Die Fra­ge war: Hiel­ten sie sich für Men­schen – oder hiel­ten die Men­schen sie für sol­che?

 

Daniel F. Galouye
Die Ersatz-Mannschaft

 

Da war es wie­der!

Mit dem spit­zen Auf­schrei ei­nes ver­wun­de­ten Vo­gels durch­brach das Krei­schen des Pha­sen­kon­den­sa­tors die Stil­le im Schiff.

Van­ce Lor­ry hat­te starr auf dem Rand sei­ner Ko­je ge­ses­sen; ruck­ar­tig hob er den Kopf. Sein ha­ge­res Ge­sicht war von Be­sorg­nis über­schat­tet. Mart Bur­ton, der auf der an­de­ren Sei­te der Ka­bi­ne saß, schlug sich mit der Faust in die Hand­flä­che und sprang auf. »So, das reicht! Ab ins Ret­tungs­boot!«

»Nein! War­te!« Lor­ry ging zur Tür und blieb da­vor ste­hen. »Viel­leicht ha­ben wir ei­ne Chan­ce! Nur noch einen Sprung, dann …«

»Schau, Son­ny«, sag­te Bur­ton, »wir ha­ben jetzt kei­ne Zeit, uns dar­über zu strei­ten. Wir sind schon sechs­hun­dert Licht­jah­re vom nächs­ten Au­ßen­pos­ten ent­fernt. Einen wei­te­ren Sprung kön­nen wir nicht ris­kie­ren, nicht mit die­sem durch­ge­dreh­ten Kon­den­sa­tor!«

»Aber sie brin­gen ihn schon in Ord­nung! Sie brau­chen nur et­was mehr Zeit!«

Lor­ry blieb wie an­ge­wur­zelt vor der Tür ste­hen. Das Krei­schen ver­stärk­te sich, und Bur­ton, der Lor­rys ent­schlos­se­ne Hal­tung stu­dier­te, be­gann zu la­chen. Nicht un­freund­lich, aber doch so, daß es durch­bli­cken ließ, was er von ei­ner Rau­fe­rei mit sei­nem schmäch­ti­ge­ren, jün­ge­ren Ge­fähr­ten hielt.

»Gib ih­nen ei­ne Chan­ce, Bur­ton«, dräng­te Lor­ry. »Die Mann­schaft hat ge­nau­so viel zu ver­lie­ren wie wir!«

»Jetzt hör’ mal gut zu, Son­ny. Je­des­mal, wenn ein Haupt­kon­den­sa­tor sich au­to­ma­tisch wie­der­auf­lädt, ris­kie­ren wir un­se­ren Kopf. Und das wird so wei­ter­ge­hen, bis wir der Milch­stra­ße adieu sa­gen müs­sen. Frü­her oder spä­ter knallt es!«

»So war es ein­mal – im An­fang, zur Zeit der Sub­i­den­titäts-Ky­ber­ne­tik. Die­se Mann­schaft aber wird mit al­lem fer­tig!«

»Du meinst, das soll­te sie. Zwei Ta­ge sind es jetzt schon, und sie hat noch im­mer nichts er­reicht. Es ist höchs­te Zeit, daß wir die­se Kis­te ver­las­sen – so­lan­ge wir uns noch in Reich­wei­te ei­nes Au­ßen­pos­tens be­fin­den.«

»Du kannst ja ge­hen.« Lor­ry gab die Tür frei. »Ich blei­be bei den an­dern.« Für einen Au­gen­blick war Bur­ton sprach­los, dann schrie er ihn an: »Du ver­schwin­dest jetzt ins Ret­tungs­boot, und wenn ich dich hin­schlep­pen muß!«

»Du wür­dest die Mann­schaft im Stich las­sen – so mir nichts dir nichts?«

Bur­ton schnapp­te nach Luft. »Will es dir denn nicht in dei­nen ver­damm­ten Dick­schä­del ein­ge­hen, daß sie kei­ne Men­schen sind? Sie sind elek­tro­ni­sche Schalt­ele­men­te mit Iden­ti­täts-Vor­span­nung, und ih­re Auf­ga­be ist es …«

»Ich weiß«, un­ter­brach Lor­ry. »Ab­ge­se­hen von ih­ren pri­mären Funk­tio­nen, sol­len sie für ei­ne hei­mi­sche At­mo­sphä­re sor­gen. Da­mit du und ich ein­an­der nicht in die Haa­re ge­ra­ten, wäh­rend wir hier drau­ßen Na­vi­ga­ti­ons­bo­jen le­gen. Aber sie sind mehr als das, Bur­ton. Sie sind re­al!« Bur­ton fluch­te. Er pack­te Lor­rys Arm. »Wir ge­hen jetzt an Bord des Ret­tungs­boo­tes, ver­stan­den?!«

Aber Lor­ry lach­te nur. »Zu spät.« Er wies nach ach­tern, wo das Krei­schen des Kon­den­sa­tors zu ei­nem ho­hen Schril­len an­ge­stie­gen war. »Gleich sprin­gen wir.«

Er hat­te er­reicht, was er woll­te: Bur­ton war hin­ge­hal­ten wor­den. Jetzt blieb ih­nen kei­ne Zeit mehr, an Bord des Ret­tungs­boo­tes zu ge­hen. Und nach dem Sprung hät­te die Er­satz-Mann­schaft wei­te­re vier Stun­den zur Ver­fü­gung, um den Kon­den­sa­tor zu re­pa­rie­ren, wäh­rend das Schiff be­we­gungs­los im Nor­mal­raum hing.

Lor­ry ver­such­te, sei­ne Ko­je zu er­rei­chen, schaff­te es aber nicht. Das Krei­schen des Pha­sen­kon­den­sa­tors gip­fel­te in ei­nem oh­ren­be­täu­ben­den Pfei­fen, und es wur­de schwarz um ihn, als er ge­gen den sub­jek­ti­ven An­sturm kämpf­te, den der Sprung mit sich brach­te. Ein blen­den­der Ener­gie­stru­del er­faß­te die Grund­fes­ten sei­nes Be­wußt­seins – ein wir­beln­des, be­täu­ben­des Mus­ter von fremd­ar­ti­gen Emp­fin­dun­gen, die mit er­bar­mungs­lo­ser Ge­walt die Hal­lu­zi­na­ti­ons­zen­tren sei­nes Hirns at­ta­ckier­ten. Er stand bis zu den Kni­en in ei­nem Feld wo­gen­der Blü­ten, vor sich den sanft an­stei­gen­den Hang ei­nes Hü­gels. Die Luft war frisch und rein und kräf­tig, der Him­mel von azur­nem Blau. Ech­te, un­ver­fälsch­te Hei­ter­keit emp­fand er, mit je­dem Schritt, den er vor­wärts tat in­mit­ten der schwan­ken­den Hal­me. Doch da hielt er an, be­gie­rig und wach­sam, als er sei­nen Na­men hör­te, ge­tra­gen vom Wis­pern der Bri­se.

