Sie suchten Zuflucht im Erdinnern, und sie schliefen eine Ewigkeit lang – um dann hinauszutreten in eine Welt, die ihre kühnsten Träume übertraf!
Jack Sharkey
Das Erwachen
Ein unangenehmes Frösteln, das über seinen bloßen Leib kroch, und ein greller, wirbelnder Lichtschleier, der sein ganzes Blickfeld umschloß – das waren Riks erste Eindrücke.
Er erschauerte. Dann blinzelte er mehrmals,1 bis sich das Tanzen des Lichtschleiers gelegt hatte, und heraus schälte sich – das Gewölbe.
Das Frösteln, erkannte Rik, rührte daher, daß seine Körperwärme von der kalten Metallplatte, die ihm als Lager diente, aufgesogen wurde … Ein neuerlicher Schauer ließ ihn nach Luft schnappen, und da war er hellwach.
Als er die Beine herabschwang und sich aufrichtete, begann das Innere des Gewölbes von neuem zu kreisen. Er mußte sich an der metallenen Kante festhalten, um nicht zu stürzen. Die Luft war feucht, viel zu feucht, und mit jedem Atemzug konnte er das Prickeln von Kohlendioxyd wahrnehmen. »Die Pumpe …«, murmelte er. Er stand auf, doch seine Beine zitterten so sehr, daß er fürchtete, im nächsten Augenblick die Kontrolle über sie zu verlieren. »Irgend etwas ist passiert mit ihr …«
Abrupt zwang er sich, gerade zu stehen, dann wankte er den langen Gang zwischen den anderen Liegen hinunter – die reglosen Körper darauf kaum eines Blickes würdigend –, bis er Zinas Schlafplatz erreichte. Sie selbst lag da wie tot, zuckte noch nicht einmal mit der Wimper, und ihr Fleisch fühlte sich unter seinen tastenden Fingern starr und wächsern an.
Es gab nichts, was er für sie tun konnte, solange die Pumpe defekt war.
Rik riß sich von Zinas Anblick los und schritt durch den Bogengang in die nächste Kammer. Hier lagen weitere fünfzig Leute seiner Gruppe auf den Metallplatten, und nicht das geringste Zucken eines Muskels bestärkte die Tatsache, daß sie alle im Grunde genommen höchst lebendig waren.
Nur wenige Stunden schienen vergangen, seitdem er sich auf seiner Liege ausgestreckt und die Injektion bekommen hatte – und dennoch, einen ohnmächtigen Augenblick lang wollte ihm nicht einfallen, in welcher Richtung die Pumpe lag … Er konzentrierte sich und versuchte, seine Erinnerungen aus dem Dunkel des Vergessens emporzuziehen.
Plötzlich entsann er sich des Krieges – des Krieges, der die Gruppe veranlaßt hatte, diesen Ort hier zu errichten … das Tollkühne zu wagen, um eine Handvoll Leute vor dem Chaos zu schützen, das die Erdoberfläche in Flammen tauchen und die Meere verdampfen lassen würde … Hatte der Krieg vielleicht doch ein Ende gefunden? Oder – oder war er überhaupt nie ausgebrochen?!
Rik dachte angestrengt nach, bestrebt, seinen Orientierungssinn wiederzuerlangen. – Die atombetriebene Uhr, die Monate an Stelle von Minuten anzeigte, befand sich im mittleren Gewölbe, wo die Alten schliefen. Die anderen neun Kammern, erinnerte er sich, bildeten einen Ring darum; also lag das mittlere Gewölbe rechts von seiner ursprünglichen Richtung, die ihn auf einer kreisförmigen Tour durch die neun Kammern und wieder zurück zu seinem Ausgangspunkt geführt hätte …
Der Torweg zum Gewölbe der Alten war unerklärlicherweise blockiert, und Rik folgerte automatisch, daß ein Teil der Decke eingestürzt sein mußte, wohl auf Grund irgendeiner Instabilität im Granit des Berges selbst … Aber das war doch unmöglich! Die Alten hatten diese Stelle extra wegen ihrer soliden Gesteinsformation ausgewählt. So etwas hätte nicht passieren dürfen, in Riks ganzer Lebensspanne nicht!
