Zwei Jahre zuvor

 


 

Caroline Asbury-Bailey wartete auf Frederic Densmore. Er müsste eigentlich schon eingetroffen sein. Die Uhr zeigte eine Viertelstunde nach neunzehn Uhr. Sie hatten sich in Asburyhouse zum gemeinsamen Dinner verabredet. Frederic würde in dieser Nacht unten in der Halle wachen.

Endlich hörte sie Hufgetrappel, ein Verschlag knallte zu und der Türklopfer wurde betätigt.

Caroline ging, die Tür zu öffnen. Sie war alleine. Die Dienerschaft durfte in dieser Woche noch nach Hause fahren, um zu packen. Ab dem nächsten Montag würden sie ins Gesindehaus ziehen und Caroline rund um die Uhr betreuen.

Frederic hatte den Mantelkragen in den Nacken gezogen und den Kopf zwischen den Schultern vergraben. Er klopfte seine Schuhe auf dem Abtreter aus und trat ein. »Ganz schön kalt geworden«, knurrte er und knöpfte den Mantel auf.

Caroline nahm ihm das Kleidungsstück ab und hängte es auf.

»Mmh! Wie das duftet.« Frederic schnüffelte wie ein Biber.

»Schöpskeule nach Art meiner Mutter«, sagte Caroline.

»Ist die Köchin noch da?«

»Nein, das habe ich alleine zubereitet.«

»Bravo«, bemerkte Frederic, ohne auch nur eine Sekunde lang spöttisch zu wirken. Es war nicht selbstverständlich, dass Damen der gehobenen Gesellschaft kochen konnten, auch wenn dies auf manchen Wirtschaftschulen vermittelt wurde. Größtenteils legte man mehr Wert darauf, den Probandinnen das Klöppel- und Stickhandwerk zu lehren. Der Hauptteil des Unterrichts bestand darin, zu lernen, wie man sein Hauspersonal kräftig herumschubste.

»Vergessen Sie nicht – ich komme aus einem armen Elternhaus. Mein Vater fiel im Krieg, meine Mutter hatte kein Vermögen.«

Sein Blick war dunkel. Sein Gesicht drückte Mitgefühl aus. Das machte Caroline für einen Moment verlegen. Was las er in ihr?

»Meine Mutters Bruder«, fuhr sie fort. »also Onkel Albert, ließ uns kein Geld zukommen. Die kleine Pension meiner Mutter reichte gerade aus, um über die Runden zu kommen. Auch mein verstorbener Mann hinterließ mir nichts als Schulden. Erst Onkel Alberts Tod hat alles geändert. Nun könnte ich die Toreinfahrt mit Goldstücken pflastern.« Sie kicherte.

Bald saßen sie am Tisch. Caroline füllte die Weingläser. Frederic kaute und murmelte: »Wunderbar – ganz wunderbar.«

Sie hatten sich nicht an die Köpfe des langen Tisches gesetzt, wie es üblich war. Stattdessen saß Caroline vor Kopf und Frederic rechts von ihr über Eck. So konnten sie sich in die Augen schauen. Sie konnten sich spüren.

Und das geschah.

Sie sprachen nicht viel. War es Scheu, war es Zaudern? Was ging zwischen ihnen vor sich? Einmal, zweimal ertappte sich Caroline dabei, dass sie plapperte.

Er grinste verlegen, stocherte in seinem Essen herum und fragte: »Darf ich meine Jacke ablegen? Das Kaminfeuer brät meinen Rücken …«

»Aber selbstverständlich.« Caroline sprang auf, als wolle sie ihm – lieber Himmel – die Jacke von den Schultern reißen. Wie eine Dienstmagd! Sie verhielt sich wie ein kleines Mädchen.

»Ich war einige Jahre in Indien«, versuchte Frederic Konversation, nachdem er sich wieder gesetzt hatte. »Die Malaria brachte mich fast um.«

»Ach?«

»Dann ging ich nach Südafrika. Ich diente im Zulukrieg. Wir Briten sorgten dafür, dass es keine Zulunation mehr gibt. Wir besiegten sie bei Ulundi. Ich war mit der ganzen Sache nicht einverstanden und habe mir dadurch eine Menge Feinde gemacht.«

»Dann sind Sie ein unbequemer Mensch?«

»Ich kann es sein ... wenn ich will, wenn ich an etwa glaube.« Wieder lächelte er verlegen, auf eine sehr männliche Art. Caroline ahnte, dass er viel zu erzählen hatte. Das sein Leben ihn nicht ohne Narben gelassen hatte. Und sie hoffte, alles noch zu erfahren.

