Rabentraum

 


 

Caroline erholte sich zusehends, ihre schmale Gestalt nahm sozusagen von Tag zu Tag mehr Rundungen an, so, als würde ein fast Verhungerter wieder regelmäßig gespeist.

Ludwig schlich auf Zehenspitzen durchs Haus. Frederic begann zu beten, was er in seinem ganzen Leben noch nie getan hatte. Er wusste, wie abstrus es war, dass ein Untoter mit Gott sprach, aber entzog sich was geschehen war, nicht sowieso jeder Logik?

Nach drei Tagen war Caroline stark genug, das Bett zu verlassen. Sie warf sich einen Morgenrock über und verließ das Zimmer. Sie war fest davon überzeugt, an einer Influenza erkrankt gewesen zu sein und freute sich darüber, wieder ins Leben zu treten.

Frederic nahm sie in seine Arme und drückte sie an sich. Er streichelte ihre Wangen, ihren Hals, küsste ihre Haare und Caroline genoss es. Trotzdem ... sie hatte doch nur ein paar Tage gekränkelt?! Nun, sie ließ es gerne geschehen und selig fanden ihre Lippen sich zu einem innigen Kuss.

Ludwig, der unten in der Halle den Kamin reinigte, blickte zu ihnen zur Empore hoch und schmunzelte zufrieden.

Etwas, spürte Caroline, war anders als sonst. Ludwig hatte in den letzten Tagen längere Haare bekommen, Frederic war schmaler geworden, seine Wangen waren eingefallen, die Gesichtshaut kalkweiß wie bei einem Todkranken. Die Sauberkeit im Hause hatte nachgelassen, außerdem vermisste Caroline die Dienerschaft, allen voran Wanda, die das Hauspersonal mit eiserner Hand führte. Es roch unangenehm nach Staub und Feuchtigkeit. Wie konnte das in so wenigen Tagen geschehen sein? War um hatte sie davon nichts mitgekriegt?

»Was ist passiert?«, fragte sie Frederic. »Ich bin in Ohnmacht gefallen, war ein paar Tage krank und habe jetzt das Gefühl, es seien mehrere Monate vergangen. Ludwig hat viel längere Haare als vor meiner Krankheit und du, mein Liebster, siehst aus, als hättest du wochenlang gefastet.«

Frederic schluckte. »Du solltest dich noch etwas ausruhen ...«

»Ich glaube, du weichst mir aus.«

Caroline wurde übel, ihr Magen drehte sich und eine kalte Hand der Angst presste ihre Kehle zusammen. Ja, hier hatte sich etwas ganz entscheidendes geändert. Was es war, wusste sie nicht. Nur dass es so war, spürte sie mit aller Macht. Kein Kuss auf der ganzen Welt konnte ihre Sinne beruhigen, Sinne, die bebten wie die Schnurrhaare einer Katze.

»Gedulde dich noch etwas, Liebste«, murmelte Frederic, küsste sie und stapfte davon.

Verwirrt starrte Caroline ihrem Mann hinterher.


 


 

»Sollten wir Ihr das sagen, Ludwig? Sie wird darunter leiden. Sie wird es nicht begreifen.« Frederic drehte mit den Fingerspitzen den Globus und starrte darauf, als erwarte er dort eine Antwort zu finden.

»Warum gehst du davon aus, dass sie es nicht begreift? Warum sollte sie darunter leiden?« Ludwig nippte an seinem Brandy. Er hatte Frederic den Rücken zugedreht, blickte aus dem Fenster und wirkte nun einmal mehr wie ein Vater, der verantwortungsvoll seinem Sohn einen Ratschlag erteilt.

Frederic versetzte der Weltkugel einen Stoß. »Sie war tot, verdammt noch mal! Und zwar zwei Jahre lang. Nun lebt sie wieder. Fühlt sich gesund. Frisch und ausgeruht. Wenn sie die Wahrheit erfährt, wird sie sich fühlen wie ein Monster, wie eine abnorme Kreatur.«

»Warum sollte das so sein?« ließ sich Ludwig vernehmen. »Stelle dir vor, Sie erfährt es irgendwann einmal ... durch einen Zufall ... durch ein böses Spiel!« Nun war Ludwig endgültig zur vertraulichen Anrede übergegangen, was Frederic begrüßte, da es ihm ein Gefühl von Nähe und Wärme vermittelte. »Sie kennt Regus, hat ihn gesehen, auch wenn sie sich jetzt nicht mehr daran erinnert. Was, wenn ihre Erinnerungen zurückkehren? Was, wenn sie ihm begegnet und er ihr alles berichtet?«

»Das wäre tragisch. Aber vielleicht würde sie es dann nicht glauben, es für einen bösen Scherz halten.«

»Tatsächlich?« Ludwig ließ die Frage abtropfen. »Du liebst deine Frau über alles, mein Junge. Also wirst du Mrs Densmore doch kennen. Wie, frage ich dich, würde sie das sehen?«

»Sie ist eine starke Frau, Ludwig. Und bitte, nenne sie Caroline, wenn wir unter uns sind. So, wie du es die letzten eineinhalb Jahre getan hast.«

»Ist Caroline die Wahrheit lieber als die Lüge?«

»Sie ist ein redlicher Mensch. Das weißt du.«

Ludwig grunzte und leerte das Glas. Er drehte sich um, stellte das Glas auf ein Tablett und verschränkte die Hände hinter dem Rücken. »Hat denn nicht jeder Mensch ein Recht darauf, seine Identität zu kennen?«, murmelte er fast unhörbar.

