Den Mond in eine bewohnbare Welt zu verwandeln, bot keine großen technischen Schwierigkeiten! – Es gab nur eine Menge Leute, die dagegen waren ..
Poul Anderson
Problem Luna
Plötzlich schien die Ebene zu explodieren. Eine Dampfsäule schoß zum Himmel hinauf; vor der Dunkelheit und den Sternen im Hintergrund stand eine elfenbeinfarbene Wolke, die mit rotglühenden Metallbrocken durchsetzt war. Teile des zerstörten Bohrturms wirbelten durch den Dampf, prallten vom Boden ab und rasten wie todbringende Geschosse über kilometerweite Entfernungen. Um das Bohrloch herum öffneten sich Spalten, die zu meterbreiten Schluchten wurden, während sie strahlenförmig nach außen liefen. Das Loch verwandelte sich in einen tiefen Krater, der Asche und Felsbrocken spuckte. Dann verschwand der Dampfstrahl in einer Rauchwolke und dem Staub, der von der erbebenden Oberfläche aufstieg.
Don Sevigny hatte sich blitzschnell zu Boden geworfen und war dort unbeweglich liegengeblieben, als der Ausbruch begann. Er krallte sich mit geschlossenen Augen an den Felsen fest, fühlte die Erdstöße unter sich und hörte die glühenden Eisensplitter vorüberzischen, die früher einmal Maschinen gewesen waren. In seinem Mund hatte er den Geschmack von Blut. Poy, dachte er, Erich, beide waren zuletzt am Bohrturm gewesen! Was war schiefgegangen?
Die Explosionen verstummten. Von den Steilwänden des Kaukasusgebirges rollten dumpfe Echos über die Ebene, wurden allmählich schwächer und gingen in dem Grollen und Zischen des neugeborenen Vulkans unter. Der Boden bebte noch immer, aber die ersten heftigen Stöße waren abgeklungen. Sevigny sprang auf. Staubwolken nahmen ihm die Sicht, er war von seinen Männern abgeschnitten, von der Erde und dem Mond, allein in der lärmdurchtosten Nacht.
»Meldung!« rief er. »Nach Nummern!«
Ein Name nach dem anderen erklang. Eins, Aarons, zwei, Bergsma, drei, Branch, vier … niemand, Erich Decker meldete sich nicht … fünf, Gourmont, sechs …
»… zwölf«, erklang es blechern aus R’Kus Vokalisator.
Youkhannan beschloß die Aufzählung mit der Nummer zwanzig. Bis auf Decker und Leong, die beide weiterhin schwiegen, war die Mannschaft vollzählig.
Als der aufgewirbelte Staub sich langsam wieder setzte, erkannte Sevigny seine Umgebung wieder. In etwa zwei Kilometer Entfernung stiegen die Felswände des Kaukasusgebirges übergangslos aus der Ebene auf, die Sterne standen unbeweglich über den Gipfeln und beleuchteten die Umrisse von Männern und Maschinen. Er wandte sich um und wollte zu dem Bohrloch hinübersehen, aber die Erde, die dicht über dem südlichen Horizont stand, zog seinen Blick auf sich. Die weißlich blaue Helligkeit, die von ihr ausging, blendete ihn einen Augenblick lang.
Der strahlende Glanz verschwand, als er das Lichtschutzfilter seines Helms herunterklappte. Nun sah er den schwarzen Geysir, der aus dem zerklüfteten Boden aufstieg. In fünfhundert Meter Höhe breitete er sich pilzförmig aus. Gleichzeitig veränderte die Farbe sich im Erdschein zu einem fahlen Blau – ein Schirm aus Eiskristallen, die bei einer Temperatur von minus fünfundzwanzig Grad Celsius kondensierten. Die Wolke war nicht übermäßig groß; sie schmolz bereits an den Ausläufern und wurde von dem schwachen Wind zerstreut, der ostwärts in Richtung auf die Sonne zu wehte.
Für Angst war jetzt keine Zeit. Zwei Männer hatten sich in unmittelbarer Nähe des Explosionsherds befunden.
Vielleicht lebten sie noch. Aber bald würde Lava aus dem Krater dringen.
Sevigny rannte auf das nächste Mondfahrzeug zu. »Ich brauche noch drei Männer!« rief er. »Vielleicht können wir Poy und Erich rechtzeitig bergen!«
Trotz der niedrigen Mondschwerkraft behinderte ihn sein Schutzanzug, als er zu dem erhöhten Führersitz hinaufkletterte. Er beugte sich einige Sekunden lang keuchend über die Instrumente, bevor er bemerkte, daß kein einziger Terraner oder Marsianer ihm gefolgt war.
Warum nicht?
Das Dach des Fahrzeugs stand offen, so daß der Führersitz der eisigen Kälte ausgesetzt blieb. Das Lager war bereits vor einiger Zeit errichtet worden. Nachdem die klimatisierten Schutzkuppeln mit Mondstaub gegen die Hitze und die Strahlung abgedeckt worden waren, die nach Sonnenaufgang einsetzen würden, war es überflüssig, die Fahrzeuge unter Druck zu halten oder ihre Abschirmgeneratoren in Betrieb zu lassen. Sevigny brauchte sich nur über den Rand zu lehnen und zu rufen: »He, was ist denn mit euch los? Ich brauche drei Männer, habe ich gesagt!«
Einige Sekunden verstrichen, in denen nur das Tosen des Vulkans zu hören war. Dann antwortete Branch, der sein Helmfunkgerät auf höchste Lautstärke eingestellt hatte. »Bist du übergeschnappt? Die beiden sind doch schon längst tot!«
»Vielleicht auch nicht«, schnauzte Sevigny. »Wir müssen nach ihnen sehen.«
»Und dabei vier weitere Menschenleben aufs Spiel setzen? Der Krater kann jederzeit flüssiges Gestein spucken!«
Einen Augenblick lang begriff Sevigny überhaupt nichts mehr. Er starrte sprachlos vor sich hin und hatte das Gefühl, er erlebe einen schlechten Traum.
Seine schweren Schutzhandschuhe schlossen sich so fest um den Rand des Fahrzeugs, daß die Heizdrähte sich verbogen. »Ihr …« Dann fand er plötzlich das richtige Wort, das seine Gefühle ausdrückte. »Ihr Erdlinge!«
»Richtig, Boß, du hast völlig recht!« Aarons kam in langen Sätzen über die Ebene herangeeilt. Seine Stiefel wirbelten kleine Staubwolken auf. Die übrigen folgten nacheinander.
Sevigny konnte sie in dem herrschenden Halbdunkel nur an den Leuchtzahlen auf ihren Anzügen erkennen.
»Youkhannan und Nakajima!« rief Sevigny. »Ihr seid am nächsten. Die anderen schaffen inzwischen unser Zeug von hier fort.« Der mühsam unterdrückte Ärger stieg wieder in ihm auf, deshalb schloß er absichtlich mit einem Befehl, der den Stolz der Männer verletzen mußte. »R’Ku, du übernimmst das Kommando.«
»Wird gemacht, Boß.« Der Marsianer hatte sich nicht bewegt. Aber jetzt handelte er blitzschnell – einige rasche Sprünge, wie sie kein Mensch geschafft hätte, ein kurzer Blick zur Orientierung und knappe, überlegte Befehle.
Kein Wunder, daß er sich nicht freiwillig gemeldet hat, dachte Sevigny. Er hätte ohnehin nichts ausrichten können, weil das viele Wasser auf seiner Haut ihn gelähmt hätte; und Marsianer haben nichts für romantische Gesten übrig. Aber die übrigen – wer hätte gedacht, daß sie solche Feiglinge sind!
Dann fiel ihm jedoch ein, daß die Terraner sich nicht gegenseitig durch Bande innerhalb eines Klans verpflichtet fühlten, wie es bei den Cythereanern der Fall war. Die ersten Venuskolonisten hatten diesen Namen angenommen. Wäre er selbst nur ein einfaches Mitglied der Mannschaft gewesen, hätte er vielleicht auch gezögert, bevor er sein Leben für einen anderen riskierte, mit dem er nicht durch einen Eid verbunden war. Als Boß befand er sich jedoch in einer anderen Lage.
Aarons, Youkhannan und Nakajima erreichten das Fahrzeug, kletterten auf die Ladefläche und klammerten sich dort an den Seitenwänden fest. Sevigny ließ sich in den Führersitz gleiten und startete den rechten Motor. Der dazu benötigte Strom kam aus den unterhalb liegenden Akkumulatoren. Das Fahrzeug drehte sich, bis die stumpfe Nase auf den Geysir zeigte. Sevigny schaltete auch den Backbordmotor ein. Acht riesige Unterdruckreifen rollten durch den Staub.
Ein Spalt hatte sich zwischen ihnen und dem Bohrloch geöffnet. Sevigny hielt das Fahrzeug nicht erst an, um die Entfernungen zu schätzen. Nach einem Jahr auf dem Mond hatten seine Augen sich auf die hiesigen Verhältnisse eingestellt. Als er das Gefühl hatte, daß jetzt der richtige Augenblick gekommen sei, legte er einen Schalter um. Zwei Auslegearme hoben das zur Ausrüstung des Fahrzeugs gehörende Brückenstück aus seiner Verankerung und über das Dach hinweg, bis es den Spalt überdeckte. Auf der festen Unterlage rollte das schwere Fahrzeug sicher hinüber. Als die Brücke nicht mehr belastet wurde, nahmen die Auslegearme sie wieder auf.
Der schwache Wind wirbelte die Asche auf und trieb sie in dichten Schwaden gegen das Fahrzeug. Sevigny hörte die winzigen Teilchen gegen seinen Helm prallen. Das Fahrzeug wühlte sich nur langsam durch den tiefen Schlamm, der aus dem Bohrloch gedrungen war. Er lehnte sich nach vom und starrte angestrengt hinaus, während seine Hände mechanisch die nötigen Handgriffe vornahmen. Dort drüben … Er steuerte den dunklen Schatten am Kraterrand an, erreichte ihn und trat auf die Bremsen.
Das andere Mondfahrzeug lag halb von Felsbrocken begraben auf der rechten Seite. Ein Teil des Bohrgestänges war aus dem Loch geschleudert worden und hatte die elektrische Winde unbrauchbar gemacht. Dicht daneben lag der umgestürzte Kompressor, an den die Förderpumpe angeschlossen gewesen war. Er sah keine menschliche Gestalt. Das schwache Geräusch des Windes konnte sich gegen den brüllenden Vulkan nicht durchsetzen.
Er stellte sein Funkgerät auf höchste Lautstärke. »Seht ihr jemand?« erkundigte er sich.
»Nein, keinen Menschen«, antwortete Youkhannan mit einem starken Akzent in der Stimme. »Wahrscheinlich liegen sie irgendwo unter den Trümmern begraben.«
»Nehmt Schaufeln mit und seht nach«, befahl Sevigny. »Ich suche die Umgebung des Fahrzeugs ab.«
Er verzichtete auf die Leiter, schwang sich über den Rand des Führersitzes und sank langsam zu Boden. Die von dem Krater aufsteigende Hitze drang durch seinen Schutzanzug. Der Thermostat schaltete auf Kühlung um. Er stolperte über die verkohlten Felsen vorwärts.
Unter dem Vorderteil des Fahrzeugs ragte ein Stiefel heraus! Sevigny ließ sich auf die Knie nieder und grub hastig mit beiden Händen, bis ihm der Schweiß in großen Tropfen über die Stirn und in die Augen lief. Minuten später bebten die Felsen wieder, und aus dem Krater stieg eine Aschewolke auf, von der die Sterne verdunkelt wurden.
Sevigny legte beide Beine frei, erhob sich langsam und atmete tief, bevor er mit aller Kraft daran zerrte. Noch ein kräftiger Ruck, dann löste der Körper sich so plötzlich aus den Felsbrocken, daß Sevigny losließ und einige Schritte nach hinten taumelte. Er kam wieder zurück, schaltete seinen Handscheinwerfer ein und beugte sich über die leblose Gestalt. Es war Leong. Aus einem Riß in seinem Anzug drang eine leichte Dampfwolke, aber einige Blutbläschen um den Mund unter dem Helm schienen sich noch zu bewegen. Sevigny nahm den anderen auf die Arme, richtete sich mühsam auf und stolperte zu dem Fahrzeug zurück.
Ein dumpfes Grollen leitete die erste Magmaeruption ein. Sevigny hob Leong auf die Ladefläche und suchte in den Außentaschen seines Anzugs nach dem selbstklebenden Abdichter. Dann strömte kein Dampf mehr aus. Sevigny erhob sich mit zitternden Knien und schaltete den starken Suchscheinwerfer des Fahrzeugs ein. Das hätte ich schon längst tun sollen. Wie können die anderen mich sonst finden? Daß ich nicht daran gedacht habe! In dem Scheinwerferstrahl erkannte er den Kompressor, der nur wenige Meter von ihm entfernt stand. Aus einer plötzlichen Eingebung heraus schwenkte er den Auslegearm des Krans, senkte ihn über das Gerät und ließ die Greifer zupacken. Das Fahrzeug neigte sich unter der schweren Last, richtete sich aber automatisch wieder auf.
Die Lava strömte wie ein dunkelglänzender Gletscher näher. Sevigny ließ sich in seinen Sitz fallen. »Nakajima!« schrie er. »Youkhannan! Aarons! Zurückkommen! Beeilt euch!« Einen Augenblick lang überlegte er, ob er sie nicht zurücklassen sollte. Sicher konnten sie auch zu Fuß rechtzeitig fliehen … Nein. Jemand mußte sich um Leong kümmern, sonst war er tot, bevor sie das Lager erreichten.
Eine dunkle Gestalt tauchte aus dem Aschenregen auf, dann folgten in kurzen Abständen zwei weitere. Dann hatten sie also Erich nicht gefunden. Sevigny schaltete den Antrieb ein und wartete, bis die anderen an Bord geklettert waren, bevor er losfuhr.
»Einer von euch holt Poy hier herein und behandelt ihn. Die beiden anderen halten sich fest!« sagte er.
In diesem Gelände durfte er nicht mit höchster Geschwindigkeit fahren, obwohl das Mare Serenitatis sich jeden Augenblick unter ihnen öffnen konnte. Wie wenig dieser Name jetzt zutraf! Er konzentrierte sich so sehr auf die Steuerung des Fahrzeugs, daß er gar nicht bemerkte, was um ihn herum vorging. Als er wieder sicheren Boden vor sich sah, stellte er zu seiner Überraschung fest, daß die Kabine luftdicht verschlossen und unter Druck gesetzt worden war.
Er warf einen Blick nach hinten. Leong trug keinen Schutzanzug mehr, sondern ruhte in einem leichten Baumwolltrikot auf der rückwärtigen Sitzbank. Seine Augen waren geschlossen, er atmete unregelmäßig. Aarons, der neben ihm kniete, hatte Helm und Schutzhandschuhe abgelegt.
»Was fehlt ihm?« fragte Sevigny.
»Natürlich Dekompression«, erklärte ihm Aarons. »Wahrscheinlich ein Schock, eine Gehirnerschütterung und vielleicht sogar einige Knochenbrüche.« Er holte eine Injektionsspritze aus dem Erste-Hilfe-Kasten. »Ich gebe ihm jetzt vorbeugend zwanzig Kubikzentimeter ADR, aber es sieht so aus, als hättest du ihn rechtzeitig gefunden. Wo lag er denn?«
»Unter seinem Fahrzeug. Ich nehme an, daß er einfach herausgerutscht sein muß, als es umstürzte. Erich muß fortgeschleudert worden sein.«
Aarons drehte sich um und sah zu der Rauchwolke und der ausströmenden Lava zurück. Er fuhr sich mit der Hand über die Stirn. »Trotzdem brauchen wir nicht mehr nach ihm zu suchen.« Er schwieg einige Zeit, bevor er weitersprach. »Ich bin froh, daß du uns mitgenommen hast, Boß – obwohl wir nicht viel ausgerichtet haben.«
Sevigny machte eine abwehrende Handbewegung.