»Ich bin seit fünf Monaten und drei weitere Malariaanfälle später aus Afrika zurück und arbeite als Advokat, als Anwalt.«

»Ich weiß.«

»Selbstverständlich wissen Sie das.« Er räusperte sich. »Ich wurde Anwalt, weil ich Dickens’ Bücher liebe. Ich war achtzehnhundersiebzig in Westminster dabei, als man ihn zu Grabe trug.«

»Oh, wie interessant.«

»Man hat sich von einem der größten Dichter aller Zeiten verabschiedet. Er war es, der uns die kleine Nell schenkte und Ebenezer Scrooge.«

»Auch ich liebe seine Bücher, Frederic!«

»Dickens war als Schreiber bei einem Anwalt angestellt. Nur deshalb konnte er Dombey and Son schreiben. Dieses Buch habe ich mehrfach gelesen. Ich nahm mir vor, es eines Tages besser zu machen als seine Romanfiguren. Ich wollte dieses harzige, unflexible Rechtssystem verbessern!«

Caroline wusste, dass sie Frederic nun fragen sollte, ob ihm sein Plan gelungen war, stattdessen sprudelte es aus ihr hervor: »Dombey ist eines der besten Bücher aller Zeiten, fast so gut wie Oliver Twist.«

»Ja ...«

Sie schwiegen verzückt.

Caroline erhob sich und trug den Nachtisch auf.

»Was halten Sie von Shakespeare?«, fragte Frederic, als Caroline sich wieder setzte.

»Ich finde seine Sonette schön.«

»Obwohl wir noch immer nicht wissen, wer die Dark Lady ist ...?!«

»Ist das wichtig?«

Frederic lächelte und schüttelte den Kopf. »Nein, ist es nicht.«

»Othello und Jago«, sagte Caroline. «Jago haben wir unsere Erkenntnis der Intrige zu verdanken.”

Frederic nickte und strahlte. »Ja, das sehe ich auch so.«

»König Lear – Der alte Mann und der Wahnsinn, ein jeder Mann ...«

»Eine interessante Sichtweise«, echote Frederic.

»Der Sommernachtstraum – wer denkt nicht an ihn und gleichzeitig an einen Wald voller Sonne, Schatten und Feenstaub?«

»Schön gesagt ...«

»Hamlet – Der Wahnsinn der Jugend. Viel Lärm um Nichts – Beatrice und Benedikt, die sich streiten, wie es nur Liebende können.« Sie machte eine kleine Pause und seufzte. »Romeo und Julia - seitdem wissen wir, was Liebe bedeutet.”

»Ja«, nickte Frederic. »Es ist, als habe Shakespeare die Liebe ausdrücklich für dieses Stück erfunden.«

Erneut schwiegen sie. Sahen sich an. Endlose Sekunden.

Frederic brach das Schweigen und sagte leise. »Kürzlich habe ich einen alten Bekannten besucht, Mr Holmes. Er ist Privatdetektiv. Er zeigte mir Daguerotypien der Pyramiden von Gizeh. Er berichtete, das Ägypten ein Land der Mysterien sei. Ich erfuhr heute, dass wir dort einen neuen Klienten haben. Diesen werde ich demnächst besuchen müssen, um eine Nachlassangelegenheit zu regeln.«

»Ägypten muss wunderbar sein. Ich habe viel darüber gehört. Der Nil, die alte Kultur ...«

Das war ungewöhnlich, wusste Caroline. Eine gute britische Lady hatte sich gefälligst in ihrem Heim auszuleben. Das Ausland, schlimmer noch, exotische Plätze, sollte sie sich versagen, am besten gar nicht wahrnehmen. Würde sie Frederic mit ihrer Einschätzung erschrecken?

»Sie sind wirklich eine erstaunliche Frau«, antwortete Frederic stattdessen. »Ich habe das Gefühl, egal was es auch sei, mit Ihnen besprechen und teilen zu können.«

»Ja«, nickte Caroline verlegen und füllte die Gläser nach. Die Standuhr schlug neun Uhr.

