Zwei Jahre zuvor

 


 

Caroline Asbury-Bailey machte einen weiten Schritt die Stufen hinunter auf das Kopfstein. Der Kutscher reichte ihr den Koffer. Sie zögerte.

»Soll ich’n reintragen?« Er wies mit unstetem Blick auf das Gebäude, das sich düster gegen einen schweren Wolken verhangenen Himmel abhob.

»Das mache ich schon selbst«, sagte Caroline, die sich vor dem Schnapsatem des Mannes ekelte.

»Is recht ...«, grunzte der Kutscher und hielt seine Hand auf. Caroline ließ einen Sovereign in die schmutzige Handfläche tropfen. Der Kutscher sprang auf den Bock. Der Zweispänner machte sich krachend mit stahlbespannten Rädern davon.

Die junge Frau reckte sich und betrachtet das Haus.

Asburyhouse!

Es kauerte vor Caroline wie ein zum Angriff geducktes Tier. Die Fassade wurde von Efeu gefressen und die Giebel waren Schattenrisse vor dem drohenden Unwetter. Nebelfeuchte Dachziegel glänzten wie das Fell eines Panthers. Wetterleuchten ließ die gespenstische Atmosphäre aufflammen, so dass Caroline für einen Moment zu erblinden meinte. Knorrige Äste bildeten eine bizarre Umrandung für das Bild. Caroline fröstelte und zog ihren Kopf zwischen die Schultern. Zögernd griff sie den Koffer, stöhnte, so schwer war er und stapfte den Kiesweg hoch. Dieser verjüngte sich und endete vor einer Tür, dessen Klopfer im Zwielicht funkelte, als habe sich Marley’s Geist darin verirrt. Krachend entlud sich der Himmel. Caroline zuckte zusammen und Gänsehaut überzog ihren Körper.

Erste Regentropfen klatschten auf den Kies.

»Dummes Kind!«, versuchte sie es mit einem aufmunternden Selbstgespräch. »Das ist ein ganz normales Haus. Du hast es von Onkel Albert geerbt und das ist auch schon alles. Nichts Besonderes. Gewiss kein Geisterhaus.« Vielleicht hätte sie Shelleys Frankenstein doch nicht lesen sollen. Man hatte sie gewarnt. Nun ließ sie das dumpfe Gefühl, nur eine Ahnung von Gefahr, nicht los. Das war lächerlich. Sie schüttelte sich. »Und eigentlich ist es ja sehr eindrucksvoll. Was kann Asburyhouse dafür, dass es regnet und blitzt?«, murmelte sie.

Sie betätigte den Klopfer. Einmal, dann noch einmal.

Die Tür musste aus stabilem Holz sein, denn sie vernahm keine Schritte von innen. Entsprechend überrascht war sie, als die Tür aufgerissen wurde.

»Mrs Asbury-Bailey?«

Vor ihr stand vermutlich der Mann, mit dem sie sich verabredet hatte.

»Frederic Densmore«, stellte der Mann sich vor. Also war er jener Anwalt, der die Erbschaftsangelegenheiten geregelt hatte. Bisher kannte Caroline ihn nur von den Briefwechseln, die nach Onkel Alberts Tod notwendig gewesen waren. Sie hatte ihn sich völlig anders vorgestellt. Nicht so ... groß! Nicht so athletisch und so verdammt gutaussehend. Schwarze wellige Haare fielen ihm bis auf die Schultern, das Gesicht war glatt rasiert und auf einen Schnauzbart verzichtete der junge Mann ebenso wie auf den Backenbart. Er war braungebrannt wie ein Pirat, das Kinn mit dem Grübchen in der Mitte zeugte von Energie, die schmale Nase bog sich über volle Lippen und als er lächelte, zeigte er zwei Reihen schneeweiße Zähne. Und dann waren da noch seine Augen ... so tief, warm und freundlich, dass Caroline alle Befürchtungen verlor. Sie streckte dem Anwalt den Arm entgegen. Dieser hauchte ihr einen Kuss auf den Handschuh. Geschmeidig waren seine Bewegungen und sehr selbstbewusst.

Er sagte mit dunkler Stimme: »Ich hoffe, Sie hatten eine gute Reise, Mrs Asbury-Bailey. Sie gestatten?« Der graue Tweedanzug stand ihm gut, die Stiefel waren blitzblank poliert. Er nahm den Koffer, als handele es sich lediglich um ein leichtes Reisegepäck.

Caroline trat an ihm vorbei. Schwer fiel die Tür ins Schloss.