Die vier unbeschädigt gebliebenen Fahrzeuge – die beiden Wohnwagen, der Bulldozer und der Schaufellader – standen in einiger Entfernung beieinander. Die Männer hatten sich in ihrer Nähe versammelt, aber R’Ku hielt sich abseits. Das Erdlicht schimmerte auf seiner bläulichen Haut. Sein merkwürdiger Schädel schien einen Kranz aus Sternen zu tragen.
Der Marsianer bewegte sich erst, als Sevigny den Wohnwagen erreicht hatte, der einige Krankenbetten enthielt. Ein einziger Sprung genügte, um ihn an das Fahrzeug heranzubringen. Im Flug wirkte seine insektenhafte Gestalt nicht mehr steif oder grotesk, sondern zeigte sich in ihrer ganzen graziösen Beweglichkeit. Als er landete, befand sich sein Kopf auf Sevignys Augenhöhe, obwohl der Fahrersitz fast zwei Meter über dem Boden angebracht war.
R’Kus starrer Blick beunruhigte den Cythereaner schon längst nicht mehr, aber früher hatten ihn die riesigen dunkelgrünen Augen fast erschreckt. Das längliche Gesicht war ihm schon immer apart erschienen. Im Augenblick war es allerdings hinter dem Schutzhelm kaum zu erkennen. Die Mondatmosphäre war unterdessen bereits so dicht, daß die Marsianer keine Schutzanzüge mehr benötigten, aber die Zusammensetzung stimmte nicht ganz. Nicht genügend Stickstoff, zuviel Methan und Ammoniak; und obwohl sie Wasser brauchten, wie die Terraner Vitamine haben mußten, war die Atmosphäre doch zu wasserhaltig für sie.
»Was habt ihr erreicht?« erkundigte sich R’Ku. Die Worte klangen blechern und mechanisch. Sevigny hatte sich schon oft gefragt, ob die Marsianer nicht nur deshalb als gefühllos bekannt waren, weil sie Vokalisatoren benützen mußten, wenn sie sich verständigen wollten. Andererseits ließen ihre Bewegungen nur selten Aufregung erkennen …
»Wir haben Leong geborgen«, antwortete er. »Das Verbindungsrohr muß ausgefahren werden, damit wir ihn in den Wohnwagen bringen können.«
R’Ku erteilte einige kurze Anweisungen. Vier Männer begannen mit der Arbeit. Sie sahen nicht zu Sevigny hinüber.
»Du hast den Kompressor mitgebracht«, stellte R’Ku fest.
»Richtig. Vielleicht hat er versagt. Wir müssen ihn in das Hauptquartier zurückbringen. Hier können wir ohnehin nichts mehr ausrichten. Und Poy muß ins Krankenhaus.«
»Dann ist er also noch zu retten?«
»Ich hoffe es wenigstens.« Sevigny stellte noch eine Frage. »Was würdest du denn mit ihm anfangen, wenn er gestorben wäre?«
»Ich habe gehört, daß die Toten bei euch begraben werden.«
»Auf dem Mars, meine ich.«
»Das hängt ganz von der jeweiligen Kultur ab. Wir in der Großen Konföderation würden die Leiche pulverisieren und in den Wind streuen. Aber in Illach würde sie dem biologischen Kreislauf zugeführt werden; K’nea würde Viehfutter daraus herstellen; Hs’ach …«
»Danke, das genügt.« Sevigny sank müde in seinem Sitz zusammen und bemerkte erst jetzt, wie ausgepumpt er eigentlich war.
Seit seiner Ankunft auf Port Kepler hatte er sich noch nie so einsam gefühlt. Damals war er ein intelligenter junger Ingenieur, dem die Lima Corporation eine Stellung angeboten hatte, obwohl er nur über drei Jahre Berufserfahrung verfügte. Seitdem hatte er sich ausschließlich mit seiner Arbeit und den damit verbundenen Problemen beschäftigt, bis er schließlich Boß einer Tiefbohrmannschaft geworden war. Aber wie wenig wußten die Klans auf der Venus doch von anderen Welten – wie isoliert waren sie auf ihrem wolkenverhangenen Planeten!
Ein Mann lag jetzt tot unter dem geschmolzenen Gestein, weil sein Bohrloch außer Kontrolle geraten und explodiert war …
Er schüttelte sich. »Los, schneller«, befahl er mit heiserer Stimme. »Seht zu, daß das Verbindungsstück angeschlossen wird, damit Poy in den Wohnwagen kommt!«
Der Buffalo legte seine Zigarre in den altmodischen Aschenbecher und wandte sich seinem Besucher zu. »Sehr erfreut. Sie heißen Sevigny? Zuerst dachte ich, Sie seien der leibhaftige Zorn Gottes.«
»Ich komme mir aber eher wie das Ergebnis vor«, murmelte Sevigny.
Der Buffalo lachte. »Na, kommen Sie herein und laden Sie Ihre Kümmernisse bei mir ab. Bringen Sie Ihren schwarzen Freund mit. Ich möchte ihn gern einmal aus der Nähe sehen.«
Sevigny starrte ihn erstaunt an. »Sie meinen Oscar? Woher wissen Sie, daß …«
»Ich habe im Vorzimmer ein Fernsehauge installieren lassen.« Der Buffalo deutete auf den kleinen Bildschirm neben der Gegensprechanlage. »Ich sehe mir die Leute gern an, denen meine Sekretärin sagt, daß ich bei einer Besprechung bin.« Sein breites Gesicht verzog sich zu einem Lächeln. »Ich kann ihr auch von hier aus Anweisungen geben. Über einen winzigen Kopfhörer; deswegen tragen meine Mädchen ihre Haare lang. Falls ich einmal ausnahmsweise nicht bei einer Besprechung sein sollte. Außerdem«, fügte er gedankenvoll hinzu, »sehe ich lange Haare bei Frauen gern.«
Sevigny sah ein, daß er schärfer beobachtet worden war, als er für möglich gehalten hätte. Unwillkürlich näherte er seine rechte Hand dem Griff der Pistole, die er ständig trug. Auf seinem Heimatplaneten griff man im allgemeinen nur nach der Waffe, wenn ein Kampf unmittelbar bevorstand. Er erinnerte sich daran, daß er sich auf dem Mond befand. Trotzdem konnte und wollte er den natürlichen Stolz seines Klans nicht unterdrücken.
»Wie Sie wollen«, antwortete er kurz und ging zur Tür, ohne dem anderen noch einen Blick zu gönnen. Auf der Milchglasscheibe stand in großen schwarzen Buchstaben:
BRUNO NORRIS
EINSATZLEITER
Er riß die Tür auf, streckte seinen Kopf in das Vorzimmer hinaus und pfiff schrill. Oscar sprang vom Stuhl herab, auf dem er geschlafen hatte, rannte durch die offene Tür und erreichte Sevignys Schulter mit einem einzigen Satz.
Die Sekretärin warf dem jungen Mann einen überraschten Blick zu. Er sah ausgesprochen gut aus: ein kräftiger, hochgewachsener Mann mit markanten Gesichtszügen, dichten Augenbrauen und sandfarbenem Haar, das nicht übermäßig ordentlich gekämmt war. Aber die Sonne hatte ihn gebräunt, und er hielt sich aufrecht wie ein Soldat. Auch die lange Tunika mit dem Klans-Abzeichen, die seine Knie freiließ, und die weichen Schaftstiefel waren bemerkenswert, wenn man sie mit der im Augenblick auf der Erde modernen Kleidung – russische Kasacks und Pumphosen – verglich.
Sevigny erwiderte den Blick des Mädchens mit unverhohlenem Interesse. Es schien tatsächlich zu stimmen, daß der Buffalo die hübschesten Mädchen auf dem Mond als seine Sekretärinnen einstellte.
Ein wenig bedauernd, aber gleichzeitig in wesentlich besserer Stimmung ließ er die Tür ins Schloß fallen und drehte sich wieder um. Der grauhaarige Riese hinter dem breiten Schreibtisch wies auf einen Sessel. »Setzen Sie sich endlich. Zigarre?«
»Nein, danke, ich rauche nicht.« Sevigny ließ sich auf dem äußersten Sesselrand nieder.
»Was ist denn mit Ihnen los, wollen Sie ewig leben? Wie steht es mit einem kleinen Drink? Ich schätze, daß die Sonne eben verschwunden ist. Wir können ja nachsehen.« Er griff nach einem Schalter und ließ den Wand-zu-Wand-Bildschirm aufleuchten.
Die Fernsehkamera tastete die Mondoberfläche ab und ließ das Gewirr von unterirdischen Räumen und Verbindungsgängen unberücksichtigt, aus denen Port Kepler zu neunzig Prozent bestand. Der Boden des Kraters erstreckte sich unberührt bis zu dem aufragenden Ringwall, aber in unmittelbarer Nähe des Raumhafens wurden Einstiegtürme, Radargeräte, Kontrollzentren, Bahngleise und ganze Reihen von Sonnenbatterien sichtbar. Die Erde stand als schmale Sichel am Himmel, über den helle Wolkenschleier zogen.
Das rote Gesicht verzog sich zu einem verschmitzten Lächeln. »Hmm«, meinte der Buffalo, »anscheinend müssen wir das Achterdeck etwas erhöhen, denn die Sonne steht noch ziemlich hoch.« Aus einer Schreibtischschublade holte er eine Flasche Cognac und zwei Gläser, aus der anderen Eiswürfel und Sodawasser, die dort gekühlt aufbewahrt wurden.
»Ich weiß nicht recht, Mr. Norris.« Sevigny zögerte. »Schließlich handelt es sich doch um eine sehr ernste Angelegenheit …«
»Großer Gott, Mann! Haben Sie denn gar keine Laster?«
»Oh … in Ordnung. Danke.« Der Cythereaner mußte unwillkürlich lächeln.
Die braune Flüssigkeit ergoß sich in die beiden Gläser. Oscar setzte sich neugierig auf, so daß sein dunkles seidenweiches Fell Sevigny am Hals kitzelte.
»Auf unser gemeinsames Wohl!« Der Buffalo stürzte sein Glas mit einem Zug hinunter und zündete sich eine neue Zigarre an. »Ich gebe auf.
Wie heißt das komische Tier, das Sie da haben?«
»Dirrel. Sie hängen sehr an ihren Besitzern, deshalb mußte ich ihn mitbringen.« Das klang noch immer zu frivol. »In den Shaws, wo ich aufgewachsen bin, hält sich fast jeder einen. Man verirrt sich sonst zu leicht in der Wildnis, wenn man keinen Führer hat, der die höchsten Bäume erklettern kann. Außerdem sind sie gute Spurensucher und ersetzen den besten Jagdhund.«
»Ich dachte immer, daß die Venus zum größten Teil aus Wüsten bestehe.«
»Das trifft schon lange nicht mehr zu, denn einige Landstriche erwiesen sich als äußerst fruchtbar, als sie bewässert wurden. Der Boden enthielt bereits alle notwendigen Nährstoffe, und als die ersten Pflanzen eingesetzt wurden, vermehrten sie sich rasch.«
»Hmm … ja, jetzt erinnere ich mich wieder. Das war vermutlich auch der Grund für die häufigen Fehden zwischen den Klans? Streitigkeiten wegen eines bestimmten Gebiets, das ohne größeren Arbeitsaufwand besiedelt werden konnte. Und wo stammt Ihr kleiner Freund her?«
Sevigny zuckte mit den Schultern. »Ich weiß es selbst nicht genau. Eine Art Nagetier. Sie erreichen ein Gewicht von etwa sieben bis acht Kilogramm, entwickeln kräftige Hände und verfügen über ein ganz brauchbares Gehirn. Oscar kann sich sogar mit mir unterhalten – allerdings nur in seiner Sprache.« Er strich dem Tier mit der Hand über den Kopf. Oscar richtete sich auf und bewegte seinen buschigen Schweif.
»Oh. Richtig. Ich verstehe. Seine Vorfahren – aber no Importe. Ich freue mich, daß Sie mich aufgesucht haben«, sagte der Buffalo. »Manchmal sehne ich mich selbst aus diesem Büro fort und zu den Bohrlöchern zurück. Die meisten Mannschaften sind wirklich eine verrückte Mischung aus allen möglichen Menschentypen. Ich erinnere mich noch an einen Nigerianer …«
Sevigny stellte sein Glas ab und richtete sich in dem Sessel auf. »Ich nehme an, daß Ihre Zeit kostbar ist, Mr. Norris«, unterbrach er den anderen. »Was wollten Sie mit mir besprechen.«
»Das Unglück … Bleiben Sie ruhig, junger Mann. Kein Grund zur Aufregung, denn Sie brauchen sich ja nicht zu verteidigen. Sie haben getan, was Sie konnten. Ich kann mir vorstellen, daß es einen Schock für Sie bedeutet hat, als der erste selbständige Auftrag so in die Binsen ging. Aber Sie haben mehr Überlegung bewiesen als viele Veteranen. Ich möchte eine ausführliche Schilderung des Unglücks von Ihnen. Von Anfang bis zum Ende.«
»Sie haben einen Bericht von mir bekommen.«
»Nehmen wir einmal an, daß ich ihn noch nicht gelesen habe. Nehmen wir weiterhin an, daß ich keine Ahnung von Tiefbohrungen habe. Ich werde Ihnen später den Grund dafür erklären, aber im Augenblick sollen Sie einfach erzählen, wie sich die Sache zugetragen hat.«
Sevigny runzelte die Stirn. Er wußte nicht, was er von diesem ersten Zusammentreffen mit seinem höchsten Vorgesetzten halten sollte. Okay, dachte er dann, Befehl ist Befehl.
»Wir erreichten Bohrloch IV im Mare Serenitatis wie geplant kurz nach Sonnenuntergang«, begann er seinen Bericht. »Während der Bohrturm errichtet wurde, schlug der Rest der Mannschaft das Lager auf. Bis etwa 18.00 Uhr des zweiten Tages schien alles wie gewohnt zu verlaufen. Wir ebneten das Gelände um das Bohrloch herum ein und zogen Gräben, um das Wasser aufzufangen, nachdem die Vermessungsingenieure größere Vorkommen festgestellt hatten. Als sich der Unfall ereignete, war es fast Zeit für einen Schichtwechsel. Decker und Leong standen unter dem Bohrturm, weil sie den Bohrmeißel auswechseln wollten. Die Eruption überraschte sie. Wir konnten Leong retten – sein Zustand hat sich bereits erheblich gebessert –, mußten aber die Suche nach Decker einstellen, weil die Lava zu rasch vordrang, brachen das Lager ab und kamen nach Port Kepler zurück. R’Ku, der einzige Marsianer in unserer Mannschaft, blieb zurück, um das Bohrloch zu beobachten. In seinem letzten Bericht meldete er, daß der Rand eingestürzt und der Ausfluß versiegt sei. Ich habe ihm befohlen, daß er hierher kommen soll. Er müßte bald eintreffen.«
»Worauf ist der Unfall Ihrer Meinung nach zurückzuführen?« wollte der Buffalo wissen.
»Vielleicht auf das Versagen des Kompressors. Wir wußten, daß wir in einer bestimmten Tiefe mit einer Schicht Eis in allotropischer Form rechnen mußten. Als dann der Bohrschlamm nicht mehr unter Druck stand, veränderte sich der Aggregatzustand, und die freiwerdende Energie verdampfte einen Teil des Eises. Dadurch bildete sich eine Höhle, in der das geschmolzene Gestein nach oben steigen konnte.«
»Klingt durchaus einleuchtend. Gute Idee von Ihnen, daß Sie den Kompressor mitgenommen haben.«
»Haben die Techniker eine Fehlerquelle entdeckt?«
»Ich habe einen ausführlichen Untersuchungsbericht erhalten«, antwortete der Buffalo. »In den Zylinderköpfen wurden kristallische Ablagerungen festgestellt. Das Metall ist an diesen Stellen gerissen.«
»Was?« Sevigny fuhr so heftig auf, daß Oscar beinahe von seiner Schulter gefallen wäre. Der Dirrel schnatterte erbost und hielt sich noch fester als zuvor.