Und dann sah er sie – kaum mehr als ei­ne Sil­hou­et­te am Kamm des Hü­gels. Schlank und an­mu­tig stand sie dort, ihr gra­zi­ler Kör­per von wal­len­den Klei­dern um­hüllt, ihr glän­zen­des brau­nes Haar ein tan­zen­der Schlei­er im lau­ni­schen Takt des Win­des.

Ganz Schön­heit, An­mut und ver­kör­per­ter Char­me – das war Trin.

»Van­ce! Van­ce!« rief sie wie­der mit ei­ner Stim­me so klar und süß wie der Flö­te Tril­lern. Dann kam sie den Hang her­ab, in ei­ner Stu­die flie­ßen­der Be­we­gung.

Er lief ihr ent­ge­gen. Sie faß­ten ein­an­der bei der Hand und stan­den da, und ih­re Bli­cke tra­fen sich un­ter fröh­li­chem La­chen, das der Wind ins Blu­men­meer am Fu­ße des Hü­gels trug.

Dann husch­te ein Schat­ten von Ernst­haf­tig­keit über ihr fein­ge­schwun­ge­nes Ant­litz. »Bin ich so, wie du es dir er­war­tet hast?« Es war stets die­sel­be Fra­ge.

Und wie im­mer gab er ihr zur Ant­wort: »Mehr hät­te ich mir gar nicht er­war­ten kön­nen.«

Hin­ter ei­nem na­hen Baum­stamm lug­te das Ge­sicht ei­nes schel­mi­schen Jun­gen her­vor. »Schwes­ter­chen hat ’nen Liebs­ten! Schwes­ter­chen hat ’nen Liebs­ten!«

Selt­sam dach­te Lor­ry, er hat­te sich im­mer vor­ge­stellt, Trin sei Kids Schwes­ter. Er wand sich et­was ver­le­gen, und Trins Wan­gen rö­te­ten sich. »Wirst du dort ver­schwin­den, Kid!«

Es war Gum­py. Lor­ry über­rasch­te es, den al­ten Mann hier am Hü­gel zu se­hen, ob­wohl es ihm hät­te klar sein müs­sen, daß die drei sich nie weit von­ein­an­der ent­fer­nen wür­den.

Gum­py kam auf sie zu, sei­ne Hal­tung stolz und wür­de­voll. Es war of­fen­sicht­lich, daß er – moch­te sein Ant­litz auch ge­furcht und sein wei­ßes Haar ge­lich­tet sein – den Stock nicht brauch­te, ihn viel­mehr nur zur Zier­de trug.

Kid ver­such­te, ihm zu ent­wi­schen, aber Gum­pys Re­fle­xe wa­ren blitz­schnell. (Wa­ren sie das nicht im­mer?) Er be­nutz­te den Knauf sei­nes Stocks, um den Jun­gen ein­zu­fan­gen. Ihn am Schopf pa­ckend, mar­schier­te er dann mit Kid da­von.

»Er ver­steht die­se Din­ge noch nicht so recht«, rief Gum­py wie ent­schul­di­gend über die Schul­ter zu­rück. »Aber ei­nes Ta­ges wird er ja er­wach­sen sein.«

Lor­ry sah ih­nen nach, bis sie hin­ter dem Hü­gel­kamm ver­schwan­den, und da wur­de ihm be­wußt, daß Trin lä­chelnd zu ihm auf­blick­te. Doch et­was, ei­ne Un­stim­mig­keit, ver­wirr­te ihn. Na­tür­lich wa­ren sie al­le ei­ne in­ti­me klei­ne Fa­mi­lie, aber wie konn­te ein Mann, der so alt war wie Gum­py, Kids Va­ter sein?

Dann, im nächs­ten Au­gen­blick, fand dies al­les ein En­de – die pri­ckeln­de Wär­me von des Mäd­chens Hand, die wo­gen­den Blü­ten, der blaue Him­mel, der duf­ten­de Wind.

An ih­rer Stel­le be­fan­den sich die stump­fen, grau­en, me­tal­le­nen Wän­de des Mann­schafts­ab­teils, durch­bro­chen nur von ei­nem Bull­au­ge, das im grel­len Licht un­be­kann­ter Son­nen flim­mer­te und gleiß­te.

Der Sprung war vor­bei.

Und Lor­ry, der auf dem Deck lag, frag­te sich, was wohl ge­sche­hen wür­de, wenn der Pha­sen­kon­den­sa­tor des An­triebs mit­ten wäh­rend sei­ner Ent­la­dung aus­setz­te. Wür­de dann er, Lor­ry, für im­mer zwi­schen Nor­mal- und Über­raum fest­ge­hal­ten sein? Und wenn al­le phy­si­schen Vor­gän­ge in der Zeit­lo­sig­keit ver­harr­ten, wür­de da sei­ne Welt der Sprung-In­ter­zo­ne zur Wirk­lich­keit wer­den?

Ver­bit­tert über das ab­rup­te En­de sei­ner Hal­lu­zi­na­tio­nen be­gab er sich in den Kon­troll­raum.

 

Bur­ton war schon dort; of­fen­sicht­lich hat­te er Mi­nu­ten vor ihm die Aus­wir­kun­gen des Sprun­ges über­wun­den. Un­ru­hig stand er bei den drei Kon­so­len am hin­te­ren En­de des Ab­teils.

»Ver­su­che es noch ein­mal mit dem Hilf­strieb­werk«, ord­ne­te er an.

»Völ­lig witz­los, Mr. Bur­ton«, kam aus dem Laut­spre­cher der rech­ten Kon­so­le die Er­wi­de­rung. »Wenn die­ser Kon­den­sa­tor in au­to­ma­ti­scher Fol­ge fest­hängt, kann ich über­haupt nichts ma­chen.«

»Ver­su­che es!«

Die Vi­deo-Emp­fangs­zel­len der nächs­ten Kon­so­le be­gan­nen zu glü­hen. »Las­sen Sie Kid doch, Bur­ton«, schnarr­te der Laut­spre­cher. »Er ist völ­lig macht­los.«

»Ehr­lich, Mr. Bur­ton«, fleh­te Kid. »Ich gab mir al­le Mü­he. Aber es pas­sier­te ein­fach nichts!«

Der Jun­ge war im­mer zu Strei­chen auf­ge­legt, wie je­der an­de­re Zehn­jäh­ri­ge auch: das ge­stand sich Lor­ry ein, als er nä­her­trat. Aber wenn es um sei­ne of­fi­zi­el­len Pflich­ten als Au­to­pi­lot ging, leg­te Kid die Ernst­haf­tig­keit ei­nes vollen­de­ten Tech­ni­kers an den Tag.