Mit wenigen Schritten überholte er sie und stellte den Koffer neben dem Kamin ab. Das Feuer wärmte die Empfangshalle. Scheite knisterten. Der Rauchabzug war perfekt, denn außer nach Politur, Leder und altem Holz roch es nach nichts anderem. Sie blickte durch den Raum und freute sich über die große geschwungene Treppe, die ins Obergeschoss führte. Diese Treppe gab dem Haus die Anmutung eines königlichen Gemäuers.

„Sie werden durstig sein”, sagte Densmore.

„Wenn ich’s mir recht überlege …“

„Sie haben die Wahl. Whisky oder Tonic.“

„Tonic?“ Sie hatte noch nie Tonic getrunken, aber schon viel davon gehört.

„Hat Ihr Onkel direkt aus Genf von Schweppe bezogen. Es gibt noch ein paar Kisten im Keller.“

„Dann bitte Tonic.“ Caroline fühlte sich wohl und nett empfangen.

»Recht so, Mrs Asbury-Bailey. Für Alkohol ist es noch etwas früh und Tonic trinken auch wir ehemalige Offiziere gerne. Wir brauchen das Chinin hin und wieder, um uns gegen die Nachwirkungen der indischen Malaria zu wappnen.« Der Anwalt füllte zwei Gläser. »Ich gratuliere zu Ihrem Erbe. Warten Sie, bis die Sonne wieder scheint. Das Haus hat wunderbare Räumlichkeiten, alles ist im besten Zustand. Hinter dem Haus befindet sich ein unvergleichlicher Garten. Ihr Onkel züchtete dort Rosen. Der Pavillon ist über alle Zweifel erhaben und der Goldfischteich ist traumhaft. Aber ich vermute, Sie werden müde sein. Darf ich Ihnen später Ihr Zimmer zeigen?«

»Mein Zimmer?« Caroline zog die Brauen zusammen. »Ich dachte, ich besitze ein ganzes Haus?«

Der Anwalt nickte und blinzelte sie über den Rand des Glases an. »Ich habe Ihnen ein Gemach richten lassen, damit sie sich von der Reise erholen können. Selbstverständlich steht es in Ihrem Ermessen, alles so herzurichten, wie es Ihnen beliebt. Morgen werden einige Bedienstete kommen, die Ihnen auf Zuruf folgen.«

»Es ist also alles organisiert?«, lächelte Caroline. Himmel, der Mann war nicht nur gutaussehend, sondern schien auch klug, vorausschauend und ausnehmend nett zu sein.

»Wir von Densmore and Densmore versuchen stets, unsere Klienten ...«

»Ich glaube Ihnen auch so«, winkte Caroline ab und leerte höchst undamenhaft das Glas in einem Zug. Um Haaresbreite hätte sie gerülpst, also schlug sie in letzter Sekunde den Handrücken vor die Lippen. Tonic schmeckte wunderbar, war aber den Reichen vorbehalten, sodass sie es mangels fehlender Gelegenheiten nicht kannte.

Frederic Densmore schmunzelte ohne Spott. Seine Augen funkelten und sein Blick streifte sie von oben bis unten, ohne unverschämt zu wirken. Sie ist eine schöne Frau!, las Caroline darin.

Im Kamin stoben Funken. Der Feuerschein reflektierte auf Densmores Gesicht. Noch immer standen sie sich gegenüber. Wie viel Zeit war vergangen? Dieser Mann, fand Caroline, erfüllte die große Halle mit angenehmer Präsenz. Schon jetzt konnte sie sich nicht vorstellen, wie es ohne ihn hier sein würde. Bei dieser Annahme kam sie sich klein und verlassen vor. Dieses Haus schrie förmlich nach einem Mann wie Frederic Densmore. Wie kam sie auf solche Gedanken? War sie übermüdet? Hatte ihr die Reise mehr zugesetzt, als sie wahrhaben wollte? Verwirrt strich sie sich über die Stirn.

Die Gedanken eines Backfisches, liebe Güte! Sie verhielt sich wie ein kleines Mädchen.

»Verzeihen Sie, Mrs. Asbury-Bailey ...«

»Belassen Sie es bei Asbury, Mr Densmore. Mein Mann, Mr Bailey fiel in Indien. Das ist vier Jahre her. Ab sofort beginnt für mich eine neue Zeitrechnung.« Himmel noch mal, warum erzählte sie ihm diese Lüge? Einem Mann, den sie kaum kannte.

