Blutlied
Caroline weinte.
Sie wirbelte über dem Nebel, im Reigen mit unzähligen Erinnerungen. Auf den Grabsteinen hockten sie, über Grabhügeln schwebten sie. Im Geäst der Bäume kauerten sie. Männer, Frauen und viele, viele Kinder. So viele, die noch nicht den Weg ins Totenreich gefunden hatten, denen man bisher den Zutritt verwehrte. Warum geschah das? Was hielt diese Wesenlosigkeiten zurück? War es Gott? War es die Letzte Rechtsprechung? Oder waren sie alle zu früh gestorben, vor ihrer regulären Zeit?
Kinder, die in den Strassen Londons verhungert waren. Bettler, im Schlaf erstochen. Geschäftsleute, von eigener Hand gerichtet. Und sie, Caroline Asbury-Bailey getötet von einem Vampir namens Regus.
Hatte der Vampir sie gerichtet, weil sie es verdiente?
Wie starb Mr Terence Bailey?, hatte er gefragt. Dabei hatte er sie angeschaut wie ein Lordoberrichter. Er hatte in ihre Seele gestarrt. Die Wahrheit, junge Lady! Wir sollten der Wahrheit verpflichtet sein!
Ausgerechnet er, dieser Dämon, schwang sich zum Richter auf. Er, der Onkel Albert und sie, Caroline, getötet hatte. Er, der Frederic zu einem Vampir gemacht hatte. Ein brutaler Untoter, ein Ungeheuer. Warum, um alles in der Welt, hatte er damals, im Treppenhaus, in ihrer ersten Nacht in Asburyhouse, ihr diese Fragen gestellt?
Was, wenn er sie nicht richten wollte? Wenn er nur neugierig war? Weil ihn die Düsternis faszinierte und das, was Menschen dazu treiben konnte.
Ja!, rief Caroline. Ja! Ich habe Terence nicht gerettet! Ich habe ihn sterben lassen!
Hörte sie Regus lachen?
Spürte sie seine morbide Begeisterung?
War er nahe?
Ich bin nicht besser als ihr alle dort! Terence hatte mich verprügelt, war betrunken und stürzte die Treppe hinab. Er lag zu meinen Füßen und Blut floss aus seinem Mund. Seine Augen waren geschlossen. Aber er atmete. Und atmete. Und lebte noch immer. Ich hätte einen Arzt rufen können, einen Bediensteten aus dem Gesindehaus, irgendwen. Aber ich unterließ es. Ich hockte neben der bewusstlosen Person und wartete. Wartete darauf, dass sie aufhörte zu atmen. Wartete mehr als dreißig Minuten. Dann bäumte Terence, der betrunkene Schläger, sich auf und starb. Er erstickte an seinem eigenen Blut!
Nie wieder würde er mich anrühren, nie wieder mich schlagen, nie wieder meine Ehepflichten einfordern.
Der Krieg hatte ihn verändert, korrumpiert, grausam und brutal gemacht. Hatte ihn verhärtet und seine Seele genommen. Aber, um Himmels Willen, war das meine Schuld? Musste ich für alles dies bezahlen? Nein! NEIN!!!
Und die Toten sangen ein trauriges Lied, während sie weinte. Sie fuhr sich über das Gesicht und spürte nichts, was auf Tränen hindeutete. Dennoch weinte sie. Es war ein Gefühl der Trauer, auch Selbstmitleid und die Sehnsucht nach ihm dort, der seine Lippen an die Kalebasse senkte, um das Blut zu trinken, welches ihm die Priesterin darbot.
Frederic!, rief sie schluchzend. Frederic! Pass auf, was mit dir geschieht! Ich liebe dich! Du befindest dich in großer Gefahr. Ich weiß es, weil ich es fühle. Seit Jahren bin ich dein guter Geist. Seit Jahren sehne ich mich danach, dich zu berühren, dich zu küssen, zu lieben. Wie mir scheint, soll dies nun geschehen. Diese Frau will uns zusammenführen. Sie will in das Gefüge der Geisterwelt eingreifen.