»Aber … warum ist das in der Fabrik bei den Kontrollen nicht bemängelt worden?« Sevigny schüttelte verwirrt den Kopf.
Der Buffalo schlug mit der geballten Faust auf die Schreibtischplatte. »Das möchte ich auch wissen«, sagte er dann.
Er beugte sich vor und füllte die beiden Gläser. »Junger Mann«, fuhr er fort, »ich habe schwere Sorgen. Deshalb wollte ich Sie auch sehen, um mir ein Urteil über Sie bilden zu können. Dieser Unfall ist nämlich keineswegs der erste, der nicht hätte passieren müssen.«
»Aber …« Sevigny wollte etwas einwenden, schwieg jedoch.
»Ich habe sie bisher vertuscht«, erklärte Norris. »Aber wenn das so weitergeht, kann ich das nicht mehr auf meine Kappe nehmen. Natürlich gibt es für jeden Unglücksfall eine halbwegs plausible Erklärung. Das Dumme ist nur, daß ich allmählich nicht mehr weiß, wem ich noch trauen kann.«
Er seufzte. Dann sah er dem Jüngeren in die Augen. »Wieviel wissen Sie über die politischen Hintergründe dieses Unternehmens?« fragte er.
»Nun … äh … die Luna Corporation ist eine internationale Gesellschaft, an der die meisten Regierungen beteiligt sind.« Sevigny dachte angestrengt nach. »Das ist alles, was ich darüber weiß«, gab er dann schulterzuckend zu.
»Viel mehr habe ich auch nicht erwartet. Schließlich kommen Sie von einem Planeten, auf dem der Klan die einzige wirtschaftliche und politische Einheit darstellt. Und die Venus hat keine enge Verbindung mit der Erde, weil die Handelsbeziehungen erst ausgebaut werden müssen. Macht nichts, ich werde Ihnen die Lage erklären.«
Sevigny sah ihn erwartungsvoll an.
»Unsere augenblickliche Situation ist wirklich eigenartig«, begann Norris. »Die Menschen haben es noch nicht richtig erkannt, aber die friedliche Zeit nähert sich ihrem Ende. Unsere komplizierte Weltordnung wurde nur durch die völlige Erschöpfung nach dem letzten Weltkrieg möglich. Die Probleme wurden damals nicht gelöst, sondern einfach unter den Teppich gekehrt, während die führenden Staaten den Weltraum eroberten. Jetzt beginnen die Menschen wieder unruhig zu werden. Die Tatsache, daß niemand protestierte, als die Cythereaner ihre Unabhängigkeit erklärten, wird allgemein als Musterbeispiel dafür angesehen, wie sehr die Menschheit sich gebessert hat. Sie müssen entschuldigen, aber ich halte diese Theorie für ausgemachten Blödsinn. Wichtig daran war nämlich nicht, daß niemand der Unabhängigkeitserklärung widersprach, sondern daß Ihre Leute überhaupt auf die Idee kamen. Seitdem hat das System immer mehr Risse bekommen.«
Der Buffalo blies nachdenklich einige Rauchringe in die Luft. »Keine Angst, junger Mann, ich werde Ihnen keinen Vortrag über meine politischen Ansichten halten. Das war nur die Erklärung dafür, daß das Projekt einer Terraformierung des Mondes von Anfang an auf heftigen Widerstand stieß. Die Gründung der Luna Corporation wurde notwendig, weil die Öffentlichkeit sonst zuviel Einfluß gehabt hätte.«
Sevigny nahm einen großen Schluck aus seinem Glas. »Das verstehe ich nicht ganz«, wandte er ein. »Das Venusprojekt war doch wesentlich kostspieliger und bestimmt weniger lohnend …«
Der Buffalo schüttelte den Kopf. »Stimmt nicht, junger Mann. Die Kosten waren damals einfach lächerlich gering, obwohl die Raumschiffe noch viel primitiver und teurer als heutzutage waren. Schließlich mußten die Algen nur gesät werden. Sicher, auch später blieb noch eine Menge zu tun. Die Arbeit ist selbst nach so vielen Jahren noch nicht abgeschlossen. Aber sie wird nach und nach von Privatfirmen durchgeführt. So sind übrigens auch Ihre Klans entstanden. Außerdem ist die Venus ein schönes Stück weit entfernt. Der Morgen- und Abendstern, sonst nichts. Sie hängt nicht über der Erde, sie steigt nicht wie ein Kürbis hinter den Hügeln auf, um sich wieder in Erinnerung zu bringen.
Wahrscheinlich wären Sie überrascht, wenn Sie wüßten, mit welcher Energie manche Menschen dagegen kämpften, daß der Mond verwandelt werden sollte – aus reiner Sentimentalität. Auf der Erde leben genügend ältere Leute, die sich noch immer nicht damit abgefunden haben. Und wenn es sich außerdem um eine Welt handelt, auf der zu Anfang keine Atmosphäre vorhanden ist … nun, Sie sollten einmal hören, mit welchem Gejammer unsere finanziellen Forderungen bewilligt werden. Aber vor allem gibt es Menschen auf der Erde, die sehr daran interessiert sind, daß dieses Projekt nicht verwirklicht wird.«
Sevigny runzelte die Stirn. »Wollen Sie damit sagen, daß es sich bei dem Unglück um Sabotage handeln könnte, Mr. Norris?«
»Ich weiß es nicht. Wirklich nicht. Aber einige schwere Rückschläge würden doch politische Munition abgeben, finden Sie nicht auch?«
Sevigny schüttelte den Kopf. »Tut mir leid, aber ich bin der Meinung, daß die Erde sich festgelegt hat. Ich meine durch die riesigen Beträge, die bereits in diesem Projekt stecken – die kann man doch nicht einfach abschreiben. Oder doch?«
»Eines unserer besten Argumente«, stimmte Norris zu. »Da fällt mir übrigens ein, daß ich Ihnen einige Bücher mitgeben wollte, die Sie lesen sollten. Alle behandeln politische Themen, sind aber trotzdem durchaus interessant.«
»Ich muß Ihnen ehrlich sagen, daß ich mich nie sehr um politische Dinge gekümmert habe. Politik langweilt mich.«
»Das beweist nur, daß Sie nicht genug darüber wissen, junger Mann. Sie sollten sich wirklich damit befassen, bevor Sie auf die Erde kommen.«
»Was? Aber ich hatte doch gar nicht die Absicht …«
»Ich kann im Augenblick unmöglich von hier fort«, erklärte Norris. »Andererseits weiß ich nicht mehr, wem ich noch trauen darf. Aber Sie gehören keiner der Parteien an, sind intelligent und vermutlich ein harter Bursche. Und der Vertrag von Toronto gibt Ihnen das Recht, zu jeder Zeit und an jedem Ort Waffen zu tragen. Ich möchte nur, daß Sie den Kompressor, den Sie geborgen haben, auf die Erde in das Hauptquartier des Weltsicherheitsdienstes bringen, damit er dort gründlich untersucht werden kann. Das kristallisierte Metall sieht nämlich sehr nach Sabotage aus. Eine größere Strahlendosis könnte die Ursache dafür sein, aber wie sollte das zufällig passiert sein? Sie fahren offiziell als mein Beauftragter, der einige Konstruktionsänderungen besprechen soll – damit niemand auf komische Gedanken kommt. Was halten Sie davon?«
»Oh!« rief die junge Frau aus. »Entschuldigen Sie, bitte.«
Sevigny stützte sie, indem er sie am Ellbogen festhielt, bis sie wieder das Gleichgewicht gefunden hatte. Ihr langes Abendkleid mit den Silbersandalen zog die Blicke der Männer in der Hotelhalle auf sich.
Der Inhalt ebenfalls. Die junge Frau schien eine Eurasierin zu sein, obwohl sie für diesen Menschentyp ungewöhnlich groß war, und das tief ausgeschnittene Kleid saß wie eine zweite Haut. »Keine Ursache«, wehrte Sevigny ab. »Gern geschehen.«
Sie lachte. »Ich wußte gar nicht, daß ein wilder cythereanischer Krieger ein so nettes Kompliment machen kann.« Sevigny hätte am liebsten ebenfalls gelacht, aber in diesem Fall mußte er etwas zur Ehrenrettung seines Klans sagen. »Ist das die hier allgemein verbreitete Ansicht? Ein Irrtum, Mylady. Wir arbeiten hart und kämpfen nur, wenn wir angegriffen werden.«
»Stimmt.« Sie lächelte ihn an. »Wieder eine Illusion weniger. Sind Sie heute angekommen? Wahrscheinlich, denn sonst wären Sie mir schon früher aufgefallen.«
»Ja, mit dem planmäßigen Raumschiff vom Mond.«
»Vom Mond?« Ihre dunklen Augen weiteten sich erstaunt. »Dann haben Sie bestimmt etwas mit der Terraformierung zu tun?« Er nickte. »Wie aufregend! Wie lange bleiben Sie noch hier?«
»Nur noch bis morgen, Mylady. Ich bin in einer dringenden Angelegenheit hier.«
Ursprünglich hatte er von dem Raumhafen im Pazifik sofort nach Paris weiterfliegen wollen. Aber dann stellte sich heraus, daß in den nächsten Tagen keine Maschine eingesetzt wurde, die außer den Passagieren auch den schweren Kompressor befördern konnte. Sevigny war fluchend mit einem Schiff nach Honolulu gefahren und hatte dort eine Maschine gechartert. Jetzt stand der Kompressor im Keller des Hotels, und er hatte einen Abend zur freien Verfügung.
Er brauchte sich keine Sorgen zu machen. Gegen ein gutes Trinkgeld war der Portier damit einverstanden gewesen, daß Oscar im Keller Wache hielt. Der Dirrel konnte über einen Kurzwellensender Alarm geben, falls unerwarteterweise Sevignys Eingreifen notwendig werden sollte, denn sein Besitzer trug den Empfänger bei sich.
»Schade«, meinte die junge Frau bedauernd. Sie runzelte die Stirn. »Bitte, halten Sie mich nicht für aufdringlich. Auf Ihrem Heimatplaneten herrschen vielleicht ganz andere Sitten. Aber … haben Sie für heute abend schon etwas vor?«
»Nein. Ich wollte gerade zum Essen gehen.« Sevignys Herz schlug rascher. »Würden Sie mir vielleicht dabei Gesellschaft leisten, Mylady?«
»Sogar sehr gern. Sie dürfen mich nicht falsch verstehen, aber alles, was mit anderen Welten zu tun hat, fasziniert mich einfach. Man hört so viele verschiedene Meinungen und sieht Dokumentarfilme im Fernsehen – aber das sind alles Informationen aus zweiter Hand. Sie sind der erste Mann, den ich kenne, der wirklich etwas darüber weiß.«
Sevigny beherrschte sich sehr, um ihr nicht zu zeigen, daß er sich über ihre Zusage freute. »Das überrascht mich«, stellte er fest. »Ich dachte immer, daß die Menschen in den oberen Gesellschaftsschichten so ziemlich jeden kennen.«
Sie sah lächelnd zu ihm auf. »Ich gehöre aber nicht zu der obersten Gesellschaftsschicht. Sicher, mein Vater hat einen Haufen Geld, aber er hat es in der Vergnügungsindustrie verdient.« Sie blinzelte ihm lustig zu. »Dann habe ich also ein Rendezvous mit einem Mann, dessen Namen ich nicht einmal weiß. Ich heiße Maura Soemantri – geboren in Djakarta, aufgewachsen in Chicago und hier zum Wellenreiten.«
»Donald Sevigny, vom Klan Jäger in den Shaws, stets zu Ihren Diensten.« Er deutete eine Verbeugung an.
Sie berührte seine Hand einen Augenblick lang, bevor sie wieder sprach. »Ich sollte heute abend im Klub essen, aber Sie sind bestimmt interessanter. Ich muß nur anrufen, daß ich nicht komme. Entschuldigen Sie mich bitte eine Minute. Ich bin gleich wieder zurück.«
Sevigny sah ihr bewundernd nach. Er hatte sich unerwartet schnell an die höhere Schwerkraft auf der Erde gewöhnt, aber erst jetzt fiel ihm auf, wie graziös der Gang einer Frau dadurch wurde.
Dann überlegte er sich, wie diese Zufallsbekanntschaft sich weiterhin entwickeln konnte. Wahrscheinlich würde der Abend mit Maura kein billiges Vergnügen werden, weil sie bestimmt erstklassige Lokale bevorzugte. Andererseits hatte er überreichlich Geld zur Verfügung, das er nach Belieben ausgeben durfte, ohne später darüber abrechnen zu müssen. Warum also nicht? Ihre Gesellschaft versprach amüsanter zu sein als ein einsam verbrachter Abend. Und ihrem Gang nach zu urteilen, hatte sie ihn sicher nicht nur aus Versehen angestoßen!
Maura kehrte wenige Minuten später zurück. Sie nahm seinen Arm und sah ihn erwartungsvoll an. »Eigentlich müßte ich jetzt ein Restaurant vorschlagen«, sagte er. »Aber als Fremder in diesem Aufzug …«
»Machen Sie sich deswegen keine Sorgen«, bat sie. »Hier auf der Erde paßt eine Uniform immer – vom Imperial Saturn Hotel bis zur finstersten Verbrecherkneipe. Und Ihre Tunika ist doch eine Art Uniform, nicht wahr? Das Dachgartenrestaurant hier im Haus gefällt mir fast am besten. Die Aussicht ist herrlich.«
»Bestimmt«, meinte Sevigny und betrachtete sie von der Seite.
Als die Fahrstuhltür sich wieder öffnete, wurden sie von einem Ober im Frack empfangen und an einen Tisch an der Brüstung geleitet. Sevigny hatte sich längst abgewöhnt, noch darüber zu staunen, wie viele Menschen trotz der vollautomatisierten Lebensweise auf der Erde noch arbeiteten. Was sollte der Großteil der Bevölkerung denn anderes tun? Schließlich konnten nicht alle Ingenieure werden. Er hatte sich auch daran gewöhnt, daß er überall angestarrt wurde. Hier geschah das durchaus unauffällig, aber Sevigny wußte, daß er im Mittelpunkt der allgemeinen Aufmerksamkeit stand.
Maura beobachtete ihn, während er auf Honolulu hinuntersah, das sich wie ein Meer aus bunten Lichtern bis zum Horizont erstreckte. »Ja«, stellte sie dann fest, »die gute alte Erde ist wirklich schön, finden Sie nicht auch?«
»Wenigstens hier«, gab er zurück.
»Hmm … ich nehme an, daß Sie Aufnahmen und Statistiken gesehen haben. Der größte Teil des Planeten hat sich zum Nachteil verändert. Zu viele Menschen, zu wenig Platz für alle. Ihre Vorfahren hatten recht, als sie die Venus besiedelten. Aber glauben Sie wirklich, daß es dort eines Tages wie hier aussehen wird?«
»Vielleicht.« Sevigny dachte einen Augenblick lang sehnsuchtsvoll an die windgepeitschten Wälder, die Frühnebel über den Bergen und den fortwährenden Kampf mit der Wildnis zurück. »Hier und da ist ein Landstrich bereits … nein, das läßt sich nicht miteinander vergleichen. Unmöglich. Aber wir haben genügend Raum.«
Er wies auf den Mond. Die künstlich geschaffene Atmosphäre ließ die scharfen Umrisse verschwinden und veränderte das bleiche Leuchten zu einem strahlenden Glanz. »Ihr Terraner braucht nur noch wenige Jahrzehnte Geduld zu haben, dann ist dort oben genügend Raum für euch«, erklärte er ihr.