»Wie Sie wünschen, Mrs Asbury.« Er deutete eine galante Verbeugung an.

Caroline blinzelte ihre verrückten Gedanken weg. Seitdem ihr Gatte gestorben war, hatte sie keinen anderen Mann mehr angeschaut. Und nun dies: Ein düsteres Haus, ein Kaminfeuer, Tonicwasser und zwei Menschen ...

»Setzen wir uns«, meinte der Anwalt. »Ja, das wollte ich vorhin sagen. Setzen wir uns. Ich bin ein Narr. Reiche Ihnen einen Drink und wir stehen hier rum wie die Ölgötzen. Oder darf ich Ihnen Ihr Zimmer zeigen? Vielleicht möchten Sie auch lieber alleine sein?« Er schien verunsichert.

»Nein!«, entfuhr es Caroline schneller, als ihr lieb war.

Er wirkte verlegen. Das stand ihm gut. So bekam sein Selbstbewusstsein ein ehrliches Gesicht. Ein knackender Scheit riss sie aus der Verlegenheit und Caroline straffte sich.

»Sie haben recht, Mr Densmore. Ja, ich bin ... ich bin wirklich sehr erschöpft. Ich würde mich freuen, wenn wir morgen alle weiteren Formalitäten besprechen könnten. Wann darf ich das Personal erwarten?« Caroline bemühte sich um eine sachliche Stimmlage.

Der Anwalt reagierte sofort. »Um zehn Uhr sollte man hier eintreffen. Gute Leute. Nette Menschen. Von uns ausgesucht und sehr fähig. Wenn es Sie nicht stört, werde ich morgen früh anwesend sein, um alles zu überwachen. Wie wäre es um neun Uhr?«

»Sehr schön, Mr Densmore«, nickte Caroline. »Wir können dann Tee miteinander trinken.«

Der Anwalt verbeugte sich und wies auf den Koffer. »Der ist sehr schwer. Ihr gerichtetes Zimmer ist die Treppe rauf, dann sofort rechts. Soll ich ...?«

»Ich werde alles alleine finden. Mr Densmore, ich freue mich, dass Sie so geduldig auf mich gewartet haben.«

Frederic Densmore nickte, lächelte und schritt an Caroline vorbei. Er zog die Tür auf. Regentropfen schossen herein. Es blitzte und donnerte, wovon sie hier im Hause nichts gehört hatten. Wind jaulte durch die Halle.

Lieber Gott, der Mann würde binnen Sekunden klatschnass sein und sich eine Erkältung, wenn nicht sogar eine Lungenentzündung holen, vermutete Caroline.

»Warten Sie, Mr Densmore«, rief sie hinter ihm her. »Wir könnten uns ...«

Der Anwalt hatte die Tür hinter sich zugezogen und wurde vom Grau des Unwetters verschluckt.


 


 

In dieser Nacht fiel es Caroline schwer, einzuschlafen.

Zu fremdartig waren die Eindrücke. Hinter den Wänden hörte sie Mäuse huschen, was nicht ungewöhnlich war. Dennoch schienen ihr die Geräusche zu laut. Die Treppenstufen knarrten, als schritten Geister auf und ab. Im Gebälk heulte ein Uhu. Regen prasselte gegen das Fensterglas. Asburyhouse war nicht anders als viele Herrenhäuser, die am Stadtrand von London kauerten. Es lebte.

Die Geister der Verblichenen suchten nach Antworten. Unten krachte es im abkühlenden Kamin. Erstaunlicherweise gab es Gaslicht, was Caroline sehr zu schätzen wusste, sowie fließendes kaltes und warmes Wasser, was ein unerhörter Luxus war.

Onkel Alfred hatte viele Millionen Pfund mit Seidenhandel verdient. Das gesamte Geld befand sich auf einem Konto der Bank of England und gehörte jetzt Caroline. Ihre Mutter war beizeiten gestorben, denn sie hatte den Tod ihres Mannes nicht verkraftet. Carolines Vater war bei der legendären Schlacht von Balaklawa gefallen. Geschwister hatte Caroline keine. Ihr Onkel hatte niemals geheiratet und war an Tuberkulose gestorben.

Caroline war jetzt eine einsame reiche Lady. Mit fünfundzwanzig zu jung, um auf ewig alleine zu bleiben. Es würde nicht lange dauern, vermutete sie, und die Londoner Gesellschaft würde um sie buhlen. Ihre Erbschaft war das Thema im Daily Telegraph gewesen. Da waren Schmarotzer und Schwindler nicht weit.