»Laß sie in Frie­den, Bur­ton«, sag­te Lor­ry. »Sie tun ihr Mög­lichs­tes.«

»Sieh mal an, du schon wie­der! Ich war­ne dich – hal­te dich bloß hier her­aus!«

»Bis zum nächs­ten Sprung ha­ben sie es si­cher in Ord­nung ge­bracht.«

»Him­mel, wie oft soll ich es dir noch sa­gen! Wenn ein Pha­sen­kon­den­sa­tor aus dem Schalt­kreis springt, bleibt ei­nem nichts an­de­res zu tun üb­rig, als ihn durch einen neu­en aus­zut­au­schen. Aber kön­nen wir das? Nein! Und warum nicht? Weil Gum­py hier ver­gaß, Er­satz­tei­le an­zu­for­dern!«

»Ge­dan­ken­lo­sig­keit war’s kei­ne«, kam es in schwa­chem Pro­test aus Gum­pys Laut­spre­cher. »Die­se Cha­rak­ter-Pro­gram­mie­rung ist schuld. Bei der Al­ters-Vor­span­nung muß et­was vom Ver­geß­lich­keits­bild in die Ar­beits­krei­se ge­rutscht sein. Der Er­satz­kon­den­sa­tor ent­fiel mir ganz ein­fach.«

»Na bit­te!« sag­te Bur­ton. »Und so was nennt ihr Per­fek­ti­on! Da ha­ben wir ein or­dent­li­ches Kom­mu­ni­ka­ti­ons- und Kon­troll­sys­tem, aber es ent­fällt ihm ›ganz ein­fach‹ et­was!«

Einen Mo­ment lang koch­te es in ihm; dann frag­te er: »Warum, zum Teu­fel, un­terbrecht ihr nicht den Ener­gie­strom zum Über­an­trieb? Dann ist er aus­ge­schal­tet – und da­mit auch je­der wei­te­re Sprung. Ihr könn­tet den Kon­den­sa­tor in Ru­he re­pa­rie­ren!«

»Un­mög­lich. Wenn die­ser nicht an­ge­schlos­sen ist, be­kom­me ich selbst kei­ne Ener­gie – und wie soll ich dann et­was un­ter­neh­men? Nie­mand an­de­rer kennt sich mit der Schal­tung aus, al­so müs­sen Sie mich schon ma­chen las­sen, wie ich es für rich­tig fin­de.«

Mit et­was mehr Ge­duld als Bur­ton wand­te sich Lor­ry an die mitt­le­re Kon­so­le. »Nun, was tust du wirk­lich, Gum­py?«

»Ab­ge­se­hen da­von, daß ich mich dau­ernd her­um­strei­ten muß, ver­su­che ich, das Selbstin­stand­set­zungs-Pro­gramm zu über­ge­hen und ei­ni­ge Ka­pa­zi­täts­tests an­zu­stel­len.«

»Na gut«, ließ Bur­ton sich er­wei­chen. »Blen­de jetzt ab und knie dich da­hin­ter. Aber ich möch­te we­nigs­tens ei­ne Stun­de vor dem nächs­ten Sprung Be­scheid wis­sen.«

Gum­pys Vi­deo-Emp­fangs­zel­len ver­blaß­ten, und sein Laut­spre­cher hör­te auf zu sum­men.

Bur­ton wand­te sich in Rich­tung Kor­ri­dor. »Ich über­prü­fe noch ein­mal das Ret­tungs­boot. Sieht so aus, als wür­den wir ganz schön lan­ge in die­sem Ding zu­brin­gen müs­sen.«

Kaum hat­te er sich ent­fernt, ging Lor­ry hin­über zur drit­ten Kon­so­le. Er blieb ei­ne Wei­le da­vor ste­hen, den Blick er­ho­ben zum Na­men­schild mit der schlich­ten In­schrift: Na­vi­ga­to­rin.

Der Laut­spre­cher auf der Kon­so­le gab ein sanf­tes Sum­men von sich. Dann, nach ei­ner Pau­se: »Van­ce?«

Es war wie fer­nes Glo­cken­ge­läut, das der ers­te Hauch ei­ner war­men Bri­se her­über­trägt. Es war voll zärt­li­cher Be­sorg­nis und sehn­süch­ti­gem La­chen. Als er sich nicht rühr­te, wur­de die Stim­me et­was schrof­fer, ver­lor aber nichts von ih­rem über­wäl­ti­gen­den Char­me. »Sta­ti­on Zwei er­stat­tet Mel­dung, Sir. Un­se­re Po­si­ti­on …«

»Laß das, Trin.«

»Mein­test du es noch erns­ter, wä­re mir zum Heu­len zu­mu­te.« Die sanf­ten Tö­ne ih­rer Wor­te er­schüt­ter­ten ihn. Mein Gott, dach­te er, was für ei­ne Stim­me da kon­stru­iert wor­den war!

»Gum­py scheint kei­nen Schritt wei­ter­zu­kom­men,« sag­te er schließ­lich.

»Nein, ich glau­be nicht«, gab sie zu.

Ir­gend­wie war ihm, als könn­te er, wür­de er nur die Deck­plat­ten von der Kon­so­le rei­ßen und hin­ter das Wirr­warr der Dräh­te und Schalt­ele­men­te grei­fen, als wür­de er sie dann tief im In­nern fin­den, ver­bor­gen, zu­sam­men­ge­kau­ert, ein mensch­li­ches We­sen in ei­nem Ver­lies aus Me­tall und Plas­tik. So wirk­lich schi­en sie, so re­al.

»Van­ce, ich will nicht, daß du noch län­ger hier­bleibst. Es ist zu ge­fähr­lich. Geh mit Bur­ton. Ver­las­se das Schiff vor dem nächs­ten Sprung.«

Er rang sich ein Lä­cheln ab. »Nun, ich ha­be ja mehr Ver­trau­en zu Gum­py als du!«

»Das ist es nicht«, er­wi­der­te sie. »Er bringt die­sen Kon­den­sa­tor schon in Ord­nung – frü­her oder spä­ter.«

»Warum ma­chen wir uns dann Sor­gen?«

»Ich zeig’s dir.«

Am Schott ge­gen­über flamm­te ein elek­tro­ni­scher Schirm auf. Er zeig­te ei­ne dich­te An­bal­lung von Ster­nen und ne­bu­lo­sen Fle­cken. Et­li­che Gra­de ab­seits glüh­te ein grü­ner Kreis, na­he dem Zen­trum zwar, aber lan­ge nicht mehr im Fa­den­kreuz.