Und vielleicht gelingt es ihr!, hörte sie eine Stimme ganz in ihrer Nähe.
Sie wirbelte herum.
Auf einem Baum hockte ein schwarzer Rabe. So wie viele Katzen sie wahrnahmen, schien auch diesem Vogel ein Blick in die Geisterwelt zu gelingen.
Wer bist du?, fragte sie. Warum kannst du sprechen?
Der Rabe kicherte leise. So, so! Du hast ihn einfach verrecken lassen, deinen Gatten? Das war aber ganz und gar nicht schön und edel und moralisch, nicht wahr, kleine Lady?
Kleine Lady!
Caroline zerstob zu Nebel und Glassplittern, fügte sich zusammen und schoss zu dem Baum hin. Regus!, zischte sie. Du verdammtes Monster! In welcher Form zeigst du dich nun schon wieder? Was suchst du hier?
Der Rabe kicherte noch immer. Diesmal aber verhaltener. Er klapperte mit dem Schnabel und zuckte mit den Flügeln, als friere er.
Dein Liebster überschreitet soeben die Brücke. Er wird in wenigen Minuten mein Bruder sein. Nur die verdammten haitianischen Götter wissen, warum diese Vettel ihm das antut. Er säuft ihr Blut und glaube mir – beide, Ludwig und die Priesterin befinden sich schon jetzt in absoluter Lebensgefahr. Sein Durst wird rasend sein. Seine Hemmungen sind davongeflogen wie ...
Er kreischte!
... wie ein Rabe in der Nacht. Ja, in einigen Minuten wird er vergessen haben, dass es dich jemals gegeben hat und wenn er sich an dich erinnert, junge Lady, wirst du ein schaler Traum sein, nicht mehr. Ich kenne diesen Voodoo-Krimskrams nicht, aber in diesem Fall begeht unsere schwarze Dicke einen riesigen Fehler.
Tue es nicht!, schrie Caroline und wehte zu Frederic hinab, während der Regus-Rabe meckerte und mit den Flügeln zuckte. Seine roten Augen blitzten höhnisch.
Frederic hockte auf den Knien, die Kalebasse krampfhaft umklammert. Vor seinen Augen wogte es und Lichter explodierten.
»Was spürst du, Vampir?«, stieß die Voodoo-Priesterin hervor.
»Eine ... eine Gegenwart, einen Lufthauch, einen Duft ...«, stöhnte er.
»Trinke mehr«, befahl sie. »TRINK!«
Ludwig sprang dazwischen. »Was geschieht mit ihm, wenn er das Blut getrunken hat? Es ist Menschenblut! Er wird den Kontakt verlieren. Er wird einer von denen werden. Dann wird sich Regus’ Wunsch erfüllt haben.«
»Menschenblut?« Die Voodoo-Priesterin wirbelte herum. »Warum mischen Sie sich ein, Butler? Ich habe mich bereit erklärt, dieses Ritual zu vollziehen. Entweder Sie vertrauen mir, oder wir brechen hier und jetzt auf der Stelle ab.«
»Aber ...«, stotterte Ludwig.
»Gehen Sie!«, zischte die Frau. »Verschwinden Sie, verdammt noch mal. Ich weiß, was ich tue!«
Frederic machte Ludwig ein Zeichen und der alte Mann gab nach. Er setzte sich auf einen Grabstein und versenkte sein Gesicht in die Handflächen. Im Unterholz raschelte es. Kaninchen, die aufgeschreckt worden waren, huschten hin und her und Ringelnattern wischten über feuchte Blätter. Es roch nach Moder, Tau und Endgültigkeit.
Frederic hob die Kalebasse und trank erneut. Er schloss seine Augen und ließ die süße, schmackhafte Flüssigkeit über seinen Gaumen tropfen, spürte, wie sie ihn mit Kraft erfüllte, völlig anders, als trinke er tierisches Blut. Bleiern und schwer lag ein Duft in der Luft, in seinem Hirn explodierten Sinne, die er zuvor nicht besessen hatte, eröffneten ihm eine neue Sicht auf die dunkle Welt und tausend Stimmen wisperten, hunderte Hände rissen an ihm, zerrten, so dass er gänzlich zu Boden stürzte, seine Finger sich in das schwarze Erdreich gruben und seine Tränen vom Grabesboden aufgesaugt wurden.