Sie rechnete nach, wie hoch die Provision war, die Frederic Densmore für seine Dienste erhielt. Ausreichend, um viele Jahre in Saus und Braus zu leben. Kein Wunder, dass er so freundlich zu ihr gewesen war. Immerhin hatte er es mit einem Huhn zu tun, das goldene Eier legte.

Du bist zu misstrauisch! sagte sie sich.

Vermutlich war das so. Sie hatte allen Grund dafür. Erinnerungen schlichen sich durch die Dunkelheit. Caroline verscheuchte sie. Sie setzte sich im Bett aufrecht.

Morgen früh würde sie den Anwalt fragen ...

Ja, was eigentlich?

Warum er so nett war? Warum er so gut aussah? Warum er Klugheit ausstrahlte und Souveränität und Selbstbewusstsein und, und ... ?!

Warum sie ihn am liebsten bei sich hätte und küssen würde?

Da stimmte doch was nicht. Sie hatte den Mann nur ganz kurz kennen gelernt und schon begann sie, sich nach ihm zu verzehren? Oder hatte sie sich das erste Mal in ihrem Leben verliebt? Auf den ersten Blick? Gab es das überhaupt?

Fragen über Frage, die nicht dazu angetan waren, sie schlafen zu lassen.

Mit ihrem Exmann war das anders gewesen. Liebe? Vielleicht …

Er hatte …

Nein, daran wollte sie jetzt nicht denken.

Sie kuschelte sich in die Daunen. Ihr Atem ging schwer. Frederic – ein schöner Name. Ein athletischer Körper, breite Schultern, schmale Hüften und schöne, langgliedrige Finger. Sie seufzte und ein Beben durchfuhr sie. Die Spitzen ihrer Brüste spannten sich. Seine Stimme war dunkel und warm gewesen, jedes Wort akzentuiert, eine aristokratische, aber nie affektierte Modulation. Vermutlich war er belesen, intelligent war er auf jeden Fall. Und er hatte dunkelbraune Augen, die viel gesehen zu haben schienen, Augen, die tief blickten und wunderbar zu der hohen Stirn passten.

Carolines Haut fühlte sich warm und empfindlich an und sanfte Schauer glitten darüber, wie Finger oder wie eine zärtliche Zungenspitze. Frederics Zunge? Wie angenehm, er hatte keinen Bart. Sie erinnerte sich, dass er, als er ihr das Glas gereicht hatte, aus dem Mund nach Nelke gerochen hatte. Außerdem sah er aus wie einer, der jede Woche badete. Das weiße Hemd unter der Jacke hatte makellos gestrahlt und die Krawatte war perfekt gebunden gewesen.

Perfekt. Ein sauberer Mann. Ein sanfter Mann, einer, der seine Frau niemals schlagen würde.

Er war nicht so einer, wie …

Endlich schlief sie ein …


 


 

... und erwachte.

Hatte sie ein Geräusch geweckt?

Ein Ast, der gegen das Fenster schlug?

Das schwach glimmende Gaslicht, das sie nicht gelöscht hatte, warf zarte Schatten. Ein schneller Blick auf die Wanduhr zeigte ihr, dass es gegen drei Uhr morgens war. Mitten in der Nacht.

Sie atmete flach und spitzte die Ohren. Dann vernahm sie es und ihr Herz stockte für einen Augenblick. Das durfte nicht sein, denn sie war alleine im Haus.

Holzdielen knarrten.

Caroline hielt den Atem an. Ein erster Reflex ließ sie die Decke bis zum Kinn hochziehen. Ein zweiter Reflex forderte von ihr, sich darunter zu verstecken. Während sie diesem folgte, schlüpften ihre nackten Füße ins Freie. Wie eine nasse Zunge fuhr ein kühler Hauch darüber. Caroline zog die Beine an und verharrte in Fötusstellung. Ihr Herzschlag pumpte in ihren Ohren. Ihr Atem klang wie ein Blasebalg. Ihre Sinne waren aufs Äußerste gespannt.

»Feigling!« knurrte sie und stieß die Daunen mit den Beinen weg. Sie schlich auf Zehenspitzen zur Tür. Verhalten atmend drückte sie vorsichtig ihr Ohr an das Holz. Eine Gänsehaut überzog ihren Körper. Es war still. Der Regen hatte aufgehört, auch der Sturm. Ein glühender Halbmond schickte sein kaltes Licht in das Schlafzimmer.

Atmete da jemand auf der anderen Seite der Tür?

