Regus

 


 

»Er ist hier. Er ist Mitglied des Packmen-Club«, sagte Frederic kühl.

Caroline, die ein elegant geschnittenes Kleid trug, eine Spezialkonstruktion, die sie mit einem Zug am Klettverband lösen konnte und unter dem eine behagliche und bei schnellen Bewegungen nicht hemmende Lederkluft zum Vorschein kam, streckte sich wie nach einem langen Schlaf. Das wirkte wenig damenhaft, was sie nicht störte. Über diese Dinge war sie hinweg. Es war nicht wichtig, anderen zu gefallen. Sie hatte eine Mission und nur das galt.

Frederics hauchweicher Cut verbarg einen tadellosen Anzug, ganz in Grau mit hellen Streifen. In seinem Spazierstock verbarg sich ein Bajonett. Die dunkle Brille musste er tragen, da seine roten Augen sonst zu auffällig gewesen waren. Die langen schwarzen Haare wallten über die Schultern, er trug keine Kopfbedeckung und keinen Bart. Sein schmales Gesicht, Caroline hatte es mit einem Puder behandelt, damit es nicht allzu weiß leuchtete, war das eines schönen willenstarken Mannes.

»Und es werden sein derer zwei ...«, murmelte Caroline. Frederic betrachtete sie von der Seite und schauderte. Sie wirkte wie ein Raubtier, darauf erpicht, ihr Opfer zu schlagen. Gleichzeitig machte dies sie anziehend und betörte ihn maßlos. Sie war ein junges wildes Weib, kompromisslos in ihrer Ausstrahlung, anschmiegsam und liebevoll, wenn es darauf ankam.

Jeder, der dieses Paar sah, verharrte einen Augenblick. Ihre Ausstrahlung war unverkennbar. Sie waren von einer Aura der Leidenschaft und Verlässlichkeit umgeben, die fast greifbar war. Zwei attraktive, gut gewachsene Menschen, die zueinander passten wie Ying und Yang.

Niemand hätte vermutet, dass es sich bei Caroline und Frederic Densmore um Vampirjäger handelte und dass einer der beiden sogar ein Vampir war – dies hätte sich der Phantasie eines jeden Menschen entzogen.

»Er hat uns gesehen«, sagte Caroline. »Ich spüre es ... alles in mir kribbelt!«

»Alles?«, grinste Frederic und blinzelte, was Caroline wegen der Sonnenbrille nicht sah.

Sie stupste ihn zärtlich.

Frederic gab dem Kutscher ein Zeichen und die Droschke rollte davon.


 


 

Lächerlich! Sie sind nicht halb so stark wie ich! Was bezwecken die Beiden mit ihrem Auftritt?

Regus erhob sich und fuhr in den Mantel. Der Clubraum war fast leer, nur ein alter Geldhai, den der Vampir aus früheren Zeiten kannte, nippte an seinem Whisky.

Regus verließ den Club und trat auf die Straße.

»Schön, dich zu sehen, Frederic«, sagte er und deutete eine Verbeugung an. »Schön, auch Sie zu sehen, Mrs Densmore ... oder was immer Sie nun sind.«

Frederic legte die Hand auf den Knauf seines Bajonettstockes und Caroline stand ungerührt neben ihm. Sie sagte: »Sie sind mutig, Vampir! Eigentlich vermuteten wir, Sie würden fliehen! Seit wann stellen Mörder sich freiwillig ihrem Richter?«

Regus grinste. »Ich weiß wirklich nicht, was Sie damit sagen wollen, Mrs Densmore. Warum sollte ich fliehen? Ganz im Gegenteil – ich hätte Sie in den nächsten Tagen sowieso aufgesucht. Außerdem finde ich es seltsam, dass Frederic ein Kindermädchen braucht. Ich bin mir sicher, er kann den kleinen Konflikt zwischen uns auch ganz alleine mit mir austragen – ohne die Hilfe eines Weibes, eines Zombieweibes!« Er spuckte das letzte Wort aus, aber Caroline blieb gelassen.

Passanten hasteten vorbei, ein Pferdefuhrwerk hielt an und der Kutscher schimpfte über einen Stau, der sich ergab. Niemand achtete auf die Drei, die sich vor der Tür des Packmen-Clubs gegenüber standen.

»Du hast Albert Asbury getötet«, setzte Frederic an. »Du hast ihn getötet, um seine Macht zu übernehmen. Du hast meine Frau getötet und mich zu einem Vampir gemacht. Du hältst mich für den Geweissagten, und dennoch behandelst du mich wie einen Untergebenen. Dabei brauchst du mich, Regus! Du brauchst mich, um deinen Brüdern und Schwestern den Beweis zu liefern, dass Albert Recht hatte.«

Regus blinzelte verwundert und nahm die Sonnenbrille ab. Er legte den Kopf schief und lächelte. »Das also willst du? Du erwartest, dass ich dich bei unserer nächsten Sitzung den Anderen präsentiere?«

»So ist es!«, sagte Frederic. Sein Gesicht war hart und sein Tonfall drückte keine Zweifel aus.