»Caroline«, flüsterte er und spürte weichen Schlamm zwischen seinen Lippen. »Caroline.«
»Götter der Dunkelheit«, setzte die Voodoo-Priesterin zu einem Singsang an. »Gebt ihm, was er begehrt, hört seinen Trauergesang, öffnet euch und empfindet Mitleid mit dieser Kreatur. Gebt ihm Kraft für das, was nun geschieht.«
Alle anderen Worte verschwanden hinter einer Mauer des Rauschens und Frederic versuchte, sich hochzustemmen, was nicht gelang. Noch einmal versuchte er es, keuchend, ächzend, nun war er auf den Knien, die Handflächen flach vor sich aufgestützt, den Kopf gesenkt und eine Woge Kraft legte sich über ihn, denn etwas veränderte sich.
Ein helles Licht riss die Dunkelheit auseinander, ein waberndes Grün, dampfend, nicht mehr als einen Meter im Durchmesser. Es kam nicht aus dem Himmel, nein, es entstand nur wenige Meter über ihnen.
Ludwig sprang auf und schrie etwas.
Frederic schnellte hoch und war erstaunt über seine zurückkehrende Kraft, die deutlich größer zu sein schien als zuvor.
Madame deSoussa hatte den Kopf in den Nacken gelegt, ihre Augen waren geschlossen, ihre Lippen murmelten tonlose Sätze, Schweiß lief über ihr Gesicht, ihr schwerer Körper zuckte krampfhaft.
Der Lichtstrahl wogte hin und her, wurde orange, wieder grün und färbte sich anschließend weiß. Ein Schemen nur, aber er war da, liebe Güte, ja, ein Schemen zeigte sich darin, gewann Konturen, immer mehr Konturen, wurde zu einem Schattenriss, eine menschliche Gestalt, die ihre Arme ausbreitete, ebenfalls den Kopf in den Nacken gelegt hatte …
»Caro ...«, hauchte Frederic.
… und im Gleichklang mit Madame deSoussa wisperte, murmelte, bis das Bild in einem gleißenden Blitz implodierte, sich zusammenzog, mit einem unspektakulären Puffen versiegte und die Gestalt in sich zusammensackte, sich wieder erhob, ein paar taumelnde Schritte machte, die Arme ausstreckte, den Kopf suchend hin und her bewegte, Frederic fand, einen Schritt, noch einen Schritt ging und in die Arme des Vampirs fiel.
Frederic fing sie auf und starrte über ihre Schulter ungläubig erst zu Ludwig, dann zu Mambo hin. »Ein Wunder ...« hauchte er.
»Er ist da!«, schluchzte die junge Frau. »Er ist da. Er beobachtet dich. Er ist da!«
Madame deSoussa hatte sich währenddessen aus ihrer Trance gelöst und kam mit schweren Schritten zu Frederic und Caroline herüber. Sie nahm sich der jungen Frau an, drehte sie mit dem Gesicht zu sich herum und legte den Kopf schief, wobei ihre schwarzen struweligen Haare über ihre Augen fielen. Sie warf das Krähennest mit einer ruckartigen Kopfbewegung zurück, blinzelte, als traue auch sie ihren Augen kaum und sagte: »Es ist gelungen. Die Sorge um deinen Frederic hat dich aus dem Bann der Dunkelheit gelöst. Du wusstest, was er sich antat, als er die Mixtur trank. Du hast dich um ihn gefürchtet, hast befürchtet, ihn dann endgültig zu verlieren, nicht wahr?«
Caroline lächelte, während Tränen über ihre Wangen liefen.
Madame deSoussa lächelte milde und strich mit ihrem Hahndrücken die Tränen weg. »Deine Tränen sind die Tränen einer liebenden Frau. Eure Liebe war größer als der Tod. Ich ahnte, dass es so etwas gibt, habe es aber noch nie erlebt. Sorge dich nicht ... er ist dir noch nicht entglitten. