F und C

 


 

Seancen, also spiritistische Sitzungen, galten als gruselige Belustigung an langweiligen Abenden. Zu allen Zeiten dieses Jahrhunderts begegneten sich Menschen, um über die Nutzung eines Mediums mit der Welt der Toten in Kontakt zu treten.

Kaum ein Schriftsteller oder Intellektueller, der diese Erfahrung nicht gesucht hatte. Ob Dostojewski oder Dickens, sie alle hatten sich mit dem Übersinnlichen versucht. Kaum ein Haus in ganz England, in dem es keine Seancen gab. Manchmal wurden sie in Hinterzimmern abgehalten, manchmal galten sie als stillschweigender Höhepunkt der gesellschaftlichen Saison.

Ludwig und Frederic wussten genau, dass sie für eine erfolgreiche Seance einen illustren Kreis nach Asburyhouse einladen mussten. Zu zweit oder zu dritt war die Wahrscheinlichkeit, mit dem Übernatürlichen in Kontakt zu treten, sehr gering. Außerdem benötigten sie ein Medium, wenn möglich das Beste. Nur ein erfolgreiches Medium trat in Kontakt mit dem Verstorbenen, kommunizierte mit ihm, entweder über Worte oder über das sogenannte Automatische Schreiben.

Obwohl Seancen überall abgehalten wurden, galten sie als Geheimnis. Kein anerkanntes Mitglied der Society sprach zu einem anderen über das Erlebte. Die Medien wurden größtenteils anonym behandelt. So sehr es der allgemeinen Belustigung galt, so sehr wurden diese Stunden auch ernst genommen.

Ludwig hatte einen Termin für die nächste Woche festgelegt.

»Und es werden sein derer Zwei, die dem Dunkel entgegentreten. Ihre Schwingen werden überdecken das Böse. Ihre Liebe wird zerreißen den Hass! Sie werden vernichten die Sphäre des Blutes und gewinnen des Menschen Seele!« hallten die Sätze durch Asburyhouse. Immer wieder las Frederic sie sich laut vor. Als wolle er sich damit Mut machen. Als suche er hinter den Worten nach einem weiteren, neuen versteckten Sinn.

Ja, ja – es konnte auch etwas anderes bedeuten. Aber gab es solche Zufälle? Gab es überhaupt Zufälle?

»Verdammt!«, rief Frederic. »Auch ich bin ein Vampir. Wie sollte ich mich gegen meine ...« Er sprang hoch, machte einen Salto und landete auf der gegenüber liegenden Seite des Raumes. »Gegen meine ... Brüder und Schwestern ... stellen?«

»Ist es jetzt so weit?«, ließ sich Ludwig vernehmen, der hinzu getreten war. »Reißt der Faden?«

»Ich weiß es nicht. Wie lange noch, mein Freund? Wie lange noch soll ich in dieser Zerrissenheit leben? Wie lange noch soll ich Kaninchen trinken, wenn dort draußen das warme Blut lebendiger Menschen auf mich wartet?« Frederic fauchte und machte eine Geste der Abscheu. Er beugte seinen Oberkörper vor, seine Finger wurden zu Krallen. Aus seinem Mund wuchsen zwei Zähne, wie die eines jungen Säbelzahntigers. In seinen roten Augen loderte Blutdurst.

Ludwig wich überrascht einen Schritt zurück, hielt dem Fluchtreflex jedoch stand.

Nein, Frederic!, rief Caroline. Nein – tue es nicht! Wenn du fliehst, wird er dich verfolgen, er wird dich schlagen wie der Tiger eine Antilope!

»Ich bin ein Narr, Ludwig. Ich bin ein Narr, weil ich einer unmöglichen Hoffnung folge.«

»Die Seance, Frederic! Du hast eine winzige Chance.«

»Welche soll das sein, he?«, zischte der Vampir. »Meinst du, durch diesen Hokuspokus erlange ich Caroline zurück? Glaubst du, irgendetwas wird sich ändern?«

»Haben Sie etwas zu verlieren? Sie haben zwei Jahre gewartet. Das Geheimnis offenbart sich Stück für Stück! Außerdem haben Sie es beschlossen. Nun führen Sie es aus««

»Ich bin kein Mensch mehr, Ludwig. Ich bin ein Untoter. Ich kann Häuserwände erklimmen wie eine Fliege, ich kann in die Nacht hinaus fliegen wie ein Vogel, ich sehen Dinge, die du dir in deinen kühnsten Träumen nicht vorstellst. Ich blicke durch dich hindurch, auf den Grund deiner Seele.«

»Und was siehst du?«, schmetterte Ludwig.