Der Gedanke, jemand könne dort ebenso wie sie just in dieser Sekunde ... lauschen!, führte dazu, dass ihr kalter Schweiß ausbrach. Obwohl die Fenster geschlossen waren, streichelte sie ein kühler Windhauch.

Caroline war nie eine ängstliche Person gewesen. Selbst gegen ihren versoffenen Mann – Terence Baily - hatte sie sich erfolgreich zur Wehr gesetzt. Sie war zwar eine Frau ihrer Zeit, dennoch war sie stolz auf ihr weibliches Selbstverständnis. Sie ahnte schon jetzt, dass sie – falls sie sich nicht zusammenriss – das Enfant terrible der Londoner Gesellschaft würde. Zu sehr stand sie zu ihren Überzeugungen und zu schnell war ihre Zunge. Wenn sie nicht aufpasste, würde sie sich, besonders im Kreis der feinen Damen, Feindinnen machen.

Und nun hatte sie Angst!

Ein fremdes Haus und auf der anderen Seite der Tür jemand, der zu ihr hin lauschte. Atmete er? Schlug sein Herz in ihrem Takt? Ein Einbrecher? Hatte er versehentlich gelärmt und sie damit aufgeweckt? Caroline wünschte sich, es gäbe eine Möglichkeit, von ihrem Zimmer aus Frederic um Hilfe zu rufen. Unsinn – so etwas würde nie möglich sein.

Waren da die Fingerspitzen des Eindringlings am Türholz? Betätigte er den Knopf? Würde er die Tür aufstoßen – Gewalt anwenden – morden?! Entfernte er sich? Nur Zentimeter von dem Eindringling entfernt, spürte Caroline dessen Anwesenheit fast schlimmer, als wäre er persönlich vor ihr aufgetaucht. Seine Präsenz war im schlimmsten Sinne gruselig. Würde er sie töten?

Caroline hatte vieles über jenen Jack the Ripper gelesen, den Inspektor Abberline derzeit in London jagte. Dieser Mann hatte seinen weiblichen Opfern die Kehle durchschnitten. Einigen von ihnen entnahm er die inneren Organe – wie ein Metzger. Allerdings tötete Jack in den Elendsvierteln der Stadt, in Whitechapel oder in Aldgate, sicherlich nicht hier auf dem Lande.

Deine Phantasie geht mit dir durch!

Sie zweifelte nicht daran – die Schritte entfernten sich. Hustete der Eindringling? Oder kicherte er? Ein überlegenes Kichern? Ein abwartendes Kichern? Ein Lachen des Irrsinns? Caroline stieß sich mit gestreckten Fingerspitzen von der Tür ab. Sie strich ihre vollen Haare nach hinten und blinzelte in das Dämmerlicht. Wer immer da draußen war – er wusste, dass er nicht alleine war. Er wusste, dass sie – Caroline – hier drinnen war. Es gab also nur zwei Möglichkeiten: Die Tür leise abschließen und sich verstecken, oder ...

Caroline riss die Tür auf. Sie sprang in den Flur und stieß mit dem Unterkörper gegen das Geländer. Ihr entfuhr ein Schmerzenslaut. Noch war alles fremd und unbekannt. Sie drehte sich um, rannte zurück und grabbelte im Koffer nach dem Morgenmantel, den sie sich überwarf. Nur in ihrem Seidenpyjama wäre sie sich zu dünnhäutig vorgekommen.

Wieder beugte sie sich über das Geländer. »Wer ist da unten?«, schrie sie. »Wer ist im Haus?«

Sie beugte sich nach vorne und schnellte im selben Moment wieder zurück, als ihr durch den Kopf fuhr, wie einfach sie es dem Eindringling machte. Nur ein Stoß von hinten würde ausreichen, um sie über das Geländer nach unten in die Halle zu stürzen. Flammen zogen über ihre Haut. Sie drückte ihren Rücken kerzengerade durch. Ihr war, als hätten sich ihre Haare aufgerichtet. Mit weit aufgerissenen Augen versuchte sie, die Dunkelheit zu durchdringen. Ihr Atem ging stoßweise, sie war in Schweiß gebadet.

»Ich werde mich, verdammt noch mal, nicht vor dir verstecken! Zeige dich, wenn du Mut hast!«

Eine Caroline Asbury-Bailey würde nicht so schnell klein beigeben, wenn man versuchte, in ihr Heim einzudringen. Nicht sie – lieber Gott, sie hatte sich gegen Terence zur Wehr gesetzt, sich seinen besoffenen Quälereien entzogen. Seit vier Jahren war sie Witwe – und das war gut so! Wer gegen Terence Bailey gewonnen hatte, würde die ganze Welt besiegen.