Oder waren bereits so viele Jahre vergangen, daß …?
Er sah keine Möglichkeit, dies herauszufinden – nicht, ehe er die Uhr gesehen hatte!
Rik machte sich auf den Weg ins nächste Gewölbe, und von dort wieder ins nächste – bis er schließlich im sechsten einen Durchgang zur Kammer der Alten entdeckte, der noch nicht gänzlich verschüttet war. Eigentlich hatte er erwartet, hier frischere Luft anzutreffen, aus der Überlegung heraus, daß die Schalheit, die in allen Kammern herrschte, auf mangelhafte Zirkulation zurückzuführen sei, also auf die Blockade des mittleren Gewölbes – in Wirklichkeit aber war die Luft sogar noch schlechter und von einem Geruch durchsetzt, der Rik plötzlich das Schlimmste befürchten ließ.
Wie dem auch sei, er war als erster erwacht, und so lag es an ihm, alles zu tun, um sich und die anderen zu retten!
Rik nahm sich zusammen und zwängte sich durch die schmale Öffnung in die Hauptkammer. Ein einziges Mal nur blickte er auf die Liegen mit den Körpern der Alten … und schnell sah er wieder weg.
Es stimmte! Sie alle befanden sich im fortgeschrittenen Stadium der Verwesung.
Unter Würgen und Schlucken trat Rik in die Mitte des hohen Raumes und starrte auf das Zifferblatt der Uhr. Der breite Zeiger war an seinem Grenzwert angelangt und von Rost zerfressen.
Sie hatten hier über den Zeitpunkt des Erwachens hinaus gelegen, gut viermal so lange, als geplant!
»Das kann nicht wahr sein …«, stöhnte Rik, und sein Hirn fieberte vor Verlangen nach frischer, kühler Luft. »Der Mechanismus hat irgendwie versagt.«
Er wagte nicht daran zu denken; statt dessen kippte er die Uhr um, bis der Sockel, der sie trug, seitlich auf dem Boden ruhte. Die quadratische Metallplatte, die den Sockel abschloß, ließ sich nun aufklappen – gleich einer Falltür – und legte eine gähnende Öffnung frei, die in die Tiefe führte. Rik gefiel ganz und gar nicht, was er sah: den trüben Belag auf der Unterseite der Platte, die aus einer angeblich unzerstörbaren Legierung bestand. Dann erschrak er zutiefst, als er einen Fuß auf die steinerne Treppe des Schachtes setzte …
Das Uhrwerk war total abgelaufen!
Was aber, wenn sie hier sogar noch länger gelegen hatten? Es ließ sich nicht feststellen. Absolut nicht.
Rasch stieg er die Treppe hinab, froh zumindest darüber, daß die Luft drunten in der Pumpenkammer besser war. »Das müßte natürlich auch dann der Fall sein«, rief er sich ins Gedächtnis, »wenn die Pumpe stillstünde. Die Luft hier würde nie zirkulieren, nie Gelegenheit haben, durch unsere Ausdünstungen verpestet zu werden.« Und dann kamen seine Überlegungen zu einem jähen Ende, als er die Pumpe erreichte. Oder das, was von ihr noch übrig war …
Wo sich einst stabile, glitzernde Metallzylinder befunden hatten, lagen jetzt in einem Kreis verstreut ein paar zackige Splitter am Boden, brüchig und braun und rostig. Mit den Kolben war es nicht besser bestellt. Die Hauptwelle lag in Form einer langen Schicht flockigen Pulvers zwischen den einzelnen Kolben, und der wanddicke Filtersatz – ein Gebilde aus Metall- und Synthofasern – zerbröckelte unter dem Druck seines Fingers.
Er suchte und fand das massive Gehäuse, in dem das radioaktive Element – Herz der ganzen Anlage – gelegen hatte, und die mächtigen Wandungen gaben in seinen Händen nach wie Zellulose. Das Element selbst war, wie er entdeckte, bereits zu einem kalten, grauen Bleiklumpen geworden. Und dabei hatte es eine Halbwertszeit von Jahrhunderten gehabt!