»Also kein spektakulärer Kampf auf der Straße, keine Vampire, die sich mit mystischen Kräften aneinander messen?«

»Ich bin der Geweissagte!«, sagte Frederic. »Vergesse das nicht! Du weißt tief in dir, dass Albert Recht hatte. Zuerst mag es ein Spiel von ihm gewesen sein, doch er bekam Visionen und danach war ihm klar, dass er unbewusst nichts als die Wahrheit geschrieben hatte.«

Regus atmete schwer. Was plante dieser Frederic? Welches Ziel verfolgte er? Warum lieferte er sich aus? Wieso lief über das Gesicht der schönen Frau ein Schatten der Zufriedenheit? Warum wirkte sie, als könne sie ihn, Regus, den Großmeister der Gemeinschaft, mit einem Wisch vernichten? Woher nahmen die Beiden ihr Selbstbewusstsein?

»Du willst in den Inneren Zirkel?«, fragte Regus vorsichtig.

»Es steht mir zu. Ich bin der Geweissagte und ich habe euch allen etwas zu sagen.«

»Du ernährst dich noch immer von Tieren, ist es so?«

»Blut ist Blut!«, sagte Frederic.

»Nein, mein Bruder. Das ist es nicht! Nur Menschenblut macht aus uns das, was die Natur für uns vorgesehen hat. Nur so gehörst du zu uns.«

Frederic lächelte gefährlich. »Das, Regus, entscheide immer noch ... ICH!« Seine Stimme bekam einen autoritären Klang.

Regus begriff, dass er sich in seiner eigenen Falle verstrickte. Egal, was Frederic forderte – er war der Geweissagte und ihm galt es zu gehorchen. Bei allen Dämonen – so weit hatte er nicht gedacht. Das war ein cleverer Schachzug und würde dazu führen, dass Frederic alle anderen Vampire Londons kennenlernte. Er würde Zugang zum Inneren Zirkel erhalten. Die Anonymität der meisten von ihnen wäre aufgehoben. Frederic hatte ihn ausgetrickst!

»Albert war ein Spinner!«, entfuhr es ihm schneller, als er wollte.

»War er das?«, lächelte Caroline.

Regus kam es vor, als schnurre sie vor Vergnügen.

»Ja«, bestätigte er. »Den anderen konnte er etwas vormachen, aber ich wusste stets, dass er den Mythos erfunden hatte. Ich hinterschaute schnell, dass sein Großes Buch eine Fälschung war. Ich wusste die ganze Zeit, dass Albert nur hinter einem her war – hinter Geld! Sollte es so sein ... mir war es egal, denn Geld hat für mich wenig Bedeutung! Besser war, dass sich für mich so die Möglichkeit ergab, in seine Fußstapfen zu treten. Sir Albert war ein Verrückter!«

»Und warum hast du Frederic getrunken, wenn du Albert nicht geglaubt hast?«, wollte Caroline wissen.

In diesem Moment begriff Regus, dass er ein Vampir war, ein Wesen, den alten Mythen verhaftet, abergläubisch und noch immer dem Mittelalter verbunden. Dass er, wie alle anderen seiner Artgenossen, auf einer gewissen Ebene ... gehofft hatte. Vielleicht sogar geglaubt! Auf jenen Vampir, der ihnen den Weg ins Licht zeigte, was immer das auch bedeuten mochte. Dieser Glaube war zeitweilig stärker gewesen als die Vernunft. Aller Glaube war eine unwillkürliche Hingebung des Geistes an eine Vorstellung von Wahrheit. Und er hatte diese Vorstellung gehabt, jeder Logik zum Trotz.

Und dennoch durfte das nicht sein.

Er würde seine Macht verlieren, er würde sich Frederic unterordnen müssen.

Solange Frederic sich noch nicht an Menschenblut gelabt hatte, stand er auf einer Stufe, die Regus nicht kontrollieren konnte, war die Sucht, die heiße Lust auf Blut noch nicht zum alles bestimmenden Faktor geworden. Solange war Frederic stärker, da er autonom dachte und handelte, Regus’ Einfluss entzogen.

Der Vampir war zerrissen, erstaunt, beeindruckt von Frederics Charisma und Carolines Mut. »Ich werde akzeptieren«, sagte er und senkte den Kopf.