Der schwere Wein tat seine Wirkung. Zuerst bekam Caroline warme Ohren, dann wurde ihre Stimme beschwingt und als das Knistern im Kamin lauter zu werden schien, die Hitze glühender, wusste sie: Ich bin angetrunken! Das gehörte sich nicht. Sie kannte Frauen, die sich ihr Leben lang in keinem Stuhl angelehnt hatten. So, wie es Königin Viktoria vorlebte. Frauen, die nie ihren Männern widersprachen. Die das Motto lebten: Gebe dem Manne Recht und er ist’s zufrieden. Ist er es, bist du es auch!

Sie lachte.

Frederic blickte sie aufmerksam an. »Habe ich Soße am Kinn?«

»Verzeihen Sie, Frederic ...«, kicherte Caroline. Sie würde ihm ihre Gedanken auf keinen Fall mitteilen. Nein, auf keinen Fall, aber sie würde ihn jetzt und hier ...

Sie beugte sich vor, legte ihre Hand um seinen Kopf, zog ihn zu sich und küsste ihn.

Seine warmen Lippen schmeckten nach süßem Wein und Lust. Falls er erstaunt war, zeigte er es nicht. Selbstbewusst erwiderte er ihren Kuss. Ihr Mund öffnete sich. Seine Zunge erforschte sie. Sie rutschte auf die Vorderkante ihres Stuhls, er kam ihr ebenfalls entgegen. Sie stöhnten und ließen sich keine Sekunde los. Endlich, atemlos, lösten sie sich einen Moment. Nur, um sofort wieder in eine innige Zärtlichkeit zu versinken. Seine Hände waren an ihrem Nacken, seine Lippen an ihrem Hals. Seine Finger glitten hinab auf ihre Schultern, auf ihren Rücken. Sie ertastete sein volles schwarzes Haar. Seine Zunge spielte auf ihrem Hals und Caroline erbebte. Noch nie in ihrem Leben hatte sie derartige eine Leidenschaft empfunden.

In dieser Nacht musste Frederic nicht alleine wachen.


 


 

Sie heirateten zwei Wochen später auf einem Schiff. Der Kapitän, ein ehrwürdiger Mann an die Sechzig, sprach die wichtigen Worte und die Zeremonie endete mit einem innigen Kuss.

Die Hochzeitsreise ging nach Ägypten. Mit einem Schiff fuhren sie den Nil bis nach Kairo. Sie besuchten Luxor und Abu Simbel. In Kairo schlenderten sie in der Staatsbibliothek, die erst vor wenigen Wochen eröffnet hatte. In der el-Hākim-Moschee besichtigten sie Ausstellungsstücke aus dem 7. bis 19. Jahrhundert aus allen Teilen der islamischen Welt. Keramiken, Kacheln, Holzschnitzereien, Glasgegenstände, Metallarbeiten, Manuskripte und Bücher sowie Teppiche und Textilien. Sie sahen die Hängende Kirche, die vor ein paar Jahren fertiggestellte Alabaster Moschee. Zu den Pyramiden von Gizeh ritten sie auf Kamelen. Dort dinierte sie im Sonnenuntergang. Ein kleiner braunhäutiger Reiseführer machte mehrere Fotografien von ihnen. Frederic belohnte ihn mit einem großzügigen Bakschisch.

Caroline war noch nie so glücklich gewesen, wie in diesen Tagen.

Als sie ins regnerische England zurückkehrten, war ihr, als betrete sie einen fremden kargen Planeten. Nur Frederics Lebhaftigkeit, seinem Optimismus und der männlichen Ungezwungenheit verdankte sie es, nicht allzu traurig zu werden.

Frederic bezog Asburyhouse. Er war ein wohlhabender Mann. Sein Vater war Gründer der Kanzlei Densmore and Densmore. Sie vertraten Klienten auf der ganzen Welt und unterhielten beste Beziehungen zu Sherlock Holmes, Pinkerton und Interpol. Weiterhin hielten sie Aktienbesitz in Indien, Deutschland und besaßen eine kleine Reederei.

Dennoch war Caroline tausendmal vermögender.