»Sind Sie davon überzeugt?«
»Selbstverständlich. Die Mondoberfläche entspricht etwa einem Viertel der gesamten Landfläche der Erde.«
Die Cocktails wurden serviert. Maura lächelte und stieß mit ihm an. »Ich fürchte, Sie sind ein unverbesserlicher Idealist, Don. Trotzdem – herzlich willkommen auf der Erde.«
Als eine Stunde später die letzten Teller abgetragen wurden – Maura hatte bestellt, weil Sevigny nichts mit den fremden Namen auf der Speisekarte anfangen konnte –, lehnte Don sich zurück und sah nachdenklich zu ihr hinüber. »Ich muß mich bei Ihnen bedanken«, begann er, »denn ohne Ihre freundliche Hilfe säße ich vermutlich noch jetzt vor der Karte, ohne ein Wort davon zu verstehen. Wie kann ich mich dafür erkenntlich zeigen?«
»Zeigen Sie mir Ihren Planeten – wenn ich je eine Flugkarte dorthin erwische.«
»Sie müssen es unbedingt versuchen, denn die Gelegenheit bietet sich so schnell nicht wieder. Der Mond ist natürlich von hier aus leichter zu erreichen. Aber vorläufig ist die Luft dort oben noch nicht atembar.«
»Wenn sie das überhaupt jemals wird.«
Er sah sie überrascht an. »Warum bezweifeln Sie das?«
»Oh … man hört und liest so viele Berichte darüber. Zum Beispiel, daß das Magnetfeld der Erde uns vor einem Teil der Weltraumstrahlung schützt. Ist das nicht richtig? Und der Mond hat doch fast kein Magnetfeld.«
»Die Venus auch nicht. Wenn die Atmosphäre dicht genug ist, spielt das fast keine Rolle. Unsere ist wesentlich dichter als die der Erde.«
»Aber der Mond ist doch so klein! Wie sollen die Gase da an Ort und Stelle bleiben?«
»5ie verflüchtigen sich nicht so schnell, wie man früher angenommen hat. Nach den letzten Schätzungen dauert es mindestens eine halbe Million Jahre, bevor die Verluste kritisch zu werden beginnen. Außerdem hat der Mond der Erde die niedrigere Schwerkraft voraus. Bei einem geplanten Luftdruck, der etwa fünfundzwanzig Prozent geringer als der durchschnittliche Luftdruck auf der Erde ist, erstreckt sich die Atmosphäre bis in Höhen, wo hier der Weltraum schon längst begonnen hat. Elektrisch geladene Teilchen werden nicht sehr tief in den Luftraum eindringen, während aktinische Strahlen völlig absorbiert werden.«
»Ich habe aber auch gelesen, daß vielleicht gar nicht genug Gas zur Verfügung steht.«
»Die Selenologen schwören jeden Eid, daß genügend vorhanden ist. Selbstverständlich nicht bereits in gasförmigem Zustand. Als Eis, als Kristallwasser, in Verbindungen mit Kohlenstoff, Stickstoff und Schwefel, die freigesetzt werden können. Wir versuchen mit Hilfe von Tiefbohrungen und Atombomben natürliche Vulkane zu schaffen, um dadurch den gleichen Prozeß einzuleiten, dem sämtliche kleineren Planeten ihre Atmosphäre verdanken. Allerdings beschleunigen wir den gesamten Ablauf so sehr, daß er nur noch Jahrzehnte statt Jahrmillionen dauert.«
»Aber was geschieht, wenn die Berechnungen sich als falsch erweisen?«
»Auch für diesen Fall ist bereits vorgesorgt. Man braucht einfach nur ein paar Kometen aus ihrer Bahn abzulenken und auf den Mond stürzen zu lassen, denn sie bestehen zum größten Teil aus gefrorenen Gasen.« Sevigny lachte. »Jedenfalls steht heute schon fest, daß die letzte Phase des Unternehmens äußerst sehenswert sein wird – von der Erde aus, weil man sich da in sicherer Entfernung befindet.«
»Und was haben Sie dann erreicht?« erkundigte Maura sich. »Giftgase?«
So ungebildet kann sie doch unmöglich sein, überlegte er. Oder doch? Macht vermutlich nur Konversation. Will mir Gelegenheit geben, mein Wissen zu zeigen. Auch recht.
»Auf der Venus waren die Verhältnisse nicht sehr viel besser«, erklärte er ihr. »Stickstoff, Kohlenstoffdioxyd und Wasser in den Wolken.
Aber die Algen, die sich durch Photosynthese ernährten, fanden ideale Lebensbedingungen vor. Zunächst wurde dadurch Sauerstoff frei, während die abgestorbenen Teile der Pflanzen Kohlenstoff und Wasser abgaben. Die Treibhaustemperaturen sanken ständig, bis es schließlich bei etwa fünfunddreißig Grad Celsius zu regnen begann – das allerdings zehn oder elf Jahre ohne Pause. Nachdem einmal genügend Wasser vorhanden war, setzte der Urey-Prozeß ein, der Boden nahm einen Teil des Kohlenstoffdioxyds auf, und allmählich entstand eine Atmosphäre, in der Menschen leben konnten.« Er nahm einen Schluck aus seinem Glas. »Die ultraviolette Strahlung erwies sich als äußerst nützlich, weil dadurch Wasserstoffverbindungen abgebaut wurden. Damit wäre also bewiesen, daß die Terraformierung durch ein schwaches Magnetfeld begünstigt wird.«
»Das alles wollen Sie also auch auf dem Mond erreichen?«
»Was denn sonst? Selbstverständlich mit gewissen Abänderungen. Die Verhältnisse auf dem Mond lassen sich nicht ohne weiteres mit denen vergleichen, die früher auf der Venus oder der Erde herrschten. Aber trotzdem haben wir ganz bestimmte Vorstellungen von unserer Arbeit innerhalb der nächsten Jahrzehnte.« Er dachte an Decker, der unter den Trümmern des Bohrturms begraben lag, und schloß einen Augenblick lang die Augen.
»Was haben Sie denn?« fragte Maura. »Nichts.« Sevigny trank das Glas aus. »Ich habe eben nur an einen Unfall gedacht, den wir vor einigen Tagen hatten. Ich möchte lieber nicht darüber sprechen.«
Im gleichen Moment wies der Ober zwei Männern den Nebentisch an. Sevigny starrte unwillkürlich hinüber. Wenn er in der Schule richtig aufgepaßt hatte, mußte der eine aus Indien stammen, der andere jedoch Araber sein. Dann besann er sich wieder auf seine guten Manieren. Außerdem war Maura hübscher.
»Ich habe schon gehört, daß die Arbeiten ziemlich gefährlich sind«, sagte sie eben. »Das verärgert viele Leute, die ohnehin der Meinung sind, daß das Projekt bereits mehr Geld verschlungen hat, als es überhaupt wert ist«
»Diese Auffassung verstehe ich einfach nicht«, gab er zurück und freute sich, daß er ihrer Frage nach den Unfällen so geschickt ausgewichen war. »Ich finde, daß eine neue Welt jeden Preis wert ist, den man dafür bezahlen muß.«
»Aber wie viele Menschen werden daraus einen Nutzen ziehen? Auch das entwickelt sich allmählich zu einer Streitfrage. Viele behaupten, daß nur reiche Leute sich einen Flug dorthin und einen längeren Aufenthalt werden leisten können.«
»Reine Demagogie, Mylady. In den Statuten der Gesellschaft heißt es, daß ein Viertel der Mondoberfläche für Erholungszwecke bereitgestellt werden muß. Außerdem garantieren wir bereits jetzt, daß Mondflüge später fast umsonst sein werden, weil der Abbau der reichen Mineralvorkommen die entstehenden Unkosten zum größten Teil decken wird. Dort oben wird einmal ein grünes Paradies entstehen, das den Großstadtmenschen der Erde wieder die ganze Schönheit der unberührten Natur vor Augen führen wird. Und dann …«
»Ti’ki!«
Das Weinglas fiel Sevigny aus der Hand und zerschellte auf dem Fußboden.
»Don«, flüsterte Maura eindringlich, »was ist denn plötzlich in Sie gefahren?«
Er holte den winzigen Empfänger aus der Tasche und legte ihn an das Ohr. »R-r-rik-ik-ik, ti’ki, ti-ki, rik-ik, di!«
Oscar hatte keine Worte für den großen Lagerraum im Keller oder eine Rampe, die ins Freie hinausführte, oder einen Kranwagen. Aber genau das schien er beschreiben zu wollen. Männer kommen, vier Männer kommen, Maschine, Angst, jagen Oscar, Ding – Oscar – bewacht verschwindet, Don, komm, ti’ki, ki, ki!
Sevigny sprang auf und hatte die Fahrstuhltür schon fast erreicht, bevor Maura einen Schrei ausstoßen konnte.
Der Ober, eine schattenhafte Gestalt, eine abwehrende Handbewegung. »Kann ich Ihnen behilflich sein, Sir?«
»Nein!« Sevigny riß sich los und rannte weiter auf den Ausgang zu.
Der Fahrstuhl war nicht oben. Er drückte mehrmals hintereinander auf den Knopf, während Oscar in seinem Versteck über den Heizungsrohren weiterschnatterte.
Maura hatte ihn inzwischen erreicht. Er spürte kaum, daß sie ihn am Ärmel zog. Auch ihre Tränen machten keinen Eindruck. »Don, Don, was ist denn passiert? Sind Sie plötzlich übergeschnappt? Bitte, kommen Sie an den Tisch zurück …«
Die Fahrstuhltür öffnete sich. Sevigny stieß Maura beiseite. »Vielleicht bin ich bald wieder hier«, beruhigte er sie.
Ein Mann drängte sich an ihm vorüber in die Kabine. Er erkannte den Inder vom Nebentisch, wollte ihn wieder hinausdrängen und bekam ihn nicht zu fassen.
»Ich will Ihnen nur helfen«, sagte der Inder mit leiser Stimme.
Jetzt war keine Zeit mehr zu verlieren. Sevigny drückte auf den untersten Knopf. Die Fahrstuhltür schloß sich vor Maura, die sich von ihrem Schrecken erholt zu haben schien.
»Darf ich vorschlagen, daß Sie den Hoteldetektiv verständigen«, sagte der Inder, als der Fahrstuhl sich in Bewegung setzte.
Sevigny dachte einige Sekunden lang nach. Auf diesen Gedanken wäre er nie selbst gekommen; jeder Angehörige eines Klans half sich ohne Unterstützung von anderer Seite. »Wollen Sie das für mich tun?« bat er dann. »Vielleicht auch gleich die Polizei. Im Lagerraum 101 wird ein Diebstahl verübt.« Er lud seine Pistole durch. »Ich werde ihn nach Möglichkeit verhindern. Sie fahren wieder in die Halle hinauf und geben Alarm.«
»Ist die Angelegenheit wirklich so wichtig, daß Sie das Risiko auf sich nehmen wollen?«
Der Auftrag mußte erfüllt werden. »Ja.«
»Wie Sie es für richtig halten. Ich muß Ihnen nur noch erklären, weshalb ich mitgekommen bin – in meiner Eigenschaft als Arzt.« Der schmale dunkle Kopf neigte sich leicht. »Dr. Krishnamurti Lal Gupta aus Benares. Ich fürchtete schon, Ihnen sei plötzlich schlecht geworden.«
Rik-ik-dtik-ri-ch, Don, komm, komm schnell, klang es aus dem Empfänger. Sekunden später hielt der Fahrstuhl im Keller an. Sevigny sprang mit einem Satz durch die geöffnete Tür in den bläulich beleuchteten Gang hinaus.
Dann spürte er einen Stich zwischen den Schulterblättern und warf sich mit einem Fluch herum. Gupta stand einige Meter hinter ihm und hielt eine winzige Pistole in der Hand. Er lächelte noch immer. Sevigny wollte seine Waffe heben, hatte aber nicht mehr die Kraft dazu. Seine Knie gaben nach, dann sank er bewußtlos in sich zusammen.
Sein erster Eindruck war wieder das braune Gesicht, das den gleichen widerlich freundlichen Ausdruck trug. Als er sich langsam aufrichtete, trat Gupta einige Schritte zurück. Diesmal hielt er eine Injektionsspritze in der Hand. Sevigny sprang wütend auf, als er merkte, daß die Wirkung des Betäubungsmittels bereits verflogen war.
»Halt! Keine Bewegung mehr!« sagte ein Mann von der gegenüberliegenden Wand her. Dort drüben stand der Araber, der mit Gupta an einem Tisch gesessen hatte, und zielte mit einer Pistole auf den Cythereaner.
»Warum nicht gleich so friedlich?« fragte ein dritter Mann von seinem Sessel aus, als Sevigny wie angewurzelt stehenblieb. Der Unbekannte war klein, untersetzt und dicklich, aber sein Kinn verriet eine gewisse Willensstärke. Auch seine Stimme klang erstaunlich jung. »Mama mia! Hast du schon einmal erlebt, daß jemand so schnell wieder aufwacht, Krishna?«
»Selten, Mr. Baccioco«, antwortete der Inder. »Aber er ist sehr kräftig und ziemlich erregt. Beruhigen Sie sich doch, Klansmann. Wir haben nichts Böses mit Ihnen vor.«
Eine Tür öffnete sich. Maura kam herein. Sevigny beachtete sie kaum, sondern konzentrierte sich zunächst auf Oscar, der im gleichen Augenblick hereingerannt kam und auf seine Schulter sprang. Der Dirrel schnatterte so hastig, daß kein Wort zu verstehen gewesen wäre.
Maura ließ sich in einen Sessel fallen. Sie hatte das Abendkleid mit Hose und Bluse vertauscht, aber der Effekt blieb erstaunlich. Gupta lehnte sich bequem gegen die Rückenpolster der Couch unter den verhangenen Fenstern. Der ältere Mann, Baccioco, ging unruhig auf und ab, wobei er die Arme vor der Brust verschränkte. Der Araber blieb in seiner Ecke, ließ die Pistole sinken, beobachtete Sevigny aber weiterhin wachsam. Ein elektrisches Chronometer an der Wand des Appartements zeigte 23.46 Uhr.
»Hat der kleine Kerl jetzt keine Angst mehr um sein Herrchen?« erkundigte Gupta sich lächelnd. »Schön, schön. Klansmann Sevigny, ich hoffe, daß Sie seine Anwesenheit als Beweis für unsere guten Absichten betrachten. Er klammerte sich an Sie, als Sie bewußtlos am Boden lagen, und war so verzweifelt, daß ich es nicht über das Herz brachte, ihn im Keller zurückzulassen. Allerdings mußte ich ihn leider ebenfalls betäuben, weil er zu laut war.«
»Danke«, antwortete Sevigny kurz.
»Bitte, nehmen Sie Ihre augenblickliche Situation nicht zu ernst, denn »Sie widert mich direkt an. Ich könnte mich am liebsten selbst ohrfeigen«, unterbrach Sevigny ihn. Er starrte Maura an, bis sie seinen Blick bemerkte und zu ihm aufsah. »Ich bin in die älteste Falle des Universums gegangen, nicht wahr?« Er spuckte ihr vor die Füße.
»Maroni« Baccioco machte eine indignierte Handbewegung. »Benimmt man sich so einer Dame gegenüber? Reißen Sie sich gefälligst zusammen!«
»Wir müssen seine begreifliche Erregung berücksichtigen, Sir«, beruhigte ihn Gupta.
Maura biß sich auf die Unterlippe. »Wir wollten Ihnen nie etwas zuleide tun, Don«, sagte sie entschuldigend. »Ich sollte Sie nur beschäftigen, bis das Ding aus dem Keller abtransportiert war. Und noch einige Zeit länger. Meinetwegen hätte alles nach Plan gehen können, denn ich fand Ihre Gesellschaft wirklich amüsant.«
»Wie haben Sie davon erfahren?« wollte der Araber wissen.
»Halt den Mund, Raschid«, wies Baccioco ihn zurecht.