»Wann werde ich die Anderen kennenlernen?«, fragte Frederic.

»Ich werde noch heute eine Versammlung einberufen!«, antwortete Regus.

So hätte es sein können.

Regus war nicht zufrieden, aber er war einer gefährlichen Auseinandersetzung aus dem Weg gegangen.


 


 

Ein Zweispänner krachte über das Kopfsteinpflaster heran und hielt mit schnaubenden Gäulen genau vor dem Club. Der Verschlag wurde aufgestoßen und zwei Personen sprangen heraus. Ludwig, gefolgt von einer mächtig dicken schwarzhäutigen Frau, Madame deSoussa.

Frederic huschte zur Seite, Caroline machte eine weiten Satz und verharrte neben Regus.

Ludwig hielt ein Luftdruckgewehr im Anschlag.

Die Voodoopriesterin schwenkte ein metallenes Artefakt. Ein Kreuz mit vielen Verzierungen.

Caroline hielt den Atem an. Liebe Güte, die Beiden machten ihre Pläne zunichte. Nur mittels Regus kamen sie an die anderen Vampire heran und würden ihren Plan ausführen können, mit dem Ziel, alle Vampire ein für alle mal zu vernichten. Und nun das ...

Ludwig schnaubte. »Silberkugeln, Regus!« In seinen Augen tobte Hass. »Ich habe es Mr Densmore versprochen, schon vor zwei Jahren. Ich versprach ihm, Sie zu töten!«

Währenddessen schwenkte Madame deSoussa das Kreuz.

Regus lachte. »Unsinn, Aberglaube. Weder dieses lächerliche Kreuz, noch Silberkugeln können mir etwas anhaben.«

Die Frau zeigte ihre weißen Zähne. »Wirklich nicht, Vampir? Diese Kugeln sind verhext. Sie haben die Magie des Voodoo.«

Der Vampir zögerte keine Sekunde. Er kreiselte herum und riss Caroline zu sich. Sie versuchte, sich aus dem eisernen Griff zu befreien, aber der Vampir brachte mörderische Kräfte auf.

»Alter Mann – du wirst dir sehr genau überlegen, ob du auf mich schießt, wenn deine Herrin ...«

Frederic brüllte auf. Er schien regelrecht zu wachsen.

»Die Waffe runter!«, schnarrte Regus.

Madame deSoussa spuckte aus. »Ich kann Tote aus ihrem Reich holen, glaubst du wirklich, es gelingt mir nicht, einen Vampir genau dorthin zu schicken?«

Caroline brach der Schweiß aus. Regus hielt sie fest, presste sie vor seine Brust. Passanten schauten zu ihnen hin. Man würde sich nicht weiter um sie kümmern. Gewaltsame Auseinandersetzungen gehörten in den Londoner Strassen zum Alltag. Es war besser, sich da nicht einzumischen.

Frederic veränderte sich. Seine Zähne fuhren aus, sein Gesicht wurde schmaler. Eine heiße Aura umfloss ihn und mit einem Sprung, für ein menschliches Auge zu schnell, gelangte er hinter Regus.

Der Vampir wirbelte herum, Caroline noch immer im Griff. »Noch eine Bewegung und ich breche ihr das Genick!«

Regus konnte diese Drohung wahr machen. Seine Kräfte waren enorm. Carolines jedoch auch. Sie schloss die Augen, dachte an Frederic, an seine Liebe zu ihr, an ihre Vergangenheit und ihre Zukunft und in ihren Adern begann das Blut zu toben. Liebe konnte alle Grenzen niederreißen. Nur die Liebe schenkt die Kraft, gegen übermächtige Feinde zu siegen. Liebe und Vertrauen!

Madame deSoussa sprang Regus an wie eine Löwin. Sie drückte ihm das Kreuz ins Gesicht. Auch ihre Bewegungen waren schnell und geschmeidig. Ludwig ging in die Hocke und ein Schuss fiel.

Ludwig ist blind vor Hass!, dachte Caroline. Er handelt unüberlegt! Er hätte sie oder Madame deSoussa erschießen können!

Frederic heulte auf, denn die Kugel hatte ihn gestreift. »Verdammt, Ludwig. Entweder zu zielst richtig oder du lässt es.«

Die Voodoopriesterin fuhr herum, schien sich der Gefahr bewusst zu sein und sprang aus der Schusslinie. Regus’ Finger waren an Carolines Hals. Sie spürte den Druck seiner Finger in ihrem Genick. Der Katzeninstinkt nahm von ihr Besitz. Mit einer blitzschnellen Bewegung entzog sie sich ihm, drehte sich um die eigene Achse, riss in derselben Bewegung das Kleid von ihren Hüften, zog aus dem Gürtel, den sie über ihrer Lederkluft trug, ein Messer mit silberner Klinge und rammte es dem Vampir in die Brust.