Rik sank langsam zu Boden, schloß die Augen, versuchte, nicht an die Äonen zu denken, die verstrichen sein mußten, während sie hier unten geschlafen hatten …
Was mochte in der Zwischenzeit aus der Welt geworden sein?
Ein kühler Luftstrom traf plötzlich sein Gesicht. Augenblicklich ruckte sein Kopf hoch, und er sah sich forschend um.
Ein Flattern der rissigen Filterränder zeigte ihm, daß der Luftstrom durch die Lücke drang, die er dort verursacht hatte. Da sprang er auf die Beine, stürzte zum Filter und zerfetzte ihn mit beiden Händen, so daß hinter ihm wahre Staubfahnen emporwirbelten. Der Luftzug wurde stärker, schneller, als Rik den Rost und Moder zur Seite schleuderte, und dann hatte er freie Sicht auf den Tunnel dahinter.
Keuchend vor Anstrengung – wie lange mochte es her sein, da er zuletzt gegessen hatte? – wankte er zurück von der Öffnung und dann die Treppe hinauf in die Kammer der Alten. Nun, da er reine, frische Luft geatmet hatte, empfand er den Verwesungsgeruch stärker; aber er hielt den Atem an, rannte zur Lücke im eingestürzten Bogengang und zwängte sich hindurch.
Ohne laufende Pumpe konnte keine Frischluft bis hierher gelangen, doch hoffte er, in der Lage zu sein, einige seiner Gefährten hinunter zum zerfetzten Filter zu schleppen und wiederzubeleben – um dann, mit deren Unterstützung, die anderen zu holen. Es würde schon alles glattgehen. Noch ein paar Stunden, und ihre Rettung wäre sichergestellt … Er bedauerte den Verlust der Alten. Doch einerlei. Sie waren die Herrscher. Er und die anderen aber die Chemiker, Wissenschaftler, Ingenieure. Neue Herrscher konnten an ihrer Statt ernannt werden, wenn sie erst einmal das Leben wiederaufgenommen und die Zivilisation in Schwung gebracht hatten.
Zina war die erste, zu der er ging. Sie würde ihm keine so große Hilfe sein wie einer von den anderen, aber Zina und er standen einander zu nahe, als daß er ihre Wiederbelebung noch länger hinausschieben könnte. Ohne Zina war das Leben nichts wert. Er trug sie aus dem Gewölbe, durch die Lücke und das Miasma der Verwesung, dann hinunter in die Pumpenkammer. Dort setzte er sie am Boden ab, und während die Brise mit ihren Haaren spielte, ging Rik zurück, um die nächste Person zu holen.
Nachdem er drei solcherart erschöpfende Wege getan hatte, saß er inmitten seiner Kameraden und lauschte freudig dem Flattern des zurückkehrenden Atems – und Lebens. Zina hob als erste die Lider. Sie schien erstaunt darüber, daß sie nicht länger an ihrem Platz lag, und dann beglückt, als ihr Auge auf ihn fiel.
»So haben wir es geschafft!« seufzte sie. »Wir sind durchgekommen!« Sie versuchte, sich aufzusetzen, fiel dann schwer zurück. »Rik – ich, ich bin so schwach …«
»Wir brauchen Nahrung, wir alle«, sagte er. »Ich selbst bin ganz erschöpft.« Er richtete sich aus seiner Hocke neben ihr auf und starrte den Tunnel entlang. »Ich weiß nicht, wie es dort draußen aussieht, vielleicht finden wir überhaupt nichts zum Essen. Wenn der Krieg so verheerend war wie prophezeit, mag ich nichts weiter antreffen als kahlen Fels, glühende Sonne und dräuenden Tod, wohin ich auch blicke.«
»Wie lange?« begann Zina, doch da fiel ihr Blick auf die rostzerfressene Pumpenanlage, und sie hielt inne, ganz blaß im Gesicht. »So lange?!« hauchte sie. »Oh, Rik! Glaubst du?«
»Ich werde es wissen, wenn ich mich umgesehen habe«, sagte er. Ihre Blicke trafen sich für einen langen Moment, dann drehte er sich um und begann, den Tunnel emporzusteigen.
