du denkst, ich geh jetzt mit der. Nur weil du mein Freund bist.«

Der Deutschunterricht beginnt irgendwo da vorne. Wir merken es kaum.

Griffels Stimme reißt uns aus unserem Gespräch heraus. Dass die Lehrer einen aber auch immer stören müssen. Das ist eigentlich das Einzige, was an der Schule stört: Lehrer, die plötzlich, wenn man gar nicht will, etwas von einem wollen! »Jochen, nimm mal den Satz auseinander.« Griffel grinst dabei wieder mit diesem hinterhältigen Ausdruck, so als wolle er sagen: nicht aufgepasst und schon gefasst!

Ich antworte. Sogar richtig.

Jetzt hab ich erst mal Ruhe. Griffel zieht ab. Eigentlich ist er ja ganz nett.

Nach der Schule stürmen Flo und ich als Erste hinaus. Wir verstecken uns hinter einem Busch, an dem Viola und Liz auf dem Nachhauseweg vorbeikommen müssen.

Ich glaube, wir hätten uns gar nicht so beeilen müssen, denn wir stehen hier schon seit einer Ewigkeit. Wie viel tausend Minuten brauchen die denn noch, um sich ihre Jacken anzuziehen, tschüs zu sagen und dann in diese Straße einzubiegen? Oder ob die heute einen anderen Weg gehen?

Flo schaut nervös auf seine Armbanduhr. Aber davon kommen sie auch nicht schneller.

»Ob ein anderer die aufgegabelt hat?« Flo wird nervös. Nein, Flo wird sogar eifersüchtig. Am liebsten würde Flo sich eine Tarnkappe aufsetzen und einfach den ganzen Tag hinter ihr herlaufen. Zu Hause, in der Schule, morgens, nachmittags und abends. Immer. Flos Augen rollen vor Entzücken.

Doch Tarnkappen gibt es nicht. Höchstens in alten Sagen. Aber Mädchen, die nicht kommen und auf sich warten lassen, die gibt es. Flo will sich gerade behutsam auf den Weg machen, um Viola aufzuspüren oder sie vielleicht sogar einem anderen, der ihm zuvorgekommen ist, zu entreißen - da tauchen Viola und Liz fröhlich kichernd auf.

»Kichermäuse«, sage ich.

Völlig unauffällig laufen wir den beiden in die Quere. Sie gucken erstaunt und dann geh ich neben Liz, damit Flo sich ohne weiteres Hindernis seiner geliebten Viola nähern kann. Violas Pferdeschwanz wippt und ihre fünf bis dreizehn Sommersprossen, die Flo so sehr mag, verschwinden in den Falten ihrer beim Kichern hochgezogenen Nase.

»Kannst du...«, sagt Flo. »Ich mein ja nur so...«

Viola schaut ihn an. Sie bleibt stehen. Sie lächelt ganz lieb.

»Ich dachte, eventuell...«, sagt Flo.

Hilfe, ich glaub, ich spinne! Dem Flo hat’s die Sprache verschlagen. Aber jetzt scheint er sich einen Ruck zu geben. »Heute kommt ein guter Film im Kino. Kannst du um drei?«

Viola schüttelt den Kopf. »Ich hab Klavierstunde, aber wir könnten in die Vorstellung um fünf gehen.«

»Okay, wir treffen uns vor dem Kino«, sagt Flo.

»Gut, um Viertel vor fünf.«

»Ja«, sagt Flo.

Liz und Viola gehen jetzt weiter. Und so zufällig, wie wir eben diesen Weg gekreuzt haben, genauso zufällig gehen Flo und ich jetzt in unsere Richtung nach Hause. Denn wir wohnen auf der anderen Seite der Schule.

Da kommt Viola hinter uns her.

»Kann Liz mitkommen? Und du kommst auch, Jo. Dann gehen wir zu viert.«

Flo schaut mich an. Was soll ich tun? Obwohl ich mit Liz eigentlich nicht möchte, nicke ich.

»Tschüs, bis dann, nach der Klavierstunde!«

Liz und Viola verschwinden nach links, wir nach rechts.

»Ist sie nicht süß?« Flo rollt mit den Augen.

Wir gehen weiter. Ich denke nach. Ja, für Flo geh ich mit. Aber wirklich nur für Flo.

»Das mit den beiden Briefen, hast du ihr das erklärt?«

»Tu ich noch«, sagt Flo.

Ich schaue Flo besorgt an. Geht das gut? Aber ich werde ihm helfen. Ich bin ja schließlich sein Liebesberater.