Frederic sackte zusammen und schwieg. Er bebte wie ein Raubtier.

»Was, verdammt, siehst du?«, donnerte Ludwig noch einmal.

Frederic sprang über den Sessel. Er hangelte sich an den Holzstreben unter die Decke. Dort hing er und blickte herab. Mit weit ausgebreiteten Armen ließ er sich fallen und kam direkt vor Ludwig auf die Füße. Er schlug seine Krallen auf die Schultern des alten Mannes. Sein Kopf ruckte vor. Auge in Auge standen sie dort.

Caroline wischte dazwischen, versuchte, sich bemerkbar zu machen. Vergeblich.

Frederic atmete schwer. Er bewegte kaum die Lippen, aber seine Stimme war klar und vernehmlich. »Ich sehe einen Freund. Ich sehe einen Mann, der ahnt, was richtig ist.«

Ludwig war kreidebleich. Seine Oberlippe zitterte. Schweißtropfen liefen über seine Stirn. Er nickte langsam. »Ja, Frederic. So ist es ...«

Frederic breitete die Arme aus und legte sie um Ludwig. Er zog die schmale Gestalt des alten Mannes an sich. Er drückte ihn und erst jetzt sah Caroline, dass dem Vampir blutrote Tränen über die Wangen liefen.

Und dann geschah etwas, dass Caroline in all den Monaten ihrer Körperlosigkeit nicht gespürt hatte: Zorn! Wut! Und Abscheu gegenüber ihrem Mörder! War sie Frederics Schwingungen ausgeliefert? Strahlten seine Impulse des grausamen Tatendranges genauso auf sie ab wie seine Düsternis, Trauer und Depression? Ja, so schien es. Caroline überlief ein Zittern. Diese Weissagungen, die geplante Seance. Frederic fürchtete sich davor.

F und C!

Nicht Football Club, sondern …

Frederic und Caroline?

Was hatte das zu bedeuten? Worauf lief das hinaus?

Sie ließ die Männer in ihrer Umarmung alleine. Sie huschte ins Untergeschoss, legte ihre Schwingen über die Abdeckung des Kamins, ruhte in astraler Empfindsamkeit und wartete.

Es würde noch ein paar Tage dauern.

Sie wartete jetzt zwei Jahre – da kam es auf ein paar Tage mehr oder weniger nicht an.


 


 

Ein beißender Schmerz riss Caroline aus ihrer Verinnerlichung.

Ihre Anima webte sich zusammen, schwang sich auf. Ein Hauch von Angst durchfuhr sie. In ihrer nichtmateriellen Sphäre kämpfte ihre Leib-Seele-Verbundenheit, eine geeignete Form für diese Empfindung zu erschaffen.

Ich fühle Schmerz, fühle Lust - ich schmecke Süßes, rieche Rosenduft!

»Ich werde nun die Kontemplation suchen ...«, hörte sie eine Frauenstimme sagen.

Der Schmerz wurde fast unerträglich und Caroline jammerte still. Etwas riss an ihr, schob und stemmte sich gegen sie.

Die Seance war im Gange. Sie schwebte über dem runden Tisch, an dem zwei ihr unbekannte Damen, Frederic, Ludwig und eine alte Frau saßen. Diese Frau schien das Medium zu sein, denn sie hatte die Handflächen auf den Tisch gelegt und murmelte mit geschlossenen Augen vor sich hin.

Lediglich drei Kerzen beleuchtete die Szene.

»Ich suche die Levitation – deine Levitation, Caroline Densmore, geborene Asbury, verwitwete Bailey. Im tiefen Raum des Körperlosen weilst du. Im tiefen Raum der Düsternis hegst du deine Zeit. Komme zu uns, spreche durch mich, zeige dich und gebe uns ein Zeichen.«

Caroline huschte über die Kerzen. Ein Licht erlosch!