»Wie meinst du das?«, fragte Frederic.

Der Butler blickte auf und lächelte schief. »Ich habe allergrößte Zweifel daran, dass man eine Liebe auf eine Lüge aufbauen kann. Man wird früher oder später daran zugrunde gehen, und sei es schleichend. Und da Caroline dich liebt, wird sie sich an ihre neue Identität gewöhnen.«

»Dann muss sie alles erfahren, was geschah. Sie erinnert sich an nichts mehr, weiß also auch nicht, dass ich seit zwei Jahren ein Vampir bin. Sie muss also gleich mehrere entsetzliche Wahrheiten verkraften. Wird sie das nicht überfordern?«

»Gehe behutsam vor. Beweise, dass du ein liebender Ehemann und guter Freund bist. Es wird nicht einfach werden, aber ich bin sicher, du wirst das richtige tun. Vielleicht wird es einige Tage dauern, bis Caroline alles realisiert hat ... eure Liebe wird es überstehen. Ich für meine Person reiche für ein paar Tage Urlaub ein und besuche meine andere Schwester in Kent. Du hast deine Frau und das Haus also für euch!« Der alte Mann ging zur Tür, blieb dort stehen und deklamierte: »Lieb' ist ein Rauch, den Seufzerdämpf' erzeugten, geschürt, ein Feuer, von dem die Augen leuchten, gequält, ein Meer, von Tränen angeschwellt. Was ist sie sonst? Verständige Raserei und ekle Gall und süße Spezerei.«

Frederic lächelte. »Romeo und Julia!«

Ludwig nickte und machte mit dem Zeigefinger ein zustimmendes Zeichen. »Carpe diem ... mein Junge!« Er deutete eine Verneigung an und verließ Frederics Arbeitszimmer.


 


 

Caroline träumte.

Der Landauer rollte durch Maisfelder, gelb und reif, soweit das Auge sah. Frederic rauchte eine kubanische Zigarre, Ludwig saß auf dem Bock und trieb das Gespann an.

Der Himmel war blau und eine milde Brise fing sich unter Carolines Kopfbedeckung. Charles und Isodora, ihre Kinder, lachten in den Sonnenschein, und Charles tropfte aufgeweichte Schokolade über sein Sonntagskostüm. Caroline schüttelte den Kopf und setzte zu einem Verweis an, als ein Rabe, etwas zwei Fuß groß, sich zwischen die Kinder setzte, die davon nicht bemerkten.

Der Rabe funkelte aus roten Augen und öffnete den Schnabel. »Sie haben Ihre Mann sterben lassen, Mrs Densmore!«, schnarrte er. »Dafür haben Sie den Tod verdient!«

Caroline fing an zu schreien, was Frederic völlig unbeeindruckt ließ, denn er blickte in eine andere Richtung und rauchte genussvoll.

Der Rabe breitete seine Flügel aus und die Köpfe der Kinder verschwanden unter seinem Gefieder. »Du warst tot und wurdest erweckt!«


 


 

Caroline schlug die Hand vor ihren Mund, schluckte einen Hilferuf hinunter und starrte die Kreatur an. »Du bist ein Zombie, ist dir das klar? Du bist ein widerlicher Zombie, Caroline Densmore!«

Der Rabe lachte kreischend und flog davon. Dort, wo die Kinder gesessen hatten, war nun nichts mehr. Ludwig drehte seinen Kopf wie auf einem Kugelgelenk langsam nach hinten, ohne das seine Schultern sich bewegten. Sein Gesicht war eine weiße Maske, die Augen hinter einer schwarzen Brille verborgen. Er öffnete die Lippen und zeigte ein zahnloses Grinsen. »Es stimmt, Mrs Densmore. Frederic und ich haben Sie von den Toten zurückgeholt. Wir brauchen Sie. Sie müssen uns helfen, denn Ihr Mann, ein Vampir, der sich vom Blute der Lebenden ernährt, will sich an jenem Monster rächen, das Ihnen und ihm das antat!«

»Rache ist schlecht ... ist eines christlichen Menschen unwürdig ...« flüsterte Caroline erschüttert. »Wer auf Rache sinnt, reißt seine eigenen Wunden auf, die sonst verheilt wären«, fügte sie atemlos hinzu.

»Und doch, Mylady, ist die Rache auch eine Art wilder Gerechtigkeit, nicht wahr?« Ludwig drehte den Kopf wieder nach vorne.