»Durch die­sen letz­ten Sprung«, er­klär­te sie, »sind wir um drei Grad vom Kurs ab­ge­wi­chen. Ir­gend­ein Drift­ele­ment hat sich ein­ge­schal­tet. Ich fürch­te, ich wer­de es nicht kom­pen­sie­ren kön­nen; spä­ter je­den­falls nicht.«

»Ich ha­be ge­wiß kei­ne Ban­ge. Ich weiß …«

»Bit­te, sag das nicht, Van­ce. Noch ein paar Sprün­ge, und wir sind hoff­nungs­los ver­lo­ren.«

Er schwieg einen Mo­ment. Dann: »Sa­ge Bur­ton nichts da­von.«

»Die­ses Ver­spre­chen kann ich dir nicht ge­ben. Ich möch­te, daß du si­cher heim­kommst.«

»Aber was ist mit dir und Kid und Gum­py?«

»Wir spie­len kei­ne Rol­le – zu­min­dest kei­ne so große.« Und ehe er wi­der­spre­chen konn­te, füg­te sie hin­zu: »Wir ha­ben ge­ra­de einen Sprung hin­ter uns. Warst du wie­der auf dem Hü­gel?«

»Ja, ich war dort.«

»Und ich auch?«

Als er nick­te, fuhr sie et­was en­thu­sias­ti­scher fort: »Sag’s mir noch ein­mal. Wie bin ich?«

»Groß und schlank und an­mu­tig. Wie …«

»Wie ei­ne Ga­zel­le?«

»Ja.«

»Was ist ei­ne Ga­zel­le?«

»Ein sehr, sehr schö­nes Tier da­heim auf der Er­de.«

»Und ich bin wie ei­nes da­von?«

Plötz­lich fühl­te er Ver­le­gen­heit dar­über, daß er es wäh­rend der Mo­na­te drau­ßen im lee­ren Raum zu die­ser in­ni­gen Be­zie­hung hat­te kom­men las­sen. Von ob­jek­ti­ver War­te aus be­trach­tet, war es ei­ne Mi­schung von Ent­täu­schung und Selbst­ver­ach­tung. Aber konn­te er denn et­was da­für, daß man Trin mit ei­ner so an­zie­hen­den Per­sön­lich­keit aus­ge­stat­tet hat­te? Und den­noch – Trin, Kid und Gum­py wa­ren mehr als nur Mit­glie­der ei­ner Er­satz-Mann­schaft. Sie be­sa­ßen völ­lig mensch­li­che Iden­ti­tä­ten und Be­wußt­seins­in­hal­te.

»Du bist wie – wie ei­ner von uns, Trin.«

 

Ir­gend­wo tief im In­nern des Schif­fes er­tön­te ein Knir­schen und Don­nern. Lor­ry rutsch­te der Bo­den un­ter den Fü­ßen weg. Wild um sich schla­gend, ver­such­te er, sein Gleich­ge­wicht zu be­wah­ren, aber er wur­de ein­fach ge­gen das Schott ge­wor­fen.

»Trin! Was ist?« Er rap­pel­te sich wie­der auf, krampf­haft be­müht, sich dem Schlin­gern des Decks an­zu­pas­sen.

»Au­gen­blick. Ich ver­su­che ge­ra­de, es her­aus­zu­fin­den.« Ihr Ton­fall war un­ge­dul­dig, er­regt.

Von sei­nem Platz aus schi­en sich das Deck wie ein Steil­hang auf­zu­bäu­men.

»Ich ha­be ei­ne di­rek­te Ver­bin­dung mit Gum­py«, rief Trin. »Er sagt, ei­ne der Grav-Spu­len brann­te durch.«

Lor­ry schaff­te es zu­rück zur Kon­so­le, wo er sich an die Deck­plat­ten klam­mer­te, um Halt zu fin­den.

»Gum­py!« for­der­te er. »Was ist pas­siert?«

»Er hat jetzt kei­ne Zeit für Er­klä­run­gen«, schal­te­te sich Trin da­zwi­schen. »Er ver­such­te ge­ra­de, die Feh­ler­quel­le in je­nem Kon­den­sa­tor auf­zu­spü­ren, als er das falsche Re­lais er­wi­sch­te. Die Um­welts-Kon­troll­sys­te­me bra­chen un­ter der Über­be­las­tung zu­sam­men.«

Al­le Lich­ter fla­cker­ten jetzt, und die Luft­zir­ku­la­ti­on schick­te nur noch Rauch­fah­nen durch die Ven­ti­la­to­ren. Ir­gend­wo vor­ne öff­ne­te und schloß sich ei­ne au­to­ma­ti­sche Lu­ke, und im­mer wie­der.

»Mr. Lor­ry! Was ist los?«

Er wand­te den Kopf und sah auf Kids Kon­so­le al­le Lämp­chen bren­nen.

»Nichts Be­son­de­res«, log er. »Gum­py küm­mert sich schon dar­um.«

»Es ist et­was Schlim­mes, ich weiß es! Ich spü­re den Ener­gie­sturz. Ich kann ihn noch im­mer spü­ren!«

»Kei­ne Angst, Kid.« Lor­ry ver­la­ger­te sein Ge­wicht, um das schwan­ken­de Gra­vi­ta­ti­ons­feld zu kom­pen­sie­ren. »Gleich ist die Sa­che be­ho­ben.«

»Nein, das ge­fällt mir nicht. Bei Gott, Mr. Lor­ry, über­haupt nicht!«

»Schau mal, Kid«, sag­te Trin mit der Be­sorgt­heit ei­ner großen Schwes­ter. »Was er­zähl­te ich dir über Leu­te, die der Ge­fahr ins Au­ge se­hen und als Hel­den ge­fei­ert wer­den? Weißt du nicht mehr?«

»Oh, das – das schon. Aber – aber wir kom­men doch wie­der nach Hau­se, oder?«

»Das hier ist un­ser Zu­hau­se«, sag­te sie fest.

Bur­ton platz­te her­ein. »Was, zum Teu­fel, ist denn jetzt los, Gum­py?«

Als er kei­ne Ant­wort be­kam, ver­paß­te er der Kon­so­le einen wü­ten­den Tritt.