Dreihundert Schritte brachten ihn zu der Barriere, jener fein durchlöcherten Steinplatte, die als Verschluß und Tarnung diente, um die Lage der unterirdischen Kammern vor dem Feind zu verbergen. Rik lehnte sich mit der Schulter dagegen. Die Wand, seit Jahrhunderten durch Verwitterung geschwächt, zerbröckelte und fiel in sich zusammen. Heller gelber Mondschein breitete sich draußen über das ganze Land. So weit sein Auge reichte, erstreckte sich eine Ebene unglaublich feinen Sandes, aber in der Nachtluft lag ein Geruch von frischem Wasser und grünem Wachstum. Vor ihrer Flucht in die Gewölbe war hier keine Einöde gewesen. Der Krieg hatte seine Spuren der Verwüstung hinterlassen, das sah Rik, als er vergeblich nach der imposanten, himmelstürmenden Stadt Ausschau hielt, die einst unweit von hier gestanden hatte.
Er schüttelte seine Enttäuschung ab und machte sich an die Aufgabe, deretwegen er den Unterschlupf verlassen hatte.
Die Tiere mußten noch am Leben sein, oder aber sie wären verloren! Stets hatte er mit Bedauern die Hast in ihren Vorbereitungen registriert, als deren Resultat keine Schutzgewölbe für das Schlachtvieh errichtet worden waren; das Äußerste jedoch was sie hatten unternehmen können vor jenem Tag der Verwüstung, war gewesen, die dummen Dinger in Höhlen zu treiben und deren Eingänge mit losem Gestein zu verschließen, in der Hoffnung, die Tiere würden sich erst dann herausbuddeln, wenn das Ärgste vorbei wäre. Rik schob die bittere Erinnerung daran beiseite, ganz unvermittelt, als seine Ohren ein leises Brummen registrierten.
Er ließ sich zu Boden fallen und lag reglos da, die Augen zusammengekniffen, um zu sehen, was für ein Tier auftauchen würde. »Irgendwo in der Nähe muß sich eine Tränke befinden. Es ist ein Pfad da – von vielen Tieren, die hier des Weges kamen …«, sann er, den schmalen, ausgetretenen Pfad musternd, den er im nachtkühlen Sand entdeckt hatte.
Erst nach einem langen Augenblick erkannte er, was es war, und da breitete sich ein Lächeln über seine Lippen. Hierauf streckte er die Arme aus – und schon hatte er es, beim ersten Griff. Es knurrte laut in seinen Händen, bis er es dann mit einigen Schlägen zum Schweigen brachte. Als er schließlich die Pumpenkammer erreicht hatte, war es ihm gelungen, das Ding aufzubrechen, aber dessen Inhalt – zermatscht durch die Schläge gegen einen Felsbrocken – eignete sich kaum noch zum Essen.
»Es übertrifft alle meine Hoffnungen«, sagte er zu Zina, als sie und die anderen den Inhalt des Dinges heißhungrig verschlangen. »Das Leben verspricht ungemein aufregender, unendlich sportlicher zu werden, hier in dieser neuen Ära außerhalb der Gewölbe. Bei einiger Vorsicht können wir überleben, bis unsere Ingenieure wieder ein paar Peitschenstrahler und Treibklauen zurechtgebastelt haben.«
»Das wird ein Spaß!« stimmte Zina zu, bei dem Gedanken daran grimmig lächelnd. »Ich liebe es, wenn die Jagd nicht gar so leicht ist! Wer hätte gedacht, daß die Tiere seit ihrem Höhlendasein ein so großes Stück Weges zurücklegen würden?!«
Stunden später erst bekamen es die Leute vom Reisebüro mit der Angst zu tun. Beunruhigt über das abgängige Fahrzeug, leiteten sie eine Suchaktion ein. Doch von dem Bus war keine Spur zu finden, und so blieb das Ganze ein Rätsel – bis zu dem Tage, als plötzlich allen klar wurde, was sich abgespielt hatte.
Aber da war es längst zu spät!