»Das ist allerdings eine Frage, die ich auch schon stellen wollte«, warf Gupta ein. »Wollen Sie uns das nicht erklären, Klansmann?«
Sie wissen nicht, daß Oscar mit mir sprechen kann. Vielleicht ist das eine Möglichkeit. Vielleicht. Sevigny zuckte mit den Schultern. »Ich hatte ein Abhörmikrophon und einen Minisender über den Heizungsrohren versteckt. Den dazugehörigen Empfänger haben Sie ja in meiner Tasche gefunden.«
»Hmm, das könnte stimmen«, meinte Baccioco nach einer längeren Pause. »Ich werde morgen danach suchen lassen, um ganz sicherzugehen. Aber was fangen wir jetzt mit Ihnen an? Sie wollen nicht hierbleiben, und wir wollen Sie nicht hier haben. Wissen Sie einen Ausweg?«
»Ich schlage vor, daß wir uns so miteinander unterhalten, wie es unter zivilisierten Menschen üblich ist«, sagte Gupta. Er lächelte wieder. »Maura, würden Sie den Kaffee hereinbringen? Oder zieht einer der Herren stärkere Erfrischungen vor?«
Als keiner antwortete, stand die junge Frau auf und verließ wortlos den Raum. Sie hielt den Kopf gesenkt.
»Setzen Sie sich doch, meine Herren«, fuhr Gupta fort. Baccioco zog sich einen Lehnstuhl heran. Sevigny zögerte einen Augenblick, bevor er sich in einem anderen niederließ. Raschid blieb unbeweglich in seiner Ecke stehen.
»Wir sollten so höflich sein, unserem Gast zu erzählen, wem er diesen unfreiwilligen Besuch macht«, sprach Gupta weiter. »Signor Baccioco ist sicher damit …«
»Nein!« unterbrach ihn der Italiener. »Ja«, antwortete Gupta. »Überlegen Sie doch selbst. Falls Klansmann Sevigny sich später noch an Ihren Namen erinnert, braucht er nur den nächsten Hotelportier zu fragen, um zu erfahren, daß Ercole Baccioco Generaldirektor der Eurobau AG ist.
Sie sind einfach zu bescheiden, Sir … Unser Freund dort drüben heißt Raschid Gamal ibn Ayith und repräsentiert die Bruderschaft der Fatimiten innerhalb unserer Vereinigung. Ich selbst bin tatsächlich Arzt, bin aber eher durch meine Tätigkeit an der Spitze der Konservativen Partei Indiens bekannt geworden.«
Ein Industrieller, ein Politiker und ein religiöser Fanatiker. Das Mädchen steht anscheinend in ihren Diensten wie die Arbeiter, die den Kompressor abtransportiert haben. Was hatten sie vor? fragte sich Don.
»Die Angelegenheit scheint wichtig zu sein, denn sonst wären Sie alle wohl kaum um diese Zeit hier«, stellte er fest.
»Sie haben recht«, stimmte Gupta zu. »Wir mußten Ihnen unbedingt den Kompressor abjagen. Durch unsere Verbindungen arrangierten wir, daß Sie in Honolulu übernachten müssen. Aber Sie dürfen mir glauben, daß keine persönlichen Unannehmlichkeiten beabsichtigt waren. Das war ein unglücklicher Zufall.«
»Was wollten Sie mit dem Kompressor?« erkundigte Sevigny sich neugierig.
Keine Antwort. Maura brachte Kaffee und blieb bei Sevigny etwas länger als bei den anderen stehen. Er beachtete sie nicht. Raschid lehnte ab.
»Eine Auskunft ist eine andere wert«, begann Gupta nach einer kleinen Pause. »Wenn Sie uns sagen, was Sie bereits wissen oder nur vermuten, werden wir uns erkenntlich zeigen. Sogar sehr gern. Vielleicht begreifen Sie dann, wie altruistisch unsere Motive in Wirklichkeit sind. Wer weiß, unter Umständen schließen Sie sich sogar uns an.«
»Woher wissen wir, daß er nicht lügt?« knurrte Raschid.
»Was haben Sie eigentlich gegen mich?« wollte Sevigny wissen.
Die Pistole zeigte plötzlich wieder auf seine Brust. »Ihr schändet Gottes Werke!«
»Wie Sie vielleicht wissen, lehnt die Bruderschaft der Fatimisten jede Art von Terraformierung strikt ab«, warf Gupta ein. »Ihrer Oberzeugung nach müssen die Arbeiten auf dem Mond unverzüglich eingestellt werden, damit der bereits entstandene Schaden nicht vergrößert wird.«
»Und Sie?« Sevigny wandte sich an den Arzt.
Gupta lachte lautlos. »Hoffentlich erwarten Sie keine dramatische Begründung meiner Handlungsweise von mir. Dergleichen Dinge gibt es höchstens auf dem Fernsehschirm. Meine Partei behauptet völlig offen – wie viele andere auch –, daß das Mondprojekt eine unverantwortliche Vergeudung wertvollster Rohstoffe darstellt, die sich vielleicht nie bezahlt macht.«
»Ist denn Ihre Regierung nicht auch an der Luna Corporation beteiligt?«
»Leider. Die Regierungspartei ist in diesem Punkt anderer Auffassung als wir. Dabei verhungert die Bevölkerung unseres Landes allmählich. Dort müßte man die Rohstoffe und das Geld einsetzen!« Als er seine Tasse leerte, zitterten ihm die Hände.
»Und … hmm.« Sevigny sah zu Baccioco hinüber. »Eurobau AG. Vermutlich in allen Erdteilen tätig. Die Aussichten für fette Verträge zur Bewässerung von Wüsten und so weiter steigen natürlich, wenn die Arbeiten auf dem Mond eingestellt werden. Oder irre ich mich da?«
Baccioco wurde rot. »Hier dreht es sich nicht um Geld, sondern um vernünftige Prinzipien.«
»Das behaupten Sie. Aber Sie sind sich doch darüber im klaren, daß die Terraformierung des Mondes im Laufe der Zeit auch für die Erde Vorteile bringen wird?«
»Der Lauf der Zeit ist in diesem Fall zu langsam«, sagte Gupta. »Bis dahin sind wir verhungert.«
»Ich habe Ihnen doch erzählt, daß wegen dieses Projekts politische Kämpfe ausgebrochen sind«, warf Maura mit leiser Stimme ein.
»Die Sie wahrscheinlich verlieren werden«, stellte Sevigny fest.
»Wie kommen Sie auf diese verrückte Idee?« protestierte Baccioco wütend.
»Sonst brauchten Sie ja die Arbeiten nicht zu sabotieren.«
»Sie irren sich«, erklärte Gupta. »Ich schwöre Ihnen, daß Sie Ihren Kompressor nie vermißt hätten, wenn alles wie geplant verlaufen wäre. Leider darf ich Ihnen nicht mehr darüber erzählen, sonst könnte ich beweisen, daß dieser Vorwurf nicht gerechtfertigt ist. Aber jetzt sind Sie an der Reihe, Klansmann.«
»Was könnte ich Ihnen schon erzählen? Schließlich bin ich nur eine Art Laufbursche.«
»Sie haben sich einige Male sehr ausführlich mit Mr. Bruno Norris unterhalten. Was weiß er? Wieviel vermutet er?«
Sevigny lehnte sich in seinen Sessel zurück und grinste unverschämt.
Raschid trat einen Schritt auf ihn zu. »Sie werden sprechen«, drohte er. »Ich kenne einige Methoden …«
»Bitte.« Gupta hob abwehrend die Hand. »Wir wollen keine Gewalt anwenden, sondern uns gemütlich miteinander unterhalten.«
»Warum denn so zaghaft?« erkundigte sich Baccioco. »Reden muß er auf jeden Fall!«
»Was hilft es mir, wenn ich spreche?« fragte Sevigny. »Lebend komme ich hier sowieso nicht mehr heraus – sonst hätten Sie mir weniger offen Auskunft gegeben. Also?«
Die drei Männer schwiegen. Der Cythereaner dachte angestrengt nach. Vielleicht hat Gupta vorhin wirklich nicht gelogen … Ja, das müssen sie vorgehabt haben – den Kompressor durch einen anderen ersetzen, der auf natürliche Weise beschädigt wurde.
Aber jetzt kann ich über die Hintergründe aussagen. Von mir aus dürfen sie mir ruhig ein Wahrheitsserum einspritzen. Und dann beginnt eine gründliche Untersuchung der ganzen Angelegenheit.
Wenn ich hier wieder lebendig herauskomme …
Gupta beugte sich vor. »Klansmann«, sagte er freundlich, »wir verfolgen ein humanes Ziel. Aber wir sind in der Wahl unserer Mittel nicht unbedingt besonders rücksichtsvoll. Wie Sie wissen, gibt es bestimmte psycho-pharmazeutische Mittel, mit deren Hilfe jeder Mensch zum Sprechen gebracht werden kann. Außerdem ist eine Methode zur Entfernung jüngster Erinnerungen bekannt. Und: Ich verstehe mich auf medizinische Dinge recht gut.«
Er machte eine bedeutungsvolle Pause. »Denken Sie daran, daß bei einer derartigen Behandlung immer das Risiko besteht, daß der Patient verblödet. Selbst wenn dieser Fall nicht eintreten sollte, würde man Sie eines Tages in einem Rinnstein auffinden, wo Sie offensichtlich eine Sauftour beendet hätten, bei der auch die Ihnen anvertraute Maschine verlorengegangen wäre. Das würde natürlich Sie und Ihren gesamten Klan in ein äußerst schlechtes Licht rücken.
Sie sind Ausländer und haben der Erde gegenüber keinerlei Verpflichtungen. Wenn Sie objektiv über die Sache nachdenken, werden Sie als vernünftiger Mann zu dem Schluß kommen, daß wir das Recht auf unserer Seite haben. Selbstverständlich darf auch die beträchtliche Belohnung nicht unerwähnt bleiben. Überlegen Sie gut.«
Er stand auf. »Es ist schon spät. Wir sind alle übermüdet. Bitte, nehmen Sie unsere Gastfreundschaft für eine Nacht an. Wir werden morgen unsere Unterhaltung weiterführen.«
Jetzt!
Sevigny kniff Oscar plötzlich in den Rücken. Der Dirrel setzte sich auf die Hinterbeine und schnatterte empört.
»Was hat er denn jetzt schon wieder?« erkundigte Baccioco sich verdrossen.
»Zuviel Aufregung. Ich werde ihn gleich wieder beruhigen«, sagte Sevigny.
»Tk-tk quee di-rik, k-k-k ti-oo …« Oscar kauerte sich wie eine Katze zusammen. Sevigny nahm ihn auf den Arm und erhob sich.
Raschid ging nur zwei Meter an ihm entfernt vorbei, um hinter ihn zu gelangen.
»Ki-ik!«
Oscar sprang. Sevigny ging in die Knie. Aber die Kugel krachte nur in die Zimmerdecke, weil der Dirrel sich bereits in das Handgelenk des Arabers verbissen hatte.
Sevigny wehrte Gupta ab, der sich auf ihn stürzen wollte, und erreichte die auf den Boden gefallene Pistole noch vor Baccioco. Dann richtete er sich wieder auf und trat einige Schritte zurück.
»Keine Bewegung mehr«, keuchte er.
Maura stieß einen lauten Schrei aus. »Ruhe!« befahl Sevigny. Er ging weiter rückwärts, bis er die Wand hinter sich spürte. Oscar ließ von dem Araber ab und kehrte zu seinem Herrn zurück.
Gupta schüttelte den Kopf, als könne er diese plötzliche Wendung der Dinge nicht fassen. »Was haben Sie jetzt vor?« erkundigte er sich.
»Ich werde die Polizei rufen«, erklärte Sevigny. »Wo ist das Telephon?«
Keiner der Männer antwortete, aber Raschid zog mit einer raschen Bewegung ein Messer aus dem Hemd. Sevigny war zunächst völlig überrascht, griff dann aber nach einer schweren Vase. Der Araber ging lautlos zu Boden.
»Jeder bleibt, wo er ist!« rief Sevigny und bewegte sich rückwärts auf die Tür zu. Er öffnete sie mit der linken Hand, ließ Oscar hinaus und überzeugte sich durch einen schnellen Blick in den Flur, daß der Fahrstuhlschacht nicht weit entfernt war. Die Kabine stand offen.
»Wenn jemand mich zu verfolgen versucht …«, sagte er drohend und hob bedeutungsvoll die Pistole. Dann schob er sich seitwärts durch die Tür, schloß von außen ab und rannte auf den Fahrstuhl zu.
Fünfzig Stockwerke tiefer trat er in eine kleine Eingangshalle, in der sich kein Mensch aufhielt. Er war zunächst enttäuscht darüber, daß er sich nicht in einem Hotel befand, überlegte sich aber dann, daß ein schalldichtes Appartement für die Zwecke der Herren im fünfzigsten Stock bestimmt vorzuziehen war. Vermutlich verfügten sie über eine große Anzahl ähnlicher Räume in sämtlichen Erdteilen.
Sollte er von hier aus zu telephonieren versuchen, damit seine Gegner nicht entwischten, bevor die Polizei kam? Andererseits durfte er nicht allzu lange in der unmittelbaren Nähe des Gebäudes bleiben, wenn er nicht riskieren wollte, daß er wieder gefangengenommen wurde. Er eilte auf die Straße hinaus und wandte sich nach Osten.
Bereits an der übernächsten Straßenecke entdeckte er eine Telephonzelle. Sevigny schloß die Tür hinter sich, suchte in seiner Hosentasche nach einem halben Dollar und steckte die Münze in den Schlitz. Der Bildschirm leuchtete auf. Aber Sevigny brauchte noch einige Sekunden, bis er herausgebracht hatte, wie das System funktionierte. Auf der Venus und dem Mond hatte er sich über längere Entfernungen immer nur mit Hilfe eines Funkgeräts verständigt, während innerhalb der Gebäude Gegensprechanlagen benutzt wurden. Schließlich drückte er auf den Knopf des Rufnummernverzeichnisses und schrieb auf der Tastatur das Wort POLIZEI. Auf dem Bildschirm leuchtete eine Nummer. Sevigny wählte.
Das Gesicht und die Schultern eines Uniformierten erschienen. »Polizeizentrale Honolulu. Kann ich Ihnen behilflich sein?«
»Ich möchte einen Diebstahl und eine Entführung melden«, sagte Sevigny. »Name, bitte?« Der Mann brauchte endlos lange, bis er die vorgeschriebenen Fragen abgelesen hatte. »Schön«, schloß er, »bleiben Sie vorläufig, wo Sie sind. Ich schicke einen Streifenwagen dorthin.«
Wenige Minuten später hielten zwei Fahrzeuge mit kreischenden Bremsen. Aus dem ersten stieg ein baumlanger Sergeant und kam auf Sevigny zu. »Haben Sie angerufen?« erkundigte er sich. Der Cythereaner nickte. Dann berichtete er in kurzen Worten von dem Diebstahl und seiner Verschleppung.
»Was halten Sie davon, Bradford«, erkundigte der Beamte sich bei dem Mann, der in dem Wagen geblieben war.
»Ich weiß nicht recht«, meinte der Angesprochene zögernd. »Irgendwie kommt mir die Sache komisch vor.«
»Ist das Ihr voller Ernst, Mr. Sevigny?«
»Selbstverständlich, sonst hätte ich Sie nicht verständigt!« gab der Cythereaner wütend zurück. »Ich schlage vor, daß Sie keine dummen Fragen mehr stellen, sondern lieber die Kerle verhaften, bevor sie das Weite suchen.«
»Das können wir aber nicht ohne eine regelrechte Strafanzeige von Ihrer Seite. Wollen Sie mit uns auf das Polizeirevier fahren? Aber ich warne Sie ausdrücklich davor, daß Sie Unannehmlichkeiten zu erwarten haben, falls Sie nicht bei der Wahrheit geblieben sind.«
»Ich sage Ihnen doch, ich …«
»Immer mit der Ruhe. Kein Mensch hat behauptet, daß Sie gelogen hätten. Die Männer in dem zweiten Wagen werden Ihre Entführer verhören. Kommen Sie.« Der Sergeant setzte sich neben Sevigny auf den Rücksitz des Fahrzeugs.