Noch nie war es ihr gelungen, ihre Geistigkeit so direkt in die Realität strahlen zu lassen. Ungläubig betrachtete sie die erloschene Kerze. Das war sie gewesen. Noch einmal beugte sie sich hinunter und wieder erlosch eine Kerze. Die Gesichter der Teilnehmenden lagen im Dunkeln. Eine der Frauen ächzte.

»Fasst euch an den Händen«, murmelte das Medium. So geschah es und ein Ruck ging durch Caroline. Vor ihr öffnete sich ein Fenster, eine Öffnung tat sich auf, weißes Licht strahlte herein, auf der gegenüberliegenden Seite wartete etwas auf sie. Aber was war das? Der Schmerz ließ nach, ihr wurde ganz leicht. Ein Gefühl der Liebe bemächtigte sich ihrer. Frederic! Ja, er war es, der sie rief. Sein Gesicht erstand vor ihr, sehr groß. Die langen Wimpern über die Augen gesenkt, was ihm etwas Demütiges gab, das schöne schmale Gesicht, die weiße Haut. Der geschlossene Mund mit den fein geschwungenen Lippen. Frederic! Er schwieg, öffnete seine Augen und tiefe Liebe sprach aus seinem Blick. Ein unhörbarer Ruf: Komme zurück zu mir! Caro! Befreie mich! Erhöre mich!

Die Stimme des Mediums fasste Caroline an. Sie spürte die Berührung und ein Blitzschlag durchfuhr sie. Seit zwei Jahren hatte sie keinen Körperkontakt mehr gespürt, seit zwei Jahren verbrachte sie ihr Dasein in Körperlosigkeit und nun – schien alles anders zu sein. Alles veränderte sich. Ist es so, wenn man geboren wird? Wenn man den Mutterleib verlässt und den ersten trüben Blick in diese Welt wirft?

Das Medium stöhnte.

Frederic seufzte.

Dann fuhren alle Köpfe herum.

Und Caroline ahnte den Grund dafür. Sie sahen sie. Sie nahmen sie wahr. Sie erblickten ihren Geist. Caroline war anwesend.

Das Medium heulte auf, sackte zusammen, trommelte auf den Tisch und wurde unversehens ganz ruhig. »Ich möchte deine Stimme hören ...«

Frederic fuhr hoch. Die Hände hielten ihn auf seinem Sitz.

»Caroline – meine Caroline«, stöhnte er.

Caroline schwebte an ihn heran, ganz dicht, ihr Gesicht nur wenige Zentimeter von seinem entfernt. Ihre Blicke trafen sich und erstmals, nachdem Regus sie getötet hatte, waren sie wieder beieinander. Caroline streckte ihre Finger aus und fuhr über Frederics Gesicht. Ihre Fingernerven jubilierten. Sein Gesicht war tränennass. Ja, er spürte sie. Zwischen ihnen schien die Zeit zu explodieren und gleichermaßen stillzustehen.

Das Medium schwieg jetzt.

»Seht ihr mich?«, fragte Caroline.

»Ja, ja, ja«, hauchte Frederic. Die anderen nickten. In den Augen der Frauen funkelte Grauen und Entrückung. Ludwig lächelte still und passte auf, dass Frederic seine Hand nicht losließ.

»Ich bin immer bei dir gewesen, mein Liebster«, flüsterte sie. Wie hörte man ihre Stimme? Als ein Wispern? Als Zischeln? Als Donnergrollen? »Ich habe dich nie verlassen, Frederic. Ich werde dich immer lieben!«

»Dann – dann komme ich zu dir«, schluckte Frederic. Sein Kopf fuhr zum Medium herum. »Ich möchte sie umarmen. Was ist, wenn wir den Kontakt untereinander verlieren?«

»Das Pneuma heiligt die Glaubenden. Selbst ihr Leib ist ein Tempel des Pneuma. Es bedeutet Freiheit von der Herrschaft der Sünde, des Todes ...«, sagte das Medium geheimnisvoll.

Frederic riss sich los.

Etwas schleudert Caroline zurück. Sie krachte an die Wand. Wie von Geisterhand entzündeten sich die erloschenen zwei Kerzen. Jemand schrie auf. Das Medium heulte. Mit einem krachenden Laut fuhren Funken im Kamin hoch. Wie ein Gaslicht entzündeten sich die Scheite und das plötzlich erwachte Feuer tauchte die Szenerie in ein alptraumhaftes Licht.