Ih­re Zel­len er­hell­ten sich, und der Laut­spre­cher brumm­te: »Re­gen Sie sich ge­fäl­ligst ab! Ha­be ich nicht schon ge­nug zu tun mit die­sem ver­damm­ten Sa­lat von Dräh­ten und Schal­tern?«

»Al­so«, frag­te Bur­ton, »was ist jetzt pas­siert?«

»Ich will ver­hext sein, wenn ich nicht ei­ne Über­be­las­tung her­vor­rief, die einen Schub Leis­tun­gen in der Haupt­kon­trol­lan­la­ge hoch­jag­te.«

»Nun, dann schal­te um auf die Ne­ben­an­la­ge. Da­für ist sie ja da!«

»Jetzt nicht mehr – nein, nicht jetzt.«

»Was soll das hei­ßen?«

»Schät­ze, es ent­fiel mir ganz ein­fach, aber ich sag­te Ih­nen noch nicht, daß wir seit den letz­ten paar Mo­na­ten mit der Ne­ben­an­la­ge fuh­ren.«

»Wie­so?«

»Hat­te da­mals schon ei­ne Über­be­las­tung und ließ einen Hau­fen Schal­tun­gen in der Haupt­an­la­ge durch­bren­nen.«

Bur­ton fluch­te und rauf­te sich die Haa­re. »Na gut, Gum­py«, sag­te er schließ­lich mit er­zwun­ge­ner Ru­he. »Du bist da­für zu­stän­dig. Jetzt sa­ge du mir, was wir tun sol­len.«

»Weiß es im Au­gen­blick noch nicht recht«, er­wi­der­te Gum­py.

»Hörst du die Gy­ros heu­len?« fauch­te Bur­ton ihn an. »Das kommt von der Ver­la­ge­rung des Grav-Flus­ses. Wenn sie nicht bald um­schwen­ken, bringt uns die­ser Ei­mer nie mehr nach Hau­se.«

»Nun«, mein­te Gum­py über­le­gend, »sieht so aus, als müß­te ich ganz von vorn be­gin­nen und die Schalt­krei­se neu an­ord­nen, um we­nigs­tens ei­ne voll­stän­di­ge Haupt­an­la­ge zu ha­ben, und …«

»Und«, warf Bur­ton ein, »den Feh­ler im Über­an­triebs-Kon­den­sa­tor fin­den und ihn be­he­ben – und das al­les in den zwei Stun­den, die uns noch ver­blei­ben, bis wir wei­te­re fünf­zig oder sech­zig Licht­jah­re von zu Hau­se weg sind?«

Gum­py brumm­te. Dann sag­te er: »Sieht ziem­lich un­mög­lich aus, wie?« Die Zel­len der mitt­le­ren Kon­so­le fla­cker­ten. »Ich hab’ Angst, Gum­py! Du kannst doch si­cher ir­gend et­was tun, da­mit sie uns nicht hier drau­ßen ver­las­sen müs­sen?«

»Still, Kid«, be­schwich­tig­te ihn Trin. »Denk an das, was ich dir er­zähl­te. Stell dir nur vor, wie lus­tig es sein wird, wenn wir das Schiff ganz für uns al­lein ha­ben!«

Lor­ry trat vor die Kon­so­le des Mäd­chens. »Es muß nicht un­be­dingt so sein, Trin. Ich ha­be einen Plan.«

»Nein, Mr. Lor­ry«, sag­te sie, be­tont for­mell in An­we­sen­heit des an­de­ren Man­nes. »Wir kön­nen nicht zu­las­sen, daß Sie Ihr Le­ben noch län­ger aufs Spiel set­zen. Mr. Bur­ton, es gibt da et­was, was wir Ih­nen nicht ge­sagt ha­ben. Das Schiff be­fin­det sich in ei­ner ra­di­ka­len Drift.«

»In was für ei­ner Drift«? frag­te Bur­ton.

»Ich weiß nicht. Viel­leicht ist es ir­gend­ein neu­es Kraft­feld in die­sem Sek­tor der Milch­stra­ße. Auf je­den Fall kann ich es nicht kom­pen­sie­ren. Noch ein paar Sprün­ge, und wir sind völ­lig ver­lo­ren.«

Bur­ton hol­te tief Luft und sah her­ab auf sei­ne Hän­de. »Kann man jetzt noch einen Kurs zu­rück be­rech­nen?«

»Nicht punkt­genau. Beim nächs­ten Sprung re­ma­te­ria­li­sie­ren wir viel­leicht fünf­zehn oder zwan­zig Licht­jah­re ab­seits von der au­gen­blick­li­chen Rou­te.«

»Das ge­nügt. Be­rech­ne einen Kurs fürs Ret­tungs­boot.«

Lor­ry fühl­te, wie die Ver­zweif­lung sich in ihm auf­bäum­te. Er konn­te doch nicht zu­se­hen, wie Bur­ton die Er­satz-Mann­schaft im Stich ließ!

»Der Kurs wur­de be­reits dem Kon­troll­pult des Boo­tes ein­ge­ge­ben«, sag­te Trin. »Ich be­sorg­te das vor sechs Sprün­gen. Seit­her ha­be ich lau­fend Kor­rek­tu­ren vor­ge­nom­men.«

»Bra­ves Mäd­chen«, er­wi­der­te Bur­ton. Zu Lor­ry ge­wandt, sag­te er dann: »In Ord­nung, Van­ce – keh­ren wir heim. Wir ta­ten, was wir konn­ten.«

Aber Lor­ry wich nur zu­rück.

Bur­tons Au­gen fun­kel­ten dar­auf­hin zor­nig. »Schau mal, Son­ny, ich hat­te ver­dammt viel Ge­duld. Ich ak­zep­tier­te so­gar, daß ein Mann – ein jun­ger Mann, der erst drei Mo­na­te lang im Welt­raum ist und kei­ne an­de­re Ge­sell­schaft hat als einen ko­mi­schen al­ten Knacker wie mich – sich in ei­ne schö­ne Stim­me ver­knal­len kann. Ich hielt das für ir­gend­ei­ne neue Art von Raum­krank­heit. Und ich war an­stän­dig ge­nug, so zu tun, als mer­ke ich über­haupt nichts. Aber jetzt …«

Er mach­te einen Schritt vor­wärts, ge­nau in einen rech­ten Ha­ken, den sich Lor­ry gar nicht zu­ge­traut hat­te.

Es kos­te­te ihn ei­ni­ge Mü­he, den großen Mann über die Schul­ter zu wer­fen. Aber trotz der Schlag­sei­te des Schif­fes ge­lang­te er bis zum La­de­raum, wo er Bur­ton fal­len ließ. Hier­auf si­cher­te er das Schloß und ging zu­rück zur Er­satz-Mann­schaft.