Regus kreischte und für einen Moment schien es, als verdunkele sich die Sonne. Er machte einen Satz und klebte an der Wand des Clubhauses. Es war vier Stockwerke hoch und bevor Caroline zu sich fand, huschte der Vampir wie eine Fliege an der Wand hoch.

Frederic folgte ihm sofort.

Caroline erkannte: Er ist verletzt! Die Silberklinge muss ihn verletzt haben! Auch wenn er sagt, das alles sei nur Aberglaube. Einen Versuch war es wert!

Tatsächlich bäumte sich Regus auf, als er an einem Fenstervorsprung verhielt und sein Gesicht verzerrte sich. Hatte er Schmerzen? Beeindruckte ihn die Verletzung wenigstens vorübergehend, bis die Wunde sich wieder schloss? Frederic wusste das zu nutzen und überholte ihn. Mit einem mächtigen Hieb trat er Regus gegen den Schädel. Seine Kraft, seine Behändigkeit erlaubten ihm blitzschnelle Bewegungen. Den meisten Beobachtern musste alles wie ein Huschen, wie ein Schemen vorkommen. Ludwig erging es wohl nicht anders, denn er blinzelte und suchte mit dem Gewehr sein Ziel. Für einen Moment fror alles ein. Frederic hatte sich in seinem Widersacher verhakt, und der Vampir versuchte offensichtlich, sich zu verändern, denn sein Körper pumpte.

Er will sich in den Raben verwandeln und fliehen!, durchfuhr es Caroline und erneut dachte sie an ihre Katzenkräfte. Sie rannte zu Ludwig und riss ihm die Waffe aus der Hand. Sie huschte zum Nebenhaus, turnte über die Mauer, zog sich an einigen Vorsprüngen in die Höhe und landete auf dem Dach, nur wenige Meter von den Kämpfenden entfernt.

Sie legte an und achtete darauf, dass ihr Atem ganz ruhig ging. Sie hatte noch nie geschossen, aber sie würde treffen – ja, das würde sie!

Unten murmelte die Voodoopriesterin tonlose Sätze und Caroline spürte, dass sich die geheimen Befehle auf ihre Waffe übertrugen. Das Gewehr wog schwer in ihrer Hand, es pulsierte regelrecht. Sie suchte ihr Ziel.

Frederic, pass auf! Ich würde es mir nie verzeihen, dich zu anzuschießen. Es ist schon schlimm genug, dass du durch Ludwig verletzt wurdest.

Ihr Finger krümmte sich um den Abzug. Sie zögerte. Was, wenn die Kugel daneben ging? Was, wenn ...?

Regus begriff die Gefahr, die von Caroline ausging, denn er drehte sich zu ihr und grinste breit, wobei er sanft den Kopf schüttelte. Frederic sprang einen Meter beiseite, noch etwas höher, aus der Schusslinie. Sein Mund öffnete und schloss sich, aber Caroline verstand kein Wort. Sie war konzentriert. Ihre Sinne konzentrierten sich einzig und alleine auf Regus’ Brust.

Der Vampir zog die Augen zusammen, das Grinsen erlosch, so als erkenne er die Wahrheit und nehme erstmals wahr, was aus Caroline geworden war.

Die Kugel sauste aus dem Lauf.

Es dauerte eine Sekunde und Caroline dachte schon, Regus verfehlt zu haben, als der Vampir brüllte und hintenüber fiel. Er stürzte in die Tiefe und lag mit verrenktem Körper auf dem Pflaster. Über seinem Herz klaffte ein Loch, aus dem Dampf aufstieg.

In wenigen Sekunden fanden sich Caroline und Frederic bei den Anderen.

»Sir – es wird Zeit, dass wir verschwinden!«, sagte Ludwig. »Mylady ... das war ein wunderbarer Schuss!«

Zwei Constabler kamen angerannt. Eine Trillerpfeife ertönte. Ein fetter Mann erschien in der Tür zum Club und paffte seine Zigarre, als sei nichts geschehen. Er musterte den Toten und schüttelte den Kopf.

Frederic umarmte Caroline und sie küssten sich, was für zufällig hinschauende Passanten einen Affront darstellte.

Madame deSoussa ging dazwischen. »Für Zärtlichkeiten ist später Zeit.«

Frederic streichelte Carolines Wangen.

Caroline flüsterte: »Er ist tot!«

Frederic nickte. »Ja, das ist er. Wir werden uns mit Mambo und Ludwig zu unterhalten haben, aber eines scheint mir richtig: Wir müssen abhauen!«