Der unauffällig gekleidete Kriminalbeamte auf dem Vordersitz schaltete die automatische Steuerung ein und drehte sich dann zu Sevigny um. »Könnte ich nicht zufällig recht haben, wenn ich behaupte, daß Ihre Seite zurückzuschlagen versucht?« fragte er lauernd.
»Was soll das heißen?« Sevigny mußte sich mühsam beherrschen, um nicht nach seiner Pistole zu greifen. »Vielleicht haben Sie die ganze Geschichte nur erfunden, um die Männer in Verruf zu bringen, die sich gegen die Luna Corporation ausgesprochen haben. Jedermann weiß, daß Präsident Edwards ebenfalls zu diesen Leuten gehört; und dieses Jahr finden bei uns Wahlen statt. Ein Skandal könnte dazu führen, daß Hernandez gewinnt – und er möchte die amerikanische Beteiligung an dem Projekt sogar noch erhöhen.«
Oscar spürte instinktiv, daß der Mann feindselig eingestellt war, und drängte sich näher an Sevigny.
»Langsam, Bradford«, warf der Sergeant ein. »Sie lassen sich von Ihren Vorurteilen beeinflussen.« Er wandte sich an den Cythereaner. »Meiner Meinung nach sind die Arbeiten auf dem Mond wirklich ein großartiger Fortschritt. Meine Enkel werden endlich wieder soviel Raum zur Verfügung haben, wie mein Großvater zu seiner Zeit hatte. Äh – ich heiße Kealoha. John Kealoha.«
Sevigny schüttelte ihm die Hand. »Sehr erfreut«, sagte er dabei. »Ich habe mich schon gefragt, ob es auf der Erde überhaupt noch Menschen gibt, die darauf hoffen, daß wir Erfolg haben.«
»Natürlich gibt es die! Dazu gehört jeder, der über seine Nasenspitze hinaussehen kann. Warum sollte die Opposition denn sonst zu solchen Mitteln greifen müssen?«
»An der Geschichte ist kein wahres Wort«, widersprach Bradford. »Ich möchte Sie am liebsten selbst verhören, Sevigny. Allein.«
Der Cythereaner biß die Zähne aufeinander. Er hatte sich bereits mehr gefallen lassen, als er sich früher hätte vorstellen können. »Jederzeit!«
»Ruhe«, mahnte Kealoha. »Bradford, er will sich sogar Wahrheitsserum einspritzen lassen. Soll der Arzt ihn ausfragen.«
Als sie wenige Minuten später vor dem Polizeirevier ausstiegen, griff Bradford nach Sevignys Arm. »Los, kommen Sie!« befahl er mit rauher Stimme. Dann ließ er mit einem Schmerzensschrei die Hand sinken, als der Cythereaner ihm kräftig auf das Handgelenk schlug.
»Sie …«
Kealoha schob sich zwischen die beiden Männer. »He, ich will hier keine Schlägerei sehen!« warnte er. »Sie hätten ihn nicht anfassen dürfen, Bradford. Und Sie, Sevigny, leisten Sie nie einem Polizeibeamten Widerstand. Nie wieder!«
»Auch dann nicht, wenn ich im Recht bin?« fragte der Cythereaner. Er war so verblüfft, daß er sich nicht einmal ärgern konnte. »Na, hoffentlich bin ich nicht mehr lange auf der Erde!«
Sie betraten den Wachraum, wo sie bereits von dem diensthabenden Polizeileutnant und zwei jüngeren Beamten in Zivil erwartet wurden. Sevigny zögerte instinktiv, trat dann aber doch einige Schritte vor und sah die Männer erwartungsvoll an.
Der Jüngere der beiden wies eine Blechmarke vor. »Donald Sevigny, Sie sind verhaftet«, erklärte er dann. »Wir kommen vom FBI.«
»Was?« Sevigny griff unwillkürlich nach seiner Pistole, aber Bradford kam ihm zuvor und wog sie hämisch lächelnd in seiner Hand. »Warum …«
»Keine Widerrede. Kommen Sie mit«, befahl der zweite FBI-Agent. Der Jüngere unterstrich diese Aufforderung, indem er seine Betäubungspistole zog.
»Augenblick!« warf Kealoha ein.
»Halten Sie den Mund«, wies der Polizeileutnant ihn zurecht.
Der Sergeant blieb unerschütterlich. »Nein, Sir, Sie müssen ihm den Grund mitteilen. Ich kann nicht zulassen, daß er einfach verhaftet wird. Das wäre ein klarer Fall von Amtsmißbrauch!«
»Verschwörung gegen die Vereinigten Staaten«, erklärte der zweite Agent kurz.
»Das genügt nicht.« Kealoha schüttelte den Kopf. »Nicht genau genug. Ich kenne meine Vorschriften. Was soll er verbrochen haben?«
»Kein Wort mehr, Sergeant, sonst landen Sie auch im Kittchen!« drohte der Polizeileutnant. »Haben Sie denn noch nicht begriffen, daß diese beiden Männer FBI-Agenten sind? Nehmen Sie ihn mit, Gentlemen.«
Das scheint allerdings eine Verschwörung zu sein, überlegte Sevigny, nachdem er sich von seiner Überraschung erholt hatte. Baccioco und seine Freunde müssen sofort telephoniert haben, nachdem ich entkommen war. Sie müssen Verbündete in Washington haben. Der Präsident ist selbst gegen das Mondprojekt. Die Polizei wurde benachrichtigt und …
Der zweite Agent holte ein Paar Handschellen aus der Jackentasche. »Ihr Cythereaner seid als rauflustig bekannt«, meinte er. »Strecken Sie die Handgelenke aus.«
»Nein, der Teufel soll Sie holen!« Sevigny war empört. »Ein Klansmann läßt sich nicht fesseln!«
Der Jüngere zielte mit der Betäubungspistole.
Oscar wußte nur, daß seinem Herrn Gefahr drohte. Er stieß einen schrillen Pfiff aus und stürzte sich auf den Mann mit der Pistole. Die Betäubungsnadel blieb in der Decke stecken. Oscar krallte an seinem Gegner hinauf und fuhr ihm in die Augen. Der andere Agent griff nach ihm und schleuderte ihn zu Boden. Bradford schob sich an Sevigny vorbei und schoß.
»K-ti«, sagte Oscar und starb.
Von diesem Augenblick an sah Sevigny rot. Er schlug dem Jüngeren mit einem Fußtritt die Waffe aus der Hand und setzte mit einem gutgezielten Kinnhaken nach. Der zweite Agent riß seine Pistole aus dem Schulterhalfter, konnte aber nicht mehr schießen, denn der Cythereaner warf sich auf ihn, hob ihn mit beiden Armen hoch und schleuderte ihn gegen Bradford. Beide Männer gingen zu Boden.
»Halt!« rief Kealoha und schoß. Die Kugel blieb hoch über der Tür in der Wand stecken.
»Zielen Sie gefälligst!« Der Polizeileutnant sah wütend unter dem Schreibtisch hervor, den er als beste Deckung gewählt hatte.
Sevigny verschwand durch die Tür nach draußen. Er hatte keine Minute mehr zu leben, wenn er jetzt blieb. Kealoha war ihm dicht auf den Fersen. Der Sergeant schoß ziellos die Straße hinunter. Er blieb in der Tür stehen und blockierte sie.
»Gehen Sie aus dem Weg!« brüllte Bradford.
Kealoha ging keinen Schritt zur Seite, sondern schoß weiter in die Dunkelheit hinein. Sevigny duckte sich tief und kroch unter einer Hecke hindurch, die einen Park umgab.
Zwei Stunden später stand er vor einem automatischen Einkaufszentrum, zu dem er sich von einem Robotertaxi hatte fahren lassen, das er nach langen Umwegen in einer stillen Seitenstraße entdeckt hatte. Wie erwartet, wurden die hellbeleuchteten Säle nicht von Menschen bewacht, sondern verfügten über eine Alarmanlage, die direkt zum nächsten Polizeirevier führte. Im Vergleich mit dem Einkaufszentrum, das er von Port Kepler her kannte, waren die Säle hier gigantisch. Sevigny brauchte zehn Minuten, bis er den Anzugautomaten gefunden hatte, wo er sich einen neuen Anzug aussuchen konnte. Er zog sich in einer der dafür vorgesehenen Kabinen um, packte seine Tunika in eine Tragtasche und warf sie in den nächsten Müllschlucker – allerdings nicht ohne ein leichtes Bedauern.
So, jetzt werden sie mich nicht mehr so leicht aufspüren.
Er hatte keinen Hunger, spürte aber deutlich, wie sehr ihn die Flucht erschöpft hatte. Ein Tablettenautomat enthielt eine Unmenge verschiedener Kleinstpackungen. Er wählte ein einfaches Beruhigungsmittel aus und spülte die Tablette mit einem Becher Kaffee hinunter.
Während er darauf wartete, daß die Wirkung einsetzte, versuchte er einen Plan zu fassen.
Wenn ich erst einmal amerikanisches Hoheitsgebiet verlassen habe, müßte ich eigentlich in Sicherheit sein. Dann muß das FBI nämlich den Weltsicherheitsdienst einschalten. Und das werden die Verantwortlichen kaum tun; es würde zu viele unangenehme Fragen nach sich ziehen. Ich muß mich nur vorsehen, daß ich nicht in einen Hinterhalt gerate. Aber wenn die Leute hier wirklich nicht besser zu kämpfen verstehen, braucht ein Klansmann nur wenig zu befürchten.
Er holte sich noch einen Becher Kaffee.
Wie kann ich von hier fort? Ich habe nicht genügend Geld bei mir, um ein Flugzeug zu mieten, selbst wenn ich den Mut dazu aufbrächte. Und die Polizei wird den Raumhafen, sämtliche Flugplätze und die Kais streng kontrollieren. Ich kann mich unmöglich so gut verkleiden, daß ich nicht auffalle.
Er konnte das hiesige Büro des Weltsicherheitsdienstes aufsuchen … Nein. Selbst wenn die Beamten nicht korrupt sein sollten, würde die Polizei nur darauf warten, daß Sevigny einen derartigen Versuch unternahm. Auch ein Telephonanruf war wenig sinnvoll, denn er erinnerte sich daran, daß diese Organisation nur in solchen Fällen eingriff, wo es sich eindeutig um internationale Probleme handelte. Er konnte höchstens darauf hoffen, daß seine Erzählung genügend Interesse erweckte, um eine Untersuchung zu rechtfertigen. Aber unterdessen würden die zahllosen FBI-Agenten ihn wie einen Hasen zu Tode hetzen.
Die gleichen Bedenken ließen sich auch gegen die örtlichen Vertreter der Luna Corporation vorbringen, deren Reaktion noch schlechter abzuschätzen war.
Aber schließlich wurde er ja nicht von der gesamten Bevölkerung des Planeten verfolgt. Er mußte sich diese Tatsache vor Augen halten, mußte an einflußreiche Männer wie Norris denken und durfte nicht vergessen, daß es noch andere wie Kealoha gab. Aber mit wem konnte er sich in Verbindung setzen? Es mußte jemand sein, der in Honolulu wohnte, und Sevigny kannte hier niemand. Außerdem rief man einen VIP nicht einfach von einer Telephonzelle aus an, sondern wartete geduldig in seinem Vorzimmer. Und während dieser Zeit zog die Polizei ihr Netz immer enger.
Der Buffalo war auch von hier aus leicht erreichbar und konnte ihm vielleicht einen Rat geben, wo man sich am besten verstecken sollte. Aber Sevigny hatte nicht mehr genügend Geld in der Tasche, um ein Gespräch mit dem Mond anzumelden.
Eine Zuflucht, eine Ruhestätte, ein einflußreicher Mann, der sich für ihn verwenden konnte …
Halt!
Sevigny atmete rascher. Er rannte auf die nächste Telephonzelle zu, ließ sich mit der Auskunft verbinden und schrieb KONSULATE in die Tasten.
Cythereaner kamen im allgemeinen so selten aus geschäftlichen Gründen auf die Erde, daß die einzelnen Klans nur eine gemeinsame Botschaft in Paris unterhielten. Aber die Marsianer hatten sich bereiterklärt, über ihre Konsulate die Interessen der Cythereaner zu vertreten, falls dies einmal notwendig werden sollte. Und die Konsulatsgebäude standen auf exterritorialem Boden!
Das Verzeichnis enthielt nur ein einziges außerirdisches Konsulat. »Mars.« Sevigny runzelte nachdenklich die Stirn, überlegte sich aber dann, daß Y, Mach, Hs’ach und die anderen eine Menge Geld sparen konnten, wenn sie gemeinsam einen Konsul besoldeten. In diesem Fall handelte es sich nicht einmal um einen Marsianer. Aber auch das war nur vernünftig. Warum sollte man die kostspieligen Anlagen installieren, die zur Erhaltung eines marsähnlichen Klimas in dem Konsulatsgebäude nötig waren, wenn man ebensogut einen Terraner mit den vorkommenden Aufgaben betrauen konnte?
Sevigny drückte auf die Taste LEBENSLAUF und las auf dem Bildschirm, daß der Konsul Oleg N. Volhontseff vor nunmehr achtundfünfzig Jahren in K’nea als zweiter Sohn eines Arztehepaars geboren worden war. Er hatte in Moskau und Brasilien studiert, war einige Jahre als Xenologe auf dem Mars tätig gewesen und hatte sich seitdem als Wissenschaftler einen guten Ruf erworben. Zuletzt folgte eine eindrucksvolle Aufzählung seiner Bücher … halt, Volhontseff war also der Mann, der das T’hu-Rayi übersetzt hatte. Er mußte also tatsächlich bereits ein halber Marsianer sein – kein Wunder, daß er nie geheiratet hatte!
»Besser und besser«, murmelte Sevigny, rief ein Taxi heran und machte sich auf den Weg.
Volhontseffs Büro befand sich in einem der vornehmsten Wohnbezirke von Honolulu. Sevigny fragte sich, wie der Mann diese riesige Villa unterhalten konnte, obwohl er als Konsul sicher kein besonders hohes Gehalt bezog. Und wissenschaftliche Arbeiten allein brachten auch nicht viel ein. Ob er ein beträchtliches Vermögen geerbt hatte?
Sevigny schickte das Taxi wieder fort und blieb im Schatten der Bäume vor der Einfahrt stehen. Eines der Fenster war noch beleuchtet. Er ging auf die Haustür zu, drückte den Klingelknopf und versuchte einen möglichst harmlosen Eindruck zu machen, falls sein Bild durch eine eingebaute Fernsehkamera in das Innere des Hauses übertragen wurde.
Die Tür öffnete sich. Ein kleiner Mann in einem braunen Schlafrock starrte ihn aus unnatürlich hellen Augen an, die tief in den Höhlen seines Nußknackergesichts lagen. »Nun, Sir?« fragte Volhontseff.
»Tut mir leid, daß ich Sie noch so spät belästigen muß …«, begann Sevigny.
»Allerdings! Ein Glück, daß ich meistens nachts schreibe. Wollte schon gar nicht an die Tür kommen. Wer sind Sie? Was wollen Sie?«
»Darf ich hereinkommen?«
»Sagen Sie mir erst, was Sie von mir wollen.«
»Ich bin Donald Sevigny vom Klan Jäger in den Shaws auf der Venus …«
»Ja, ganz richtig, Ihr Akzent verrät Sie sofort. Warum tragen Sie einen Anzug statt Ihrer Tunika?«
»Ich … Ach, alles Unsinn. Ich bitte um Asyl. Durchsuchen Sie mich nach Waffen, wenn es Ihnen Spaß macht.«
Volhontseff zeigte keine Überraschung. »Asyl – vor wem überhaupt?«
»Vor den Gegnern der Luna Corporation«, erklärte Sevigny ihm erregt. »Sie wissen genau, daß auch der Mars großes Interesse daran hat. Die Sache geht nicht nur mich, sondern auch Sie an.«
»Wirklich?« Volhontseff zog die Augenbrauen hoch. Dann zuckte er mit den Schultern. »Schön, wenn Sie meinen … Kommen Sie herein, damit wir uns darüber unterhalten können.«
Er ging in die Bibliothek voraus. »Bitte, nehmen Sie Platz.« Er wies auf einen Klubsessel, setzte sich selbst hinter den mit Papieren übersäten Schreibtisch und zündete sich eine Zigarette an, ohne dem späten Besucher eine anzubieten. Dann lehnte er sich zurück und beobachtete Sevigny durch eine bläuliche Rauchwolke.
»Erzählen Sie mir Ihre Geschichte«, forderte er.
Als der Cythereaner seinen Bericht erstattet hatte, fuhr Volhontseff sich aufgeregt mit beiden Händen durch sein schütteres Haar.
»Sie bringen mich in eine schöne Lage, junger Mann!
Wie Sie wahrscheinlich wissen, bin ich kein amerikanischer Bürger und riskiere deshalb, daß meine Aufenthaltsgenehmigung widerrufen wird. Folglich darf ich meine Vorrechte nur in bestimmten Fällen ausnutzen; und diese Gelegenheiten sind beschränkt.«
Sevigny schlug mit der Faust auf den Tisch. »Was soll das heißen?« erkundigte er sich wütend. »Sie sind doch der marsianische Konsul! Sie sind dazu da, die Leute zu beschützen, die Sie vertreten!«
»Aber nur Marsianer – alle anderen erst in zweiter Linie. Man könnte vielleicht argumentieren, daß diese Verpflichtung sich auch auf Cythereaner erstreckt. Ich weiß es nicht. Ich könnte Ihnen nicht einmal sagen, ob diese Frage schon einmal vor Gericht aufgetaucht ist.«
Sevigny fühlte eine schwache Hoffnung in sich aufsteigen. »Das wäre wenigstens eine Diskussionsgrundlage«, stellte er fest. »Sie brauchen mich nur bei sich aufnehmen, bis ein Gericht über die Angelegenheit geurteilt hat. Wir brauchen Zeit, damit der Fall öffentlich bekannt wird. Dann ist der Gegner machtlos.«
Volhontseff starrte ihn überrascht an. »Junger Mann«, meinte er, »für einen Kolonisten sind Sie ungewöhnlich gerissen. Schön und gut, ich werde mich also mit dem marsianischen Botschafter in Verbindung setzen …«
»Mit welchem?«
»Entschuldigung?«
»Mit allen? Vielleicht wäre das am besten.«
Volhontseff drückte seine Zigarette aus und setzte die nächste in Brand. »Wahrscheinlich haben Sie recht«, gab er zu.
»Noch etwas«, fuhr Sevigny fort. »Ich muß meinen Boß auf dem Mond benachrichtigen. Er kennt einige sehr einflußreiche Leute.« Er lachte böse.
»Das FBI wird sich noch wundern …«
Volhontseff klopfte nervös mit den Fingerknöcheln gegen die Schreibtischplatte. »In dieser Beziehung ergibt sich allerdings eine weitere Schwierigkeit«, sagte er. »Sie haben Polizeibeamte in der Ausübung ihrer dienstlichen Pflichten angegriffen. Wenn ich Sie nicht ausliefere, halte ich einen Verbrecher versteckt. Benachrichtige ich jedoch die Behörden, werden Sie wahrscheinlich mit Gewalt aus meinem Haus entfernt.«.
Und was kann ein »auf der Flucht« erschossener Mann noch beweisen? dachte Sevigny in ohnmächtiger Wut. Wenn die Polizei mich in die Hände bekommt, sehe ich wahrscheinlich keinen Mondaufgang mehr.
»Dann dürfen Sie eben die Behörden vorläufig noch nicht benachrichtigen, bis ich meine Vorgesetzten verständigt habe«, teilte er Volhontseff mit.
»Aber …«
Sevigny stand auf, beugte sich über den Schreibtisch und hob drohend die Faust. »Ich habe Sie dazu gezwungen, verstehen Sie? Ich bin stärker als Sie. Ich habe mich in Ihr Haus eingeschlichen, und jetzt bleibt Ihnen keine andere Wahl. Folglich trifft Sie keine Schuld, habe ich recht?«
»Nun … nun …«
Der Cythereaner wies auf das Telephon. »Rufen Sie an!«
Volhontseff nickte bedächtig. »Gut, ich werde die Botschaft in Paris unterrichten. Glücklicherweise ist es dort erst nachmittags. Ich werde Ihre Angaben über den Fall weitergeben und gleichzeitig darum bitten, daß die übrigen Botschaften von dort aus benachrichtigt werden. Alle Gespräche auf der Direktleitung werden automatisch verschlüsselt, so daß sie nicht abgehört werden können. Einverstanden?«
»Hmm.« Sevigny überlegte. Der Vorschlag schien durchaus vernünftig und annehmbar. »Okay. Aber was wird inzwischen aus mir?«
Volhontseff kicherte trocken. »Sie bleiben hier und lassen mich nicht aus den Augen. Ich bin völlig in Ihrer Gewalt, erinnern Sie sich?«
Er griff in die Schreibtischschublade und holte ein ledergebundenes Buch daraus hervor. »Aha, da ist ja schon die richtige Nummer«, meinte er zufrieden. Sevigny stand auf und ging zu ihm hinüber. Volhontseff begann zu wählen.
Auf dem Schirm erschien ein eigenartig möblierter Raum. Ein Marsianer wurde sichtbar. Volhontseff schaltete den Vokalisator ein und begann zu sprechen.
Sevigny riß ihm das Gerät aus der Hand. »Nein, der Botschafter versteht bestimmt englisch, aber ich habe keine Ahnung von marsianisch.«
»Sie müssen mir trauen«, wandte Volhontseff ein.
« Nicht mehr als unbedingt notwendig. Tut mir leid, aber ich darf kein Risiko eingehen.«
Der Botschafter wartete unbeweglich. Volhontseff zuckte mit den Schultern. »Von mir aus … Nyo, wir müssen uns auf Englisch unterhalten, wenn Sie nichts einzuwenden haben. Die Angelegenheit ist dringend und äußerst wichtig. Nehmen Sie das Gespräch bitte auf Band auf. Ich habe hier einen Angestellten der Luna Corporation bei mir, der eine ungewöhnliche Geschichte zu berichten hat.«
»Fahren Sie fort«, sagte die mechanische Stimme.
Nachdem Sevigny seine Lage erklärt hatte, griff Volhontseff wieder nach dem Telephonhörer und sprach eindringlich hinein. »Sie werden erkannt haben, daß wir keine Zeit verlieren dürfen. Mein Gast und ich bleiben hier, aber die Situation ist kritisch. Können Sie ihn in einem Kurierflugzeug abholen lassen? Es müßte mit zwei oder drei zuverlässigen Männern besetzt sein, die ihn in Sicherheit bringen.«
Nyo überlegte kurz. Sevignys Herz schlug rascher. »Ja«, antwortete der Marsianer, »das könnte arrangiert werden. Das Flugzeug kommt noch heute nacht. Bleiben Sie bis dahin an Ort und Stelle.«
Der Bildschirm wurde dunkel.
Volhontseff zündete sich nun bereits die dritte Zigarette an.
»Ausgezeichnet«, sagte der kleine Mann. »Ich nehme an, daß Sie nicht mehr lange warten müssen. Schlimmstenfalls zwei oder drei Stunden. Äh … glauben Sie, daß meine Beteiligung an der ganzen Sache unerwähnt bleiben könnte? Ich …«
»Was halten Sie eigentlich davon, wenn ich jetzt selbst die cythereanische Botschaft in Paris anrufe?« fragte Sevigny. Er traute dem Alten noch immer nicht recht.
Volhontseff machte eine fahrige Handbewegung. »Nein, nein, junger Mann, das wäre lächerlich. Nicht nur überflüssig, sondern auch äußerst gefährlich. Die Gespräche auf den anderen Leitungen werden nicht verschlüsselt und können jederzeit abgehört werden.«
»Warum sollte man ausgerechnet Ihre Leitungen anzapfen?« erkundigte Sevigny sich mißtrauisch. »Wenn die Polizei vermutet, daß ich mich hier aufhalte, kommen ein paar Beamte und verlangen meine Auslieferung.« Er trat näher an den Schreibtisch heran. »Was haben Sie vor, Volhontseff?«
»Lassen Sie meine Privatpapiere in Ruhe!« kreischte der Alte. Er sprang von seinem Stuhl auf, aber Sevigny stieß ihn mühelos zurück.
»Lassen Sie den Unsinn«, warnte er ihn. »Wenn ich unrecht haben sollte, werde ich mich später bei Ihnen entschuldigen. Aber im Augenblick darf ich kein Risiko eingehen.«
Er nahm das Notizbuch auf. Volhontseff griff hastig danach. Sevigny drückte ihn auf den Stuhl nieder. Der Konsul sprang auf und rannte davon. Sevigny war eher an der Tür.
»Wollten Sie etwa Ihre Pistole holen?« fragte er drohend.
Volhontseff wich zurück. Er atmete schwer. Sevigny blätterte das Buch durch. Namen und Adressen waren in kyrillischer Schrift angegeben, aber er hatte in der Schule Russisch gehabt …
Ercole Baccioco. Der Name sprang ihm förmlich in die Augen. Unterhalb des Namens waren einige Adressen eingetragen, zu denen auch das Appartementhaus gehörte, in das man Sevigny verschleppt hatte.
»So.« Er starrte den kleinen Mann an, der unbeweglich vor ihm stand. Dann blätterte er hastig weiter in dem Buch. Auch Guptas Name fand sich darin; außer seiner Anschrift in Benares war noch eine Hoteladresse mit Bleistift hinzugefügt worden.
Sevigny steckte das Notizbuch ein. »Schön, Volhontseff dann gehören Sie also auch zu den anderen«, begann er in gefährlich freundlichem Tonfall. »Erzählen Sie mir doch ein bißchen darüber.«
Volhontseff wich zurück. Sevigny machte einige lange Schritte, griff nach seinem Handgelenk und zwang den Konsul mit einem kurzen Ruck in die Knie. »Sie brutaler Kerl!« kreischte Volhontseff.
»Nicht so laut«, mahnte Sevigny. »Sie vergessen anscheinend, daß die Polizei hinter mir her ist. Was erwarten Sie eigentlich – daß ich Sie mit Samthandschuhen anfasse?«
Volhontseff versuchte sich loszureißen und wollte beißen. Sevigny hielt ihm die Faust unter die Nase. »Halten Sie still – und reden Sie endlich!«
Der andere stieß einen Fluch aus. Sevigny zögerte auch jetzt noch, aber dann überlegte er laut, um endgültig Klarheit zu gewinnen.
»Die Umrisse sind klar«, begann er. »Offensichtlich haben die verschiedenen mondfeindlichen Gruppen sich zusammengeschlossen. Allerdings können sie nicht allzu stark sein, denn sonst hätten Baccioco und Gupta sich nicht persönlich mit mir befassen müssen. Wahrscheinlich weiß der kleine Mann auf der Straße gar nicht, was hier gespielt wird, sonst wäre er vermutlich entsetzt.
Zu den bisher aufgetretenen Gruppen gehört also auch der marsianische Botschafter – aber bestimmt wird die ganze Verschwörung von einer einflußreichen Persönlichkeit in der amerikanischen Regierung unterstützt. Sonst hätte das FBI mich nicht sofort zu verhaften versucht, obwohl kein rechtmäßiger Grund dafür vorlag. Aber die ›Staatsräson‹ war schon immer die einzige Entschuldigung in solchen Fällen, solange die Menschen davon überzeugt sind, daß der Staat kein Unrecht tun kann. Wer ist es, Volhontseff?«
»Lassen Sie mich endlich los!« wimmerte der Konsul.
»Ich bin nicht auf Ihre Antwort angewiesen, weil ich bereits genug weiß. Aber ich möchte es trotzdem von Ihnen hören. Ist es der Präsident selbst?«
»Njet …«
»Wer denn sonst? Oder ist es vielleicht doch Edwards – und wie stehen dann seine Aussichten bei der nächsten Wahl?«
Volhontseff sank in sich zusammen. Sevigny mußte ihn stützen. »Gildman«, flüsterte der Alte. »Der Wirtschaftsminister. Von Edwards ernannt, aber … ich schwöre Ihnen, daß er auf eigene Verantwortung gehandelt hat!«
»Warum? Denkt er wie Gupta? In den Vereinigten Staaten sind doch solche Probleme noch längst nicht aktuell … Ah! Wenn die Arbeiten auf dem Mond eingestellt werden, kann er mehr Geld im eigenen Land ausgeben, sein Ministerium vergrößern und noch etwas mehr Macht an sich reißen, als er bereits jetzt besitzt. Habe ich recht?«
»Ich verstehe zu wenig davon«, schluchzte Volhontseff. »Ich habe das Geld nur angenommen, um meine wissenschaftlichen Arbeiten fortsetzen zu können. Und die Marsianer wollen nichts Böses.«
»Was haben sie sonst vor?« Sevigny machte eine abwehrende Bewegung mit der freien Hand. »Sie brauchen es mir nicht zu sagen. Ich ahne es bereits. Sie wollen vermutlich zum richtigen Zeitpunkt als Käufer für den Mond auftreten. Oder ihn wenigstens pachten, um ihn in einen zweiten Mars zu verwandeln.«
»Sie wollten damit nur ihre eigenen Probleme lösen«, meinte Volhontseff entschuldigend.
Sevigny zuckte mit den Schultern und ließ das Handgelenk des anderen los. Der Alte sank auf dem Fußboden zusammen. Der Cythereaner ging unruhig auf und ab.
Was war jetzt zu tun? Er mußte auf jeden Fall verschwinden, bevor das Flugzeug landete – am besten mit Volhontseffs Wagen. Aber vorher blieb noch eine andere Aufgabe zu erfüllen. Wie konnte er sicherstellen, daß die wertvollen Informationen, die er jetzt besaß, an die richtige Adresse kamen? Sollte er die cythereanische Botschaft in Paris anrufen? Ja, das war bestimmt richtig, denn dort konnte es keine Doppelagenten geben, weil die Cythereaner sich aus dem Streit um den Mond völlig heraushielten.
Sevigny ließ sich in den Sessel fallen und blätterte Volhontseffs Notizbuch durch. Die Telephonnummer der Botschaft in Paris war nicht eingetragen, aber auf der Suche danach stieß er auf einen weiteren bekannten Namen – Maura Soemantri. Sie lebte also tatsächlich unter ihrem richtigen Namen in Honolulu!
Er steckte das Buch wieder ein, wählte Paris und ließ sich mit der Botschaft verbinden. Der junge Mann auf dem Bildschirm starrte ihn verwundert an. Ich sehe wahrscheinlich fürchterlich aus, dachte Sevigny. Schmutzig, unrasiert, nicht gekämmt, mit geröteten Augen – wie ein alter Säufer. Er nannte seinen Namen.
»Samuel Craik, Klan Duneland von Duneland«, antwortete der junge Mann. »Zu Ihren Diensten.«
»Können Sie mich sofort mit dem Botschafter persönlich verbinden?«
Craik zuckte zusammen. »Hören Sie, Klansmann, wenn Sie nicht einmal richtig angezogen sind …«
»Schon gut«, unterbrach Sevigny ihn. »Nehmen Sie folgende Nachricht auf Band auf. Ich warne Sie bereits jetzt, daß Sie kein Wort davon glauben werden. Aber spielen Sie dem Botschafter das Band vor. Und sorgen Sie dafür, daß Mr. Bruno Norris in Port Kepler es ebenfalls erhält.« Er holte tief Luft, bevor er weitersprach. »Dazu verpflichte ich Sie bei der Ehre der Klans von Venus und Ihrer eigenen.«
Craik machte ein noch unglücklicheres Gesicht. Der Teufel soll ihn holen, ich möchte wetten, daß der junge Kerl die feierliche Verpflichtung für ein Überbleibsel aus barbarischen Zeiten hält, stöhnte Sevigny innerlich. Er begann seinen Bericht.