Nichts!

Stille!

Caroline ging den Flur weiter. Ihre Stimme verlor sich im Haus wie eine Münze in einem bodenlosen Schacht. Sie durchquerte einen Raum, wo ein gebogener, mit Holz verzierter Dachdurchgang auf einen weiteren dunklen Korridor hinausführte. Zu beiden Seiten hingen an samtbezogenen Wänden verschwommene Gemälde. Am Ende des Korridors öffnete sich ein runder Salon mit Mosaikböden und einem Wandbild aus Öl, auf dem eine düster dreinschauende Gestalt zu sehen war. Eine breite Steintreppe führte an den Wänden des Raumes entlang in einer Spirale nach oben. An ihrem Fuße blieb Caroline stehen und rief erneut.

»Ist da jemand?«

Das Haus lag in vollkommener Stille da. Ihre Worte verklangen in einem schwachen Widerhall. Sie blieb auf dem Treppenabsatz stehen. Sie sah ihre Fußabdrücke in einer Staubschicht auf dem Boden. Nur ihre eigenen, sonst keine.

Sie glaubte, hinter sich ein Geräusch zu hören. Sie wandte sich um. Eine angelehnte Tür am Ende des Flurs bewegte sich leicht. Ein kalter Wind kam von dort. Langsam ging sie auf die Tür zu. Dabei warf sie einen Blick auf ein geöffnetes Zimmer. Möbel, die mit weißen Laken verdeckt waren. Das stickige Halbdunkel ließ ahnen, dass sie auch zu Lebzeiten von Onkel Alfred nicht benutzt worden waren.

Caroline schrie unterdrückt auf, als unten in der Halle ein Licht erwachte. Eine Laterne schwebte über dem Kopf einer Gestalt, die ganz in Schwarz gekleidet war und zu ihr hoch starrte. Das Gesicht erkannte Caroline nicht, denn es verschwand unter einer Kapuze. Die weißen Augen hingegen glühten wie Gaslichter. Und nun wusste Caroline, dass sie vor einigen Minuten tatsächlich ein Kichern vernommen hatte – einen irrsinnigen Laut, der ihr Rückenmark zu Eis gefrieren ließ.

»Willkommen, kleine Lady«, flüsterte eine dunkle Stimme. »Ich werde jetzt gehen ...«

Caroline wirbelte herum. Verwünscht noch mal, irgendwo musste doch etwas zu finden sein, das sich als Waffe benutzen ließ...

Vor ihr schob sich ein Schatten in die Höhe. Stinkender Atem strich über sie, als sie gegen die Gestalt prallte. »Aber vorher habe ich noch eine Frage, kleine Lady ...«

Bei der Laterne handelte es sich um eine Blendlampe, deren Spiegel nun direkt auf Caroline gerichtet war. Die Hitze des Lichtes brannte auf ihrer Gesichtshaut. Panik schüttelte Caroline. Wie, um alles in der Welt, war es dem Eindringling gelungen, in nur einer Sekunde von dort unten nach hier oben zu kommen? »Wie starb Ihr Mann?«

Mit kratziger Kehle stammelte Caroline: »Wer sind Sie? Was wollen Sie von mir?«

»Wie starb Ihr Mann? Sagen Sie es mir!« Die Gestalt beugte sich etwas vor. Unter einer Kapuze hervor blitzten eiskalte weiße Augen.

»Er ... er fiel im Krieg ...«, krächzte Caroline, die noch einen Schritt zurückwich und wieder vom Geländer aufgehalten wurde. Nur ein kleiner Stoß vor ihre Brust würde ausreichen ...

»Die Wahrheit, junge Lady. Sagen Sie die Wahrheit.«

»Was wollen Sie von mir?«

»Haben Sie keine Angst. Ich werde Ihnen nichts tun.«

»Dann sagen Sie mir endlich, wer Sie sind.«

Der Mann roch nach Fäulnis und einem feinen Vanillearoma. Nach feuchter Wolle und Pomade. Er schüttelte den Kopf. »Ein Name ist ebenso gut wie jeder andere Name.«

»Und warum interessiert Sie der Tod meines Gatten?« Caroline wunderte sich über ihren Mut. Sie redete und fragte, obwohl ihr nach Schreien zumute war. Ihr Körper war wie gelähmt, ihr Verstand hingegen arbeitete auf Hochtouren.