Caroline stieß sich von der Wand ab, stolperte nach vorne. Unter ihren Füßen war Holzboden. Sie stand. Sie spürte ihre Beine, ihren Körper. Sie machte zwei ungelenke Schritte nach vorne. Frederic sprang auf. Er breitete die Arme aus. Er umfing sie. Die anderen Teilnehmer der Seance sprangen hoch. Ein Stuhl fiel um. Das Medium brüllte Befehle.

Caroline fand sich in Frederics Arm. Sie drückten sich aneinander.

»Ich komme mit dir ...«, stöhnte Frederic. »Ich bleibe bei dir!«

»Nein –das geht nicht«, sagte sie. Himmel, wie gut er roch. Wie gut es tat, ihn zu spüren. Ihn, den sie ewig lieben würde.

»Dann töte ich mich«, keuchte Frederic. »Damit wir beieinander sind.«

»Du bist unsterblich«, murmelte Caroline ganz leise, damit es die Anderen nicht hören konnten.

Ihre Lippen waren sich ganz nahe. Nur dieser eine Kuss! Danach sehnte sie sich! Ihn noch einmal spüren, ganz nahe bei ihr...

Im selben Moment implodierte Caroline Welt. Es gab einen grellen Lichtblitz, Funken sprühten, ihre Seele fing Feuer und sie fand sich wieder, wo sie gelegen hatte.

Auf der Abdeckung des Kamins.

Nebenan polternde Schritte, aufgeregte Stimmen, eine Tür schlug, etwas fiel auf die Fliesen, zerschellte genauso, wie Carolines Traum.

Die Seance war beendet.


 


 

»Ich habe die Schnauze voll!«, brüllte Frederic. Er schlug mit der Handfläche auf den Schachtisch, der in tausend Holzsplitter barst.

»Du gebärdest dich wie Hamlet«, grollte Ludwig, der nun jede Distanz vermissen ließ. »Ungestüm, jung, unreif!«

Frederic reckte sich. Er kniff die Augen zusammen und nickte. »Vermutlich hast du recht, Ludwig. Ich war einst ein überragender Anwalt. Ich war souverän und überlegt. Nun bin ich ein Nervenbündel. Aber verstehe doch – ich hielt sie in meinen Armen ...«

»Himmel noch mal, ich weiß es!«, schnauzte Ludwig. »Aber es wird nicht besser dadurch, dass du es tausendmal wiederholst. Du weißt, dass sie bei dir ist. Sie hat es dir bestätigt. Sie ist auch – jetzt! – bei dir. Sie sieht dich.«

»Du hast wie immer Recht. Es wird Zeit, etwas zu unternehmen. Regus versprach mir vor zwei Jahren, ich würde irgendwann stark genug sein, um zu ihm zu gehen. Stärker sogar als er, hatte er gesagt. Angenommen, das ist nun so, wird es Zeit, ihn zu suchen. Nun ist es soweit. Es wird Zeit, die Trübsal abzuschütteln. Es wird Zeit, dass ich mich der Weissagung stelle. Was immer auch geschehen wird, es muss jetzt sein.«

»Das Tagebuch spricht von zwei Personen ...«

»Ich weiß, mein Lieber!« Frederics Lippen waren zwei scharfe Linien.

»Sir, Sie wollen alleine zu Regus? Sie wollen ihn alleine suchen? Ich weiß nicht, ob ich das gutheißen kann ... Sir!«

»Ob einer oder zwei – Onkel Albert war ein cleverer Mann. Auch er war alleine. Ich bin sein Erbe? Sei’s drum! Ich werde mir Regus schnappen. Ich werde ihn vernichten. Ich werde den Mörder meiner Frau nicht ungeschoren davonkommen lassen. Danach wird man sehen, was geschieht.«

»Warte noch ...« Ludwig machte eine entsprechende Geste. »Warte den heutigen Abend noch ab ... bitte!«

»In Ordnung, Ludwig! Und du entscheide dich endlich mal, wie du mich ansprichst ...«

Ludwig nickte und grinste.

»Was hast du dir einfallen lassen?«

»Wir erwarten Besuch.«

»Wen?«

»Madame deSoussa!«

»Kenne ich nicht!«

»Sie ist unsere letzte Chance ...«