»Oh, Van­ce!« rief Trin. »Warum hast du das ge­tan?«

»Laß ihn doch, Mäd­chen«, sag­te Gum­py. »Es ist sei­ne Sa­che. Viel­leicht hat er et­was Be­stimm­tes vor.«

Kid klam­mer­te sich an den Hoff­nungs­fun­ken. »Ganz recht, Trin. Er weiß, was zu tun ist. Nicht wahr, Mr. Lor­ry?«

 

»Ich glau­be, ja, Kid. Aber da­zu brau­che ich ei­ne Men­ge Hil­fe.«

Der Tür­griff zum La­de­raum klap­per­te wie wild.

»Lor­ry!« drang Bur­tons ge­dämpf­te Stim­me durch. »Laß mich ’raus!«

»öff­ne die Tür, Van­ce«, seufz­te Trin. »Es ist das ein­zi­ge, was du tun kannst.«

»Nein, bei­lei­be nicht!« be­harr­te Lor­ry. »Ich schaf­fe euch aufs Ret­tungs­boot – euch al­le.«

»Siehst du!« kräh­te Kid. »Ich sag­te ja, er wür­de …«

»Sei still, Kid«, be­fahl Gum­py. »Ganz un­mög­lich, Van­ce. Nicht ge­nug Platz auf dem Boot.«

»Und Zeit ha­ben wir auch kei­ne mehr!« füg­te Trin hin­zu. »Es wür­den Ta­ge und ein kom­plet­tes Team von Ky­ber­ne­ti­kern nö­tig sein, um die Kon­so­len aus­ein­an­der­zu­neh­men!«

»Him­mel, et­was Ver­rück­teres gibt es ja gar nicht!« schrie Bur­ton.

Das Schiff schlin­ger­te aber­mals, und Lor­ry paß­te sich der un­re­gel­mä­ßi­gen Schwer­kraft an. Im nächs­ten Au­gen­blick ver­stärk­te sich merk­lich das Krei­schen der an­ge­spann­ten Gy­ros, und aus ei­ner der Ven­ti­la­ti­ons­klap­pen drang ei­ne di­cke Rauch­wol­ke.

»Ich ha­be nicht vor, die Kon­so­len in­takt mit­zu­neh­men«, brüll­te er, da­mit Bur­ton es eben­falls hö­ren konn­te. »Nur die wich­tigs­ten Tei­le – Ge­dächt­nisspei­cher, Pro­gram­mie­rungs­trom­meln, Lern­krei­se …«

»Nicht zu ma­chen«, sag­te Gum­py.

»Zu vie­le An­la­gen be­trof­fen, Van­ce«, er­klär­te das Mäd­chen. »Selbst wenn du über Ky­ber­ne­tik Be­scheid wüß­test, wür­de es meh­re­re Ta­ge dau­ern.«

»Nein, nein«, wie­der­hol­te Gum­py. »Nicht zu ma­chen.«

»Doch, es geht!« rief Kid bit­tend. »Mr. Lor­ry schafft es be­stimmt! Gebt ihm nur ei­ne Chan­ce!«

»Ich brau­che eu­re Hil­fe«, fuhr Lor­ry fort. »Ihr müßt mich Schritt für Schritt an­lei­ten.«

Die Tür zum La­de­raum wölb­te sich un­ter der Wucht von Bur­tons An­sturm. Doch sie hielt stand.

Dann, ganz plötz­lich, krümm­te sich Lor­ry vor ei­nem sub­ti­len Ge­räusch, das an In­ten­si­tät zu­nahm, als es durch die Kor­ri­do­re eil­te. Wild krei­schend, war der Pha­sen­kon­den­sa­tor drauf und dran, aber­mals aus dem Schalt­kreis zu sprin­gen und sie wei­te­re fünf­zig Licht­jah­re ins Un­be­kann­te zu schleu­dern.

»Oh, Van­ce!« stieß Trin her­vor. »Lauf zum Ret­tungs­boot! Ver­laß das Schiff!«

»Aber seit dem letz­ten Sprung sind erst zwei Stun­den ver­gan­gen!« pro­tes­tier­te er.

»Ich will ver­dammt sein!« mein­te Gum­py. »Das kann nur ei­nes be­deu­ten – die Schwan­kun­gen wer­den hef­ti­ger. Könn­te so­gar den gan­zen La­den hoch­ja­gen, die­ser Sprung, oder aber der fol­gen­de.«

»Ich fürch­te, jetzt ist es schon zu spät, mit dem Ret­tungs­boot zu flie­hen, Van­ce«, stöhn­te Trin. »Wenn wir das über­ste­hen, mußt du so­fort das Schiff ver­las­sen.«

»Lor­ry!« brüll­te Bur­ton. »Um Him­mels wil­len, komm zur Ver­nunft! Nichts wie weg!«

Das Krei­schen des Kon­den­sa­tors er­reich­te sei­nen Hö­he­punkt, und Fins­ter­nis brei­te­te sich über al­les.

 

Ganz im Ge­gen­satz zum letz­ten­mal war nun die Wie­se ein fremd­ar­ti­ger, feind­se­li­ger Ort. Wo frü­her be­le­ben­de, köst­lich duf­ten­de Bri­sen ge­weht hat­ten, herrsch­te jetzt nur noch trost­lo­se Wind­stil­le.

Dich­te Wol­ken hin­gen über dem Hü­gel, und die Blü­ten, die sei­nen Fuß be­deck­ten, wa­ren schmut­zig und welk, er­faßt von töd­li­cher Star­re und durch­tränkt vom über­wäl­ti­gen­den Ge­ruch der Fäul­nis.

Er schob sich vor­wärts, auf den Hang des Hü­gels zu, wa­te­te in dem Meer der Ver­we­sung und des Mo­ders – be­stürzt über den plötz­li­chen Wan­del, der sei­ne ei­ge­ne klei­ne Welt be­fal­len hat­te.

Trin, Kid oder Gum­py konn­te er nir­gends se­hen.

Er rief nach ih­nen, und das fremd­ar­ti­ge Ge­räusch sei­ner ei­ge­nen Stim­me ver­blüff­te ihn, als es in die Stil­le rings­um ein­drang.

Dann sah er sie – auf hal­ber Hö­he des Ab­hangs, die Ar­me gleich­gül­tig ver­schränkt, das Haar un­ge­kämmt, das Ge­sicht aus­drucks­los.