Sie rechnete es Frederic hoch an, dass er Geld nie zum Thema machte. Voller Vertrauen gab er seine eigene Wohnung in der City auf und übernahm als neuer Hausherr Asburyhouse. Hier habe man sich kennen gelernt, meinte er, hier wolle man leben! Auf dem Lande! Im Grün der Hügel. Wo die Seele baumeln kann und die Liebe blühen. Wo Kinder gesund aufwachsen würden und Onkel Alberts Rosen ihren Duft verströmten.

Die alte Wanda fegte durchs Haus wie ein Wirbelwind und brachte das Personal auf Vordermann. Es blitzte und blinkte in jedem Zimmer. Kein Staubkorn, wohin man blickte. Die Mahlzeiten wurden pünktlich serviert. Die Pferde waren gestriegelt, wenn sie es sein sollten. Der Hof war geharkt, wenn es notwendig war. Die Büsche im Garten waren gestutzt, wenn Caroline sie genießen wollte. Onkel Alberts Rosengarten gedieh noch immer voller Pracht.

Eine weitere Bereicherung war der Butler Ludwig, ein Mann unbestimmten Alters. Er begleitete seit zwanzig Jahren Frederics Lebensweg. Nach dem tragischen Tod seiner Eltern war ihm nur noch Ludwig geblieben. Dieser hatte sich rührend um den Jungen gekümmert. Wenn er Frederic anschaute - wusste Caroline schon nach wenigen Minuten - sprach tiefe Liebe aus seinem Blick. Dieser Mann würde niemals von Frederics Seite weichen. Dafür verehrte sie ihn auf der Stelle und der Butler gab ihr seine Sympathie zurück.

Dennoch konnte auch er das Unheil nicht verhindern.

Das Unheil, das in der folgenden Nacht geschah.

In jener Nacht, in der Caroline Densmore starb.


 


 

Frederic schleuderte die Bettdecke weg.

Caroline setzte sich kerzengerade auf.

»Wer ist da?«, zischte Frederic und griff seine Handballenpistole. Diese Waffe war eine Mischung aus Schlagring, Dolch und Revolver. Als ehemaliger Soldat hatte er die Angewohnheit, eine Waffe in seiner Nähe zu haben, nie abgelegt, außerdem hatte er Caroline versprochen, auf sie Acht zu geben.

Er richtete die Waffe auf den Eindringling.

Neben der Tür, die der Eindringling leise wieder geschlossen hatte, ragte seine Gestalt auf. Fast sieben Fuß groß, in einen dunklen Mantel gehüllt, den Kopf unter einer Kapuze verborgen.

»Er ist es ... Der dunkle Mann, das Gespenst«, entfuhr es Caroline.

Sie hatte den Eindringling seit jener Nacht schon fast vergessen. Zu viel war geschehen, zu lange war es her. Vielleicht hatte sie einen Teil der Begegnung geträumt?! Hatte es sich doch nur um einen ganz gewöhnlichen Einbrecher gehandelt, den sie auf frischer Tat ertappt hatte?

»Sie haben Recht, junge Lady. Wir kennen uns«, kam es unter der Kapuze hervor. »Sie können sich ihre sechs Patronen sparen, Mr Densmore. Kugeln können mir nichts anhaben.«

»Ich werde Sie erschießen, wenn Sie nicht sofort die Hände sinken lassen, Mann!«, schnappte Frederic und stand in einer fließenden Bewegung neben dem Bett.

Der Eindringling senkte die Arme und hob etwas den Kopf. Seine Augen glühten genauso wie in der Nacht, als er Caroline das erste Mal begegnet war.

Frederic zog mit der freien Hand am Klingelzug, der Ludwig aktivierte. Dann riss er wieder daran, die Schnur löste sich aus ihrer Halterung und fiel in Frederics Hand. »Sie haben Pech, Mann. Ich habe einen leichten Schlaf. Daran gewöhnt man sich, wenn man im Krieg war. Deshalb werde ich Sie nun fesseln. Dann reden wir miteinander!«

Der Eindringling lachte heiser, bewegte sich jedoch nicht. »Wenn ich nicht gewollt hätte, dass Sie erwachen, wäre das nie geschehen, Mr Densmore.«

»Was bedeutet das?«, stammelte Caroline.