»Klansmann!« protestierte Craik nach kurzer Zeit. »Ist Ihnen nicht ganz gut?«
»Ich habe Ihnen doch gesagt, daß Sie mir kein Wort glauben würden«, wehrte Sevigny ab. »Halten Sie lieber den Mund, damit ich weitersprechen kann!«
Die Tür schloß sich leise.
Sevigny unterbrach sich mitten im Satz und hatte sie schon fast erreicht, bevor ihm klar wurde, was eben geschehen war. Volhontseff! Der kleine Teufel war hinausgeschlüpft, als er einen Augenblick lang nicht auf ihn geachtet hatte!
Dann sah er ihn auch schon auf die Straße eilen. Eine Verfolgung war zwecklos. Der Alte weckte jetzt wahrscheinlich bereits seine Nachbarn. Die Polizei mußte in wenigen Minuten eintreffen.
Sevigny ging an den Schreibtisch zurück. »Was ist jetzt schon wieder passiert?« erkundigte Craik sich mißtrauisch.
»Keine Zeit für Erklärungen«, sagte Sevigny kurz. »Mir ist bekannt, daß folgende Männer sich verschworen haben – Nyo, der marsianische Botschafter; Ercole Bacciocio, Generaldirektor der Eurobau AG; Krishnamurti Lal Gupta, Mitglied der Konservativen Partei Indiens; Gilman, der Wirtschaftsminister der Vereinigten Staaten; die Bruderschaft der Fatimisten. Sie beabsichtigen …« Er schilderte ihren Plan. »Sorgen Sie dafür, daß der Fall untersucht wird!«
Er legte auf, rannte zur Tür und eilte durch den rückwärtigen Ausgang hinaus, der vermutlich zu der Garage führte. Volhontseffs Wagen war eindrucksvoll groß. Aber Sevigny interessierte sich im Augenblick nur für die technischen Details unter der Haube. Er mußte die Zündung kurzschließen, denn die Suche nach dem Schlüssel hätte zuviel Zeit gekostet.
Der Motor heulte auf. Sevigny setzte sich hinter das Steuerrad und legte den Gang ein. Als der Wagen sich in Bewegung setzte, öffnete sich das automatische Garagentor.
So schnell wie möglich weg!
Er hatte kaum die Straße erreicht, als auch schon ein Funkstreifenwagen um die Ecke bog. »Okay«, rief er spöttisch aus dem Fenster, »wollt ihr es auf ein kleines Rennen ankommen lassen?«
Der schwere Wagen schoß förmlich davon. Minuten später hatte Sevigny den Streifenwagen bereits weit hinter sich zurückgelassen und fuhr wieder langsamer durch die nächtlichen Straßen.
Aber er wußte, daß die Jagd bereits begonnen hatte. Die Ausfallstraßen waren vermutlich sofort blockiert worden. Jeder Polizist und jede Streifenwagenbesatzung würde die Augen offenhalten. Er mußte das Auto so schnell wie möglich loswerden, bevor jemand ihn darin erkannte.
Sevigny hielt an. Er hatte unbewußt nach rechts und links gesehen und dabei bemerkt, daß die Garage eines Hauses leerstand. Ausgezeichnet! Der Hausbesitzer würde sich wundern, wenn er zurückkam. Mit etwas Glück konnte das noch Stunden dauern; und in der Zwischenzeit suchte die Polizei vergeblich nach dem als gestohlen gemeldeten Wagen.
Er fuhr hinein. Dann sank er erschöpft hinter dem Steuer zusammen. Venus, dachte er, Morgenstern, selbst in deinen Wüsten findet ein Gejagter Schutz vor seinen Verfolgern. Aber du bist vierzig Millionen Kilometer entfernt. Nie wieder …
Aber dann erinnerte er sich plötzlich und setzte sich mit einem leisen Überraschungsschrei auf.
Das graue Licht der ersten Morgendämmerung kroch durch ein Fenster des Korridors im zehnten Stock. Sevigny ließ den Fahrstuhl hinter sich zurück und ging den weichen Teppich entlang. Unterwegs bemerkte er einen Briefkastenschlitz. Cut. Dann brauche ich nicht bis zum Abend zu warten, um meinen Brief aufzugeben. Jederzeit – wenn gerade niemand hier oben herumläuft. Ich … nein, wir können hinausschlüpfen. Die Tür No. 1014 kam in Sicht. Er hatte in dem Verzeichnis nachgeschlagen, das in der Eingangshalle auflag.
Die nächsten Minuten waren entscheidend.
Die automatische Türklingel war nachts ausgeschaltet. Er drückte auf den Klingelknopf, zog die Schultern hoch und drückte das Kinn auf die Brust. Vor dem Rückspiegel des Wagens hatte er sich die Haare tief in das Gesicht gestrichen. Die veränderte Frisur, der andere Anzug, die gebückte Körperhaltung und eine verstellte Stimme müßten eigentlich genügen, um seine Erscheinung auf dem Bildschirm unkenntlich zu machen.
Das war seine letzte Chance.
»Was wollen Sie?« Die Stimme aus dem Lautsprecher klang verschlafen.
Sevigny versuchte so gut wie möglich mit einem starken russischen Akzent zu sprechen. »Ich komme von Oleg Volhontseff. Bitte, lassen Sie mich herein. Ich bringe Ihnen eine äußerst wichtige Nachricht von ihm.«
»Warum hat er nicht einfach angerufen?«
»Das war nicht möglich. Ich werde Ihnen alles erklären. Es hängt mit dem Marsianer in Paris zusammen, den Sie ja auch kennen.«
»Oh! Eine Sekunde, bitte.«
Er spannte seine Muskeln an. Seine Vermutung war also richtig gewesen. Volhontseff hatte sich unterdessen bestimmt mit Baccioco und Gupta in Verbindung gesetzt, aber die weniger bedeutenden Agenten wie Raschid oder die junge Frau …
Die Tür öffnete sich. Er drängte sich hastig hindurch. Mauras Lippen formten einen Schrei. Er hielt ihr den Mund zu und umklammerte sie mit einem Ringergriff. »Keinen Ton, sonst breche ich Ihnen das Genick!« zischte er. »Denken Sie daran, daß ich nichts mehr zu verlieren habe!«
Nachdem er die Tür mit dem Fuß zugestoßen hatte, führte er Maura zu einem Sessel in dem elegant eingerichteten Wohnraum und ließ sie los. Trotzdem behielt er eine Hand auf ihrer Schulter, damit sie die rücksichtslose Kraft in seinem Griff weiterhin spürte.
»Don!« Sie fuhr zusammen.
»Ich will Ihnen nicht wehtun«, erklärte er ihr ernst. »Wenn Sie meine Anweisungen befolgen, geschieht Ihnen nichts. Ich brauche ein Versteck – und Ihr Appartement ist ideal. Wer würde schon hier nach mir suchen?«
»Sie dürfen nicht hierbleiben! Das geht nicht, Sie müssen wieder gehen!«
»Beruhigen Sie sich erst einmal. Dann sehen Sie vielleicht ein, daß ich nicht mehr fort kann. Ihre Freunde haben sofort das FBI auf meine Spur gehetzt. Aber sie haben sich nicht die Mühe gemacht, Ihnen mitzuteilen, daß ich einen kleinen Zusammenstoß mit Volhontseff gehabt habe. Ein ausgesprochen glücklicher Zufall, denn sonst hätten Sie wahrscheinlich nie die Tür aufgemacht.« Sevigny ließ sie los, ging durch den Raum und schob eine schwere Couch vor den Eingang. »So. Jetzt können Sie wenigstens nicht mehr so leicht unbemerkt fliehen wie er.«
Sevigny wandte sich wieder zu ihr um und überlegte gleichzeitig, wie schrecklich er aussehen mußte. »Ich wiederhole, ich habe keinesfalls die Absicht, Ihnen wehzutun. Allerdings könnte es notwendig werden, daß ich Sie feßle und kneble, während ich schlafe oder anderweitig beschäftigt bin. Vermutlich haben Sie genügend Lebensmittel im Kühlschrank, um uns beide zu ernähren, bis meine Angelegenheit bereinigt worden ist. Wir werden die wenigen Tage hier drinnen überstehen müssen. Hoffentlich sind die Fernsehprogramme nicht allzu langweilig.«
»Nein …« Sie sah, daß ihr Morgenrock sich geöffnet hatte, und schloß ihn nur langsam. Sevigny war nicht unbeeindruckt, hatte aber keinerlei Bedürfnis, sich noch einmal hereinlegen zu lassen. »Don«, bat sie. »Ich kann unmöglich so lange hierbleiben. Ich muß meine Verabredungen einhalten.«
»Rufen Sie an und sagen Sie ab. Wegen einer plötzlichen Erkrankung. Ich werde gut aufpassen, während Sie telephonieren.«
»Und was würden Sie tun, wenn ich die Polizei benachrichtigte?«
Er grinste. »Okay, Mylady. Eine Drohung muß glaubhaft sein, und ein Klansmann greift eine Frau nicht tätlich an. Aber ich würde mich verzweifelt wehren, falls meine Gegner hier auftauchen sollten. Dabei bestünde natürlich immer die Aussicht, daß Sie zufällig in die Schußbahn geraten. Verstehen Sie, was ich damit sagen will?«
Sie schluckte trocken und nickte.
»Ich brauche nicht sehr lange«, fuhr Sevigny fort. »Wir werden uns in etwa einer halben Stunde hinausschleichen, um einen Brief an meinen Boß in Port Kepler aufzugeben. Wie ich ihn kenne, wird er keine Sekunde zögern, sondern sofort handeln.« Er schwieg nachdenklich. »Und dann, Maura, sind Sie vielleicht heilfroh darüber, daß ich hier gewesen bin – damit ich ein gutes Wort für Sie einlegen kann oder auch wegsehe, wenn Sie den Düsenklipper nach Djakarta benützen.«
Sie sah abschätzend zu ihm hinüber. »Djakarta …«, meinte sie dann. »Vielleicht gar keine schlechte Idee, nachdem ich als Mary Stafford in Chicago auf die Welt gekommen bin.« Sevigny schüttelte sprachlos den Kopf. Maura lachte. »Oder wie wäre es mit der Venus?«
»Um Gottes willen«, murmelte Sevigny entsetzt.
Die junge Frau erhob sich. »Sie haben bestimmt Hunger«, stellte sie fest. »Ich werde uns Frühstück machen. Und später …«
Ihr Blick ruhte auf ihm. »Ehrlich gesagt – die Fernsehprogramme sind doch langweilig.«
»Dann blieb ich also in meinem Versteck, bis Sie im Fernsehen erschienen und bestätigten, daß ich ungefährdet wieder auftauchen konnte, weil die Anklage gegen mich niedergeschlagen worden war«, schloß Sevigny seinen Bericht.
»Bei wem hatten Sie eigentlich Zuflucht gefunden?« fragte der Buffalo.
»Leider ist mir der Name völlig entfallen«, entschuldigte sich der Cythereaner.
Der Buffalo sah ihn von der Seite an, zuckte aber nur mit den Schultern und grinste. »Ihnen scheint es nicht besonders gut gegangen zu sein«, stellte er fest. »Sie machten einen ziemlich erschöpften Eindruck.«
»Es hätte schlimmer sein können«, antwortete Sevigny verträumt.
Der Buffalo lehnte sich in seinen Sessel zurück. »Puh, bin ich froh, wenn ich wieder auf dem Mond zurück bin!« sagte er stöhnend. »Mit meinem Gewicht kann sich kein Mensch auf der Erde wohlfühlen. Schenken Sie mir noch ein Glas ein?«
»Anscheinend haben Sie in letzter Zeit zuviel gearbeitet«, meinte Sevigny. Er entkorkte die Flasche und füllte zwei Gläser bis zum Rand. Früher hatte er sich nie für alten Cognac begeistern können, aber das war vor der Zeit in dem Appartement No. 1014 gewesen.
»Was ist eigentlich aus der ganzen Sache geworden?« erkundigte er sich. »Bis jetzt habe ich noch nichts von einer Untersuchung gemerkt.«
»Keine Angst, sie hat bereits begonnen«, entgegnete Norris. »Aber Sie dürfen keine sensationellen Enthüllungen erwarten. Die kleinen Fische werden gefangen und bestraft. Aber die großen läßt man wie üblich entkommen.«
»Was? Aber …«
»Was haben Sie denn erwartet? Ein erstklassiger Skandal würde viel zu weite Kreise ziehen und vielleicht sogar internationale Verwicklungen heraufbeschwören.« Der Buffalo nahm einen großen Schluck, rülpste zufrieden und fuhr sich mit dem Handrücken über den Mund. »Die alten Chinesen hatten ein Sprichwort, das sich auch auf unseren Fall anwenden läßt – Ein guter Feldherr läßt dem Feind stets einen Rückzugsweg offen. Genau das haben wir auch vor. Einige unserer Gegner werden sich schweigend aus der Öffentlichkeit zurückziehen müssen. Und die übrigen wissen, daß wir sie auf Schritt und Tritt bewachen. Zwei oder drei unbedeutende Agenten werden vor Gericht gestellt – zur Warnung und als Abschreckung für die anderen.«
»Aber damit sind sie doch noch nicht unschädlich gemacht!« protestierte Sevigny.
»Manche sind vielleicht unverbesserlich. Ich bezweifle es allerdings. Wahrscheinlich werden sie samt und sonders zu uns überlaufen. Schließlich haben wir jetzt auch eine Interessengemeinschaft gegründet, die beträchtlichen Einfluß ausübt.«
»Was?« Sevigny hätte fast sein Glas fallen lassen.
»Selbstverständlich. Sie müssen überlegen, daß wir auch auf die ehrlich überzeugten Gegner unseres Mondprojekts ein Auge haben müssen, die nichts mit dieser Bande zu tun hatten. Aber auf der Erde gibt es eine ganze Reihe von Organisationen, die an unserer Arbeit interessiert sind. Zum Beispiel die Parteien, die sich dafür ausgesprochen haben, während sie an der Regierung waren. Verschiedene hohe Beamte – Raumkommissare und andere. Firmen, die sich von der Erschließung des Mondes hohe Gewinne versprechen. Und einige Millionen einfacher Menschen, die von dem Tag träumen, an dem sie endlich wieder einmal aus dem Großstadtgewirr herauskommen. Wir werden alles tun, um unseren Freunden den Rücken zu stärken – und dann haben die anderen nicht mehr die geringste Chance!« Norris lachte zufrieden.
Sevigny ging zu dem Fenster hinüber und sah hinaus. Die Straßen wimmelten von Menschen und Fahrzeugen. »Wahrscheinlich haben Sie recht«, stimmte er müde zu. »Ich möchte nur wieder zu meiner Arbeit zurück.«
»Darüber wollte ich eben mit Ihnen sprechen«, antwortete der Buffalo. »Sie und ich haben hier unten auf der Erde eigentlich nichts zu suchen … He, warum sehen Sie mich so verbittert an? Wenn Sie Ihr Kinn noch einen Zentimeter tiefer sinken lassen, können Sie es als Bulldozerschaufel benützen. Sobald der Weltsicherheitsdienst Sie ausgequetscht hat, schicken wir Sie in Urlaub – ich kenne ein Naturschutzgebiet in Kanada, das für Millionäre und Sie reserviert ist –, aber dann werden Sie wieder auf dem Mond gebraucht. Trinken Sie aus, damit wir endlich zum Abendessen hinuntergehen können!«
Sevigny grinste unwillkürlich. Die Gläser klangen hell, als sie miteinander anstießen.