Kid sprang hin­ter dem Mäd­chen her­vor und zeig­te Lor­ry ei­ne lan­ge Na­se. »Trin! Kid!«

Der Jun­ge hob einen Bro­cken schmut­zi­ger Er­de auf und warf ihn den Hang hin­un­ter. Er traf Lor­ry bei­na­he voll ins Ge­sicht.

»Kid! Trin! Was ist denn?« rief er.

Sie schwieg, wäh­rend der Jun­ge ihn ver­höhn­te.

Gum­py tauch­te am Hü­gel auf. Er schüt­tel­te die Faust und schwang dro­hend sei­nen Stock.

Lor­ry streck­te fra­gend die Ar­me aus. »So sagt doch – was ist los? Ich ver­ste­he nicht!«

Das Mäd­chen warf ge­ring­schät­zig den Kopf zu­rück, dann rief es sei­nen Na­men wie einen Fluch: »Van­ce!«

Und Gum­py wie­der­hol­te ihn mit aller­größ­ter Ver­ach­tung.

 

Er kam jetzt wie­der zu sich. Und die Wor­te, die je­ne trü­ge­ri­sche Sze­ne auf dem Hü­gel­hang ab­ge­schlos­sen hat­ten, ent­pupp­ten sich als die Stim­me des Mäd­chens, die durch den Schlei­er der Be­wußt­lo­sig­keit drang und ihn zu­rück in die Wirk­lich­keit rief: »Van­ce! Van­ce!«

Aber noch drän­gen­der war Bur­tons Stim­me aus dem La­de­raum.

»Du hast ei­ne ganz falsche Vor­stel­lung da­von, Lor­ry!« brüll­te Bur­ton. »Siehst du denn nicht, daß es pu­rer Un­sinn ist?«

Lor­ry ging hin­über zur ver­schlos­se­nen Tür. »Ich ver­su­che le­dig­lich, die an­de­ren …«

»Nein, Van­ce«, schal­te­te sich Trin da­zwi­schen. »Hör auf ihn. Er hat recht.«

»Sie sind nicht re­al, Lor­ry!« fuhr Bur­ton fort. »In ih­rem gan­zen Sys­tem steckt nicht ein ein­zi­ges Ele­ment von be­wuß­ter Wahr­neh­mung. Sie kön­nen nicht wirk­lich den­ken! Es ist nur ein Ef­fekt – ein Trick!«

»Si­cher«, er­wi­der­te Lor­ry. »So war es be­ab­sich­tigt. Aber sie wis­sen ganz ge­nau, wor­an sie sind.«

»Nein, Van­ce, das wis­sen sie nicht. Es ist bloß ein Ho­kus­po­kus mit kom­pli­zier­ten Schal­tun­gen und pro­gram­mier­ten Re­ak­tio­nen. Al­les ist so kon­stru­iert, daß sie sich in je­der Si­tua­ti­on rea­lis­tisch ver­hal­ten.«

»Es ist kei­ne Il­lu­si­on!«

»Doch, es ist ei­ne, Van­ce. Wir ha­ben hier den­sel­ben al­ten au­to­ma­ti­schen Reiz-Ant­wort-Me­cha­nis­mus, nur kunst­voll zu­recht­ge­zim­mert.«

»Ist es mit uns nicht ge­nau­so?«

»Da gibt es einen fei­nen Un­ter­schied. Das Be­wußt­sein, die Er­kennt­nis des ei­ge­nen Da­seins, der Le­bens­fun­ke, die See­le, das Ego, die Fä­hig­keit, ei­ner Wahr­neh­mung et­was Sub­jek­ti­ves ab­zu­ge­win­nen – nenn’ es, wie du willst. Aber der Un­ter­schied ist da.«

Ei­ne Wei­le herrsch­te Stil­le im Ab­teil. »Trin«, pieps­te dann Kid, »will Mr. Bur­ton da­mit sa­gen, daß wir nicht so sind wie er?«

»Still, Kid.«

»Das ist nur ei­ne Art und Wei­se, die Din­ge zu be­trach­ten, Kid«, be­schwich­tig­te ihn Gum­py.

»Hör mal, Lor­ry«, brüll­te Bur­ton.

»Die­ser Sprung­kon­den­sa­tor ist völ­lig un­zu­ver­läs­sig. Er könn­te uns in fünf Mi­nu­ten wie­der ab­schie­ßen oder statt des­sen das Schilf hier hoch­ja­gen! Wenn wir den nächs­ten Sprung mit­ma­chen, wird uns Trin kei­nen Kurs mehr für das Ret­tungs­boot auf­stel­len kön­nen. Al­so komm schon und laß mich hier raus!«

»Nein, das geht nicht.«

»Na schön! Dann frag’ doch sie, ob sie re­al sind!«

Lor­ry wand­te sich Trin zu, aber sie sprach, noch ehe er ei­ne Fra­ge for­mu­lie­ren konn­te. »Nur Schalt­krei­se, Tran­sis­to­ren, Re­lais und Spei­cher­trom­meln. Das ist al­les, Van­ce.«

»Du lügst! Gum­py?«

»Ich kann völ­lig aus dem Häus­chen ge­ra­ten, wenn ’was nicht hin­haut. Aber ich glau­be nicht, daß es ein wirk­li­ches Ge­fühl ist – nur ein Ener­gief­luß mit ne­ga­ti­ver Rück­kop­pe­lung.«

»Und du, Kid?«

»Als Sie mir die­se Ge­schich­te er­zähl­ten von dem Jun­gen, der sich ver­lau­fen hat­te, da – da war mir zum Heu­len zu­mu­te, Mr. Lor­ry. Ich woll­te ihm hel­fen. Nun, ich weiß nicht …« Er zau­der­te. »Ich schät­ze nicht …«

»Das ist nicht fair, Van­ce«, pro­tes­tier­te Trin. »Die Pro­gram­mie­rung des Jun­gen bein­hal­tet ein spe­zi­ell aus­ge­präg­tes Ein­füh­lungs­ver­mö­gen in die mensch­li­che Um­welt, und au­ßer­dem – Van­ce! Du mußt jetzt fort! Sieh nur!«

Am vor­de­ren Schott flamm­te ei­ner der Schir­me auf und tauch­te den Raum in blen­den­de Licht­fül­le. Er zeig­te ei­ne dich­te An­samm­lung von Ster­nen rund um ei­ne weiß­glü­hen­de Son­ne, de­ren Strah­len so in­ten­siv wa­ren, daß sie den Kon­troll­raum zu er­wär­men schie­nen, selbst über die wei­te Ent­fer­nung hin­weg und durch den Bild­schirm.