»Hören Sie auf Ihre Frau, Mr Densmore. Sie ist eine kluge Lady. Sie droht nicht mit leeren Gesten, sondern sie stellt die richtigen Fragen.«

»Also?«, stieß Frederic rau hervor.

»Ich habe mit Ihrer Frau nichts zu tun, Frederic. Ich interessiere mich nur für Sie ... Und jetzt lassen Sie, im Namen der Hölle, die Waffe sinken und die Klingelschnur fallen. Sie werden mich weder fesseln noch sonst wie festsetzen können. Ich bin Ihnen in allen Belangen, sei es Geschwindigkeit oder Kraft, absolut überlegen. Ich habe nicht mal eine Waffe bei mir. Diesmal auch keine Laterne, denn eigentlich sehe ich sehr gut im Dunkeln. Das letzte Mal musste ich Sie blenden, junge Lady, damit Sie mich nicht zu gut sehen konnten. Heute jedoch interessiert das nicht.«

Es klopfte.

Ludwig.

»Machen wir es kurz, Frederic.« Der Eindringling trat einen Schritt zur Seite und gab die Tür frei. »Wenn Sie meine Anwesenheit verraten, drehe ich Ihrem Butler den Kopf auf den Rücken, bevor er es begreift. Danach töte ich Ihre Frau mit einem Handstreich. Sie selber werden dann die Hölle erleben. Überlegen Sie sich also gut, was Sie tun.«

Caroline fragte sich später immer wieder, wie sie an Frederics Stelle reagiert hätte.

Hätte sie dem Fremden geglaubt?

Hätte sie seine Drohungen als Bluff empfunden?

War Frederics Handlungsweise die einzig schlüssige gewesen?

Frederic hob die Waffe und schoss. Einmal, dann noch einmal pumpte er zwei Kugeln in den Körper des Fremden. Der zweite Knall hallte noch nach, als der Eindringling verschwand und auf der anderen Seite des Schlafzimmers, am Fenster, wieder auftauchte.

Ludwig riss die Tür auf. »Was ist hier los?«

»Raus!«, brüllte Frederic, der wohl im selben Moment wahrnahm, dass er einen Fehler begangen hatte. »Verschwinde, Ludwig!«

Caroline sprang neben Frederic und stieß sich ein Bein am Bettpfosten. Sie heulte vor Schmerzen auf.

Der Eindringling sauste an ihr vorbei. Sie spürte seinen Luftzug. Er stand neben der Spiegelkommode. Frederic folgte ihm. Es war ein groteskes Rennen, das nur einen Sieger kannte.

Ludwig stand im Türrahmen. Mit ungläubiger Miene verfolgte er das seltsame Schauspiel.

Caroline blinzelte und traute ihren Augen nicht.

Frederic wurde zurück geschleudert, der Schattenmann, mehr als einen Kopf größer als sein Opfer, schlug seine Zähne in Frederics Hals. Frederic versuchte, den Kopf des Monsters von sich zu lösen, vergeblich. Er gurgelte und zappelte im Griff des Ungeheuers. Über dessen Schultern hinweg starrte Frederic mit weißen, weit aufgerissenen Augen in die Dämmerung, ein verzweifelter Blick, den Caroline nie vergessen würde.

Der Raum wurde von einem bleiernen dumpfen Geruch erfüllt. Blut, Angst und etwas, das Caroline zuvor noch nie wahrgenommen hatte. Wie ein – Gewürz des Todes!

Caroline schrie.

Sie warf sich vor und krallte ihre Hände in den Rücken des Fremden. Dieser grunzte, löste seine Zähne aus Frederics Hals und wirbelte herum. Sein Gesicht war weiß, von den langen Zähnen tropfte Blut und die Lippen waren rot. Caroline wurde vom Boden hochgehoben, sie schwebte einen Herzschlag lang durch die Luft und krachte mit dem Hinterkopf an die Wand. Dort rutschte sie zu Boden.

Ein beißender Schmerz zuckte durch ihren Kopf, als hätte jemand mit dem Hammer drauf geschlagen und sie versuchte zu schreien. Kein Laut kam über ihre Lippen. Dann war der Schmerz vorbei.