»Sie sind eine mutige Lady, nicht wahr? Sie sind keine von denen, die bei der geringsten Gelegenheit ohnmächtig werden!«

»Das mit der Ohnmacht liegt an den zu engen Miedern ...«, faselte Caroline. »Ich trage keine ...«

»Die Wahrheit, junge Lady. Was geschah mit Mr Bailey? Keine Antwort? Vielleicht haben Sie Recht, vielleicht wäre die Welt wirklich die Hölle, würden alle Menschen die Wahrheit sagen!« Er grinste. „Möglicherweise sollte man ihr dennoch verpflichtet sein.«

Soeben setzte sie zu einer Antwort an, als ein kühler Hauch über den Gang fuhr und die Gestalt verschwand, sich regelrecht in Luft auflöste. Caroline blieb zurück. Um sie herum Dunkelheit. Die Reflexe der Blendlaterne funkelten noch hinter ihren Augen. Sie wurde von einem Gefühl der Desorientierung erfasst. Dann gaben die Beine unter ihr nach. Sie sank stöhnend zu Boden und fing an zu zittern wie Espenlaub im Herbstwind.


 


 

Frederic Densmore sah bei Tageslicht noch besser aus, als Caroline ihn in Erinnerung hatte. Sein verwegenes Gesicht, seine feurigen Augen, sein wohlgestalteter Körper und die elegante Kleidung wurden ihm gerecht.

Aus der Kutsche stiegen vier Personen. Ein Schwarzer, zwei weiße Mädchen, eine ältere Frau. Diese übernahm sofort das Kommando und scheuchte die Bande ins Haus. Sie nickte Caroline freundlich zu und stapfte mit wackelnden Hüften hinter den Bediensteten her.

»Sie heißt Wanda!«, grinste Frederic. »Sie müssen ihr verzeihen, Mrs Asbury. Sie ist unhöflich, aber sehr, sehr fähig. Mit ein paar Zurechtweisungen werden Sie ihr deutlich machen können, es Ihnen gegenüber nicht an dem nötigen Respekt mangeln zu lassen. Ich vermute, jetzt will sie erst mal ihre Leute in Trab setzen, damit Sie sich gleich am ersten Tag in einem sauberen Heim mit einer guten Küche heimisch fühlen können.«

»Das haben Sie sehr nett gesagt, Mr Densmore.«

Der Anwalt machte die Andeutung einer Verbeugung. Ihre Blicke trafen sich. Errötete der Mann? Caroline lächelte. Ja, so war es.

»Ich würde mich freuen, wenn Sie mir die Stadt zeigen«, brach sie das Schweigen.

»Sehr gerne, Mrs Asbury.«

»Nennen Sie mich bitte Caroline«, entfuhr es ihr spontan.

»Verzeihen Sie.« Nun runzelte er sie Stirn und lächelte. »Mein Name ist Frederic.«

»Ein schöner Name. Er hat deutsche Wurzeln, nicht wahr? Kommt er von Friedrick?«

»Ja, Caroline. Eine Mischung aus Fridu und Rihii. Der Friedensfürst.«

»Friedensfürst …«, ließ Caroline die Worte nachhallen.

Frederic reichte ihr den Arm und winkte dem Kutscher. »Bringen Sie uns in die City.«

Eine Viertelstunde später flanierten sie über die Einkaufsmeile, die sich The Strand nannte.

»Diese Straße ist die historische Verbindung zwischen der City of London und der City of Westminster«, erklärte Frederic. »Während des Mittelalters waren das noch getrennte Siedlungen. Dort hinten, wo die Fleet Street zu The Strand wird, verläuft die Temple Bar, die Grenze der City of London.«

»So viele Menschen ...«

»In Ihrem Heimatdorf gab es sicherlich mehr Ruhe und Frieden.«

»Es war, wenn Sie gestatten, stinklangweilig.«

Frederic lachte rau und männlich. »Langweilig ist London in der Tat nicht! Die Stadt hat derzeit fast fünf Millionen Einwohner ... und fast dreihunderttausend Pferde!«

Sie sprangen einer Droschke aus dem Weg. Krachend folgte ihr ein wackeliger Karren, der von einem grauen hageren Gaul gezogen wurde. Der Kutscher schimpfte und war augenscheinlich sturzbetrunken.

»Sie machen Witze. Dreihunderttausend?«

»Aber ja, Caroline. Riechen Sie es etwa nicht?«

In der Tat stank es erbärmlich nach tierischen Ausscheidungen.