Frederic nahm die Zigarre aus dem Mund und murmelte, während er starr vor sich hin starrte ein Zitat: »Ich schlage beide Welten in die Schanze. Mag kommen, was da kommt! Nur Rache will ich!«

Das Bild löste sich in farbigen Schlieren auf und Caroline befand sich in Onkel Alberts Rosengarten.

Nadelrosen, Zimtrosen, Cherokee-Rosen, Rosa stellata, Rosa gallica, schwarze, rote, gelbe und farbige Rosen.

Es roch betäubend.

Caroline war alleine. Sie schloss ihre Augen und atmete den Duft, der sie fast schwindlig werden ließ. Was sie erfahren hatte, ließ sie sonderbarerweise kalt. Na gut – dann war es eben so. Schlimmer war, dass der Rabe ihre Kinder entführt hatte. Aber – liebe Güte, sie träumte dass sie träumte – hatten sie im wirklichen Leben schon Kinder? Nein! Deshalb war dieser Traum bestenfalls ein Hinweis auf die Zukunft.

Ich bin stark! Auch wenn ich tot war, bin ich stark! Ich erlangte durch meine Rückkehr zu den Lebenden Fähigkeiten, die ein normaler Mensch nicht haben kann. Ich bekam Sinne geschenkt, die mir helfen werden, mein zukünftiges Leben zu überstehen!

Hinter ihr lachte jemand.

Caroline fuhr herum.

Ein hochgewachsener gutaussehender Mann stand dort, im schwarzen Anzug, die behandschuhte Hand leicht auf dem Ebenholzgriff eines Stockes gelegt. Unter dem Zylinder blickten harte Augen hervor.

REGUS!

Woher kenne ich seinen Namen?

»Sie haben Ihren Mann sterben lassen, Mrs Densmore ...«, schloss ihr Traum mit denselben Worten, mit denen er begonnen hatte. Der Mann lächelte, nickte und seine Lippen formten ein ums andere Mal diesen Satz.

»Du hast mich getötet, Kreatur!«, schnappte Caroline zurück. »Also habe ich meine Strafe erhalten!«

Der schwarze Gentleman nickte und lächelte süffisant. »Das alles ist widerlich und abstoßend. Es dürfte dich nicht geben. Wenn schon der Tod nicht mehr endgültig ist ... Wenn sogar seine Gesetze keine Gültigkeit mehr haben ...«

»Wessen Gesetze, Vampir?« spuckte Caroline aus.

Regus verzog sein Gesicht. »Seine ...«

»Gottes?«

Der Vampir zuckte zusammen, als habe Caroline ihn mit dem Stock geschlagen.

»Die des Teufels!«

Caroline wollte erneut antworten, dieses Scheusal ein für alle mal mattsetzen, da ruckte sie hoch und erwachte.

Sie war schweißgebadet und blickte hilfesuchend umher. Die Wanduhr zeigte zwei Uhr in der Frühe. Wo war Frederic? Warum lag er nicht neben ihr? Und warum, lieber Gott, sah sie die Uhr, obwohl es im Zimmer stockdunkel war?

Es dauerte ein paar Minuten, bis sie sich in der Gegenwart wiederfand. Der Traum ging seiner Wege und das Zimmer war wieder ein Schlafzimmer. Sie musste gestern Nachmittag eingeschlafen sein und war nun, nach zehn Stunden Schlaf, erwacht!

Wo war Frederic? Er war ihr gestern noch eine Erklärung schuldig geblieben, hatte sie vor ein paar Stunden stehen lassen wie ein Schulmädchen. Außerdem, und endlich fiel der Alptraum endgültig von ihr ab, sehnte sich ihr Körper nach ihm. Sie hatten schon eine Weile keinen Sex gehabt.

Sie versuchte, aufzustehen, ließ sich aber noch einmal seufzend in die weichen Kissen fallen.

Bilder, die sie schon fast verdrängt hatte, kamen plötzlich, unvermutet und mit brachialer Macht zurück, gefolgt von Sätzen, deren Gehalt sie nicht verstand.

Du warst tot!

Du bist ein Zombie!

Du wurdest von den Toten erweckt!

Dein Mann ist ein Vampir!

Ich habe neue Sinne...

Ich bin ... ich bin ... ICH BIN EIN ZOMBIE!

Auf einer tiefliegenden Ebene erkannte sie die Wahrheit. Bilder zuckten hinter ihren weitaufgerissenen Augen. Regus! Sie starb! Frederic wurde gebissen! Ihr Platz auf dem Kaminsims! Ihre Sehnsucht, Frederic den Vampir, noch einmal zu küssen, zu berühren. Die Seance! Ihre Rückkehr zu Frederic, weil sie ihn liebte, weil sie auf ihn aufpassen wollte, weil sie verhindern wollte, dass Regus Recht behielt.

Das alles, Bruchstücke, die sich langsam und mit grauenhafter Präzision zusammensetzten, und die Konsequenz, mit der alles dies geschah, ließ sie schreien, schreien...

... bis die Tür aufgerissen wurde und Frederic ihren bebenden, zitternden Leib in seine Arme schloss. Nun erstarben ihre entsetzten Laute und sie wurde überspült von einem Meer von Schluchzern.