Ein Blitz, ein Luftzug, ein Schatten und der Fremde war verschwunden. Um Gegensatz zu ihrer ersten Begegnung erkannte Caroline bitter und regungslos, wie es ihm gelungen war. Kein Zauber war es, sondern Geschwindigkeit. Der Fremde war schlicht und einfach blitzschnell gewesen, so schnell, dass ein normales menschliches Augen ihm nicht folgen konnte.

Frederic lag verkrümmt auf dem Teppich. Aus seinem Hals pumpte Blut, einmal, zweimal, dann hörte es auf. Sein Gesicht war erschreckend weiß. Seine Augen waren geschlossen.

Alles das hatte nur wenige Sekunden gedauert und Ludwig erwachte aus seiner Starre. Er schaute von Caroline zu Frederic, als suche er eine Entscheidung, wem er zuerst helfen solle. Dann entschied er sich für Frederic. Er drehte den Bewusstlosen auf den Rücken, schlug ihm sanft aber bestimmt ein paar Mal auf die Wangen, schüttelte den Kopf und drehte sich zu ihr, Caroline, um. Dies war der Moment, indem Caroline merkte, dass sie sich nicht bewegen konnte. Sie versuchte, ihre Beine anzuwinkeln, was nicht gelang. Ebenso wenig konnte sie ihren Oberkörper verrücken. Ihre Augen blickten zwar auf das Geschehen, aber die Wimpern waren starr.

Ludwigs Gesicht näherte sich ihr. Er legte zwei Finger auf ihren Hals. Dann suchte er ihr Handgelenk, ihren Puls. Endlich strichen seine Finger über ihre Augen und es wurde dunkel.


 


 

Das Licht war heller, als alles, was Caroline je gesehen hatte. Es war nicht nur hell, sondern weiß! Eine glitzernde Kälte fuhr durch ihren Körper. Wirbelnde Farben, das Gefühl von kristallinem Blau, eine schwebende Leichtigkeit. Sie öffnete die Augen und sah hinab.

Dort unten lag sie, mit gebrochenem Genick. Tot!

Und doch nicht tot, denn sie konnte sich schließlich sehen, konnte wahrnehmen, hören, ja, sogar riechen konnte sie. Ihre Sinne schwammen auf einem Ozean der Weitsicht, waren leicht wie Federn und das grelle Weiß war leicht überhöhten, dennoch normalen Farben gewichen.

Mit erstaunlicher Klarheit, ohne Furcht, vielmehr mit Heiterkeit, erkannte Caroline: Ich bin ein Geist!

Zwar hatte auch sie, wie jeder Mensch, sich irgendwann überlegt, wie es wohl sei, als körperlose Neugeburt durch den Äther zu schweben, so, wie es nun geschah, hatte sie es sich nicht vorstellen können. Es war viel weniger spektakulär als gedacht. Stattdessen hatte es eine schon fast selbstverständliche Komponente, so, als kehre sie nach hause zurück. Zurück in einen Zustand, den sie nie wirklich vergessen hatte. In den Mutterleib und weiter. In ein erhebendes Davor!

Dor war Frederic.

Er rappelt sich auf, gestützt von Ludwig, und tastete an seinen Hals, die Augen grellweiß geöffnet und den Mundwinkel panisch verzogen. Ludwig nickte, strich Frederic über die Haare und sagte mit ruhiger Stimme: »Ein Vampir! Er hat Sie gebissen. Danach ist er verschwunden wie ein Blitz!«

»Caroline! Was ist mit Caro?«, fuhr Frederic hoch. Er taumelte, tastete um sich, hielt sich fest und sein Blick fiel auf die Tote. Er fiel auf die Knie, heulte auf, schlang seine Arme um sie, drückte sie an sich und weinte.

Ludwig stand hinter ihm, räusperte sich und verließ das Zimmer.

Caroline schwebte etwas tiefer, legte Frederic ihre Fingerspitzen auf die Schulter, wollte den Ärmsten trösten...

Hier bin ich! Es gibt mich noch! Ich bin noch bei dir!

...um zu merken, dass er sie nicht wahrnahm. Verzweifelt legte sie sich über seinen Rücken, schwerelos, filigran, durchsichtig, umschlang ihren Liebsten mit Armen aus Gaze, küsste ihn mit Lippen aus windigem Ozon und weinte gemeinsam mit ihm wasserlose Tränen.