»Was ist?« ver­lang­te Bur­ton zu wis­sen. »Was geht hier vor?«

»Das ist ei­ne Son­ne vom Si­ri­us-Typ!« ent­fuhr es dem Mäd­chen. »Ich ha­be ge­ra­de un­se­ren Vek­tor fer­tig be­rech­net. Der nächs­te Sprung wird uns in un­mit­tel­ba­re Nä­he die­ses Sterns brin­gen!«

Lor­ry konn­te die Bit­ter­keit, die un­glaub­li­che Iro­nie die­ser neu­en Si­tua­ti­on förm­lich wahr­neh­men. Die Chan­cen, daß man bei ir­gend­ei­nem wahl­lo­sen Sprung durch den Hyper­raum in­ner­halb ei­nes Son­nen­sys­tems auf­tauch­te, stan­den ei­ne Tril­li­on zu eins.

Und aus­ge­rech­net ih­nen muß­te das pas­sie­ren!

»Hast du ge­hört, Lor­ry?« Bur­ton häm­mer­te wie­der mit den Fäus­ten ge­gen die Tür. »Um Him­mels wil­len, ver­schwin­den wir!«

»Sieht so aus, als wä­re das die Ent­schei­dung, Mä­del«, sag­te Gum­py. »Ich woll­te ab­war­ten – hoff­te, es wür­de sich noch ei­ne Lö­sung fin­den. Aber jetzt …«

Das Kli­cken der Lu­ke über­tön­te al­le an­de­ren Ge­räusche auf dem Schiff. Die Tür zum La­de­raum schwang auf, und Bur­ton, aus dem Gleich­ge­wicht ge­bracht, stürz­te ins Kon­troll­ab­teil. Sei­ne Über­ra­schung schi­en so­gar noch grö­ßer als sei­ne Er­leich­te­rung.

Gum­py ki­cher­te. »Schät­ze, es ent­fiel Ih­nen ganz ein­fach, daß ich al­le Lu­ken hier in die­sem La­den un­ter mei­ner Kon­trol­le ha­be.«

Lor­ry stand nur da, fas­sungs­los, als Bur­ton auf ihn zu­kam.

»Geh mit ihm, Van­ce«, bat Trin. »Und denk dar­an – wenn du wie­der die­sen Hü­gel und all je­ne Blu­men siehst, dann bin auch ich dort – auf ge­wis­se Wei­se.«

Bur­ton streck­te den Arm aus, um ihn zu pa­cken, und Lor­ry sprang zur Sei­te. Bur­tons Faust aber sah er nicht ein­mal.

 

Ei­ne merk­wür­di­ge, ge­spann­te Stil­le herrsch­te jetzt im Kon­troll­raum.

Die Lu­ke, die sich selb­stän­dig ge­macht hat­te, flog nicht län­ger auf und zu.

Mit ei­nem Zi­schen, das von ta­del­los funk­tio­nie­ren­der Ma­schi­ne­rie zeug­te, er­wach­te die be­schä­dig­te Grav-Spu­le wie­der zum Le­ben, und das Schiff pen­del­te zu­rück in sein nor­ma­les Schwer­kraft­feld.

Sämt­li­che Gy­ros wis­per­ten jetzt vor Wohl­be­ha­gen.

Ei­ne letz­te schwa­che Rauch­fah­ne trieb aus dem Ven­ti­la­ti­ons­schacht, ge­folgt von ei­ner lau­en, ste­ten Bri­se. Aber sie hielt nur kurz an. Dann wur­de der Luft­strom jäh un­ter­bro­chen, und zwar mit ei­ner End­gül­tig­keit, die klar zu er­ken­nen gab, daß der Sau­er­stoff in Zu­kunft nicht mehr ein we­sent­li­cher Be­stand­teil an Bord des Schif­fes sein wür­de.

Ein ein­sa­mer Bild­schirm zeig­te ein Ret­tungs­boot, das rasch zu­sam­men­schrumpf­te, als es sich nach ach­tem hin ent­fern­te. Ab­rupt sand­te es je­nes un­heim­li­che Schim­mern aus, das cha­rak­te­ris­tisch ist für das Ein­tau­chen ei­nes Raum­fahr­zeugs in den Hyper­raum.

Ei­ner nach dem an­dern füll­ten sich die Schir­me im Kon­troll­raum mit der fun­keln­den Pracht der Milch­stra­ße, von den ver­schie­dens­ten Sta­tio­nen des Schif­fes aus ge­se­hen – rie­si­ge Stern­hau­fen und Ne­bel, gi­gan­ti­sche Son­nen, fins­te­re Ab­grün­de, va­ge An­deu­tun­gen von Ma­te­rie und fei­ne Strei­fen win­zi­ger Licht­pünkt­chen.

Dann zer­stör­te das Knacken ei­ner Laut­spre­cher­mem­bra­ne die Stil­le. »Wie­der al­les in Ord­nung, Gum­py?«

»Bei­na­he, Trin. Nur noch der Über­an­trieb muß aus der au­to­ma­ti­schen Fol­ge ge­schal­tet wer­den. Ei­ne Se­kun­de – so, das hät­ten wir!«

»Wir ha­ben’s ge­schafft!« kräh­te Kid ver­gnügt.

»Al­ler­dings, mein Jun­ge«, sag­te Gum­py. »Aber ei­ne Zeit­lang hast du ganz schön ge­patzt.«

»Wenn das der Fall ist, dann hat Trin auch ein biß­chen dick auf­ge­tra­gen.«

Ihr hel­les La­chen eil­te durchs Schiff. »Macht nichts. Wir ha­ben die Sa­che ge­schau­kelt, oder?«

»Rich­tig«, be­stä­tig­te Gum­py. »Und ich schät­ze, nie­mand wird je auf die Idee kom­men, daß ei­ne Er­satz-Mann­schaft Lust ver­spürt, so ganz al­lein los­zu­zie­hen. Du hast den Kurs für die bei­den auf­ge­stellt, Trin? Al­lein schaf­fen sie es nicht.«

»Selbst­ver­ständ­lich. Sie kom­men wohl­be­hal­ten heim.«

»Nun, wo­hin soll es denn ge­hen?«

»Rich­tung Koh­len­sack. Ich woll­te schon im­mer wis­sen, wie es dort hin­ten aus­sieht.«

»Ich dach­te ei­gent­lich dar­an, zur Ab­wechs­lung mal ’rü­ber zum An­dro­me­da-Ne­bel zu gon­deln. Aber das kann ja war­ten. Schließ­lich wer­den wir noch lan­ge le­ben, bei all der Ener­gie.«