Frederic wies auf eine gegenüberliegende braungraue Häuserzeile. »Leider hat sich der Bevölkerungszuwachs nicht in Bautätigkeiten ausgewiesen. Es gibt nur wenige neue Häuser, aber viele, viele bitterarme Menschen, die in elenden Rattenlöchern hausen müssen. Manchmal mit zehn bis zwölf Personen in einem kleinen Zimmer.«

Caroline versuchte, das brodelnde Leben um sich herum mit kritischen Augen zu sehen. Sie ließ sich jedoch noch von touristischer Begeisterung tragen. »Aber so düster, wie Dickens es beschrieb, ist es doch nicht mehr, oder?«

»Nicht mehr ganz so schlimm. Wir haben inzwischen ein Abwassersystem und bessere Unterbringungsmöglichkeiten für Verwahrloste. Dennoch würde ich viele Gegenden der Stadt nach Einbruch der Dunkelheit nicht empfsehlen. Sie haben doch sicherlich von Jack the Ripper gehört?«

»Wer hat das nicht ...?«, fragte Caroline. Sie zog fröstelnd die Schultern hoch und erinnerte sich an die Begegnung mit der seltsamen Gestalt heute Nacht in ihrem neuen Haus.

Heute Morgen, im Licht des Tages, war ihr die Begegnung wie ein böser Traum erschienen. Was sie erlebt hatte, konnte, durfte nicht Realität sein. Eine hochgewachsene dunkle Gestalt in einer Kapuzenrobe, die sich von einer Sekunde zur anderen über ein Stockwerk hinweg bewegen konnte und sich innerhalb eines Atemzuges in Luft auflöste. Die die Wahrheit wissen wollte.

Das waren die Phantasien einer Mary Shelley oder eines Edgar Allen Poe. So etwas gab es im wirklichen Leben nicht. Caroline war weit davon entfernt, an Spukhäuser und darin beherbergte Gespenster zu glauben. Das war etwas für Kleingeister, für unaufgeklärte Menschen. Schließlich gab es schon Telegrafen, Warmwasserleitungen und Toilettenspülungen. Man lebte nicht mehr in der alten Zeit des Aberglaubens.

Vor zwanzig Jahren hatte man im Hyde Park während der Great Exhibition viele fabelhafte Modernitäten präsentiert. Dinge, die das Leben schöner und erträglicher machten. England war ein hochtechnisierter Moloch und wies selbstbewusst in die Welt der Zukunft. Da war kein Platz für Aberglaube und Hokuspokus!

Caroline freute sich schon darauf, den Glaspalast zu besichtigen, der als Wahrzeichen der Weltausstellung galt. Dieses Gebäude war ein Beweis für die moderne Zeit. So war die Welt von heute. Gespenster gehörten in den Kosmos der Märchen.

Hatte ihr also das Gewissen einen Streich gespielt?

Sie hatte nach dem Erwachen schon fast beschlossen, den schönen Morgen sorgenlos zu genießen und die Begegnung ins Reich der Träume zu verscheuchen, als sie den Morgenrock sah. Er hatte, wahllos hingeworfen, über dem Koffer gelegen. Diesen Morgenrock hatte sie getragen – vor wenigen Stunden.

»Ich hatte heute Nacht Besuch!«, sagte sie. »Besuch von einem Gespenst!«

Frederic blieb stehen. Fast wäre Caroline gestolpert. Ein paar Regentropfen fielen. Sie spannte den Schirm auf. Wollte sie ihr Gesicht verstecken? Hatte sie überhaupt das Recht, einen Fremden mit dieser Geschichte zu belästigen? Ein kleiner Junge bettelte sie an. Er wurde von einer keifenden Stimme weggerufen und zurechtgewiesen. »Armer Kerl ...«, flüsterte Caroline voller Mitleid. »Armer Oliver ...«

»Ein Gespenst?«, fragte Frederic.

Sie blickte dem Mann fest in die Augen. Amüsierte er sich über sie? Würde er herzhaft lachen? Würde er mit männlicher Arroganz die Stirn runzeln und herablassend reagieren?

Frederic sah sie interessiert an. »Dort ist ein nettes Lokal. So viel ich weiß, gibt es dort ein hervorragendes Frühstück. Wenn Sie möchten, können Sie mir die ganze Geschichte erzählen.«

»Ja, Friedensfürst ...«, sagte Caroline und jetzt lachte Frederic herzlich, wobei ihr sein besorgter Blick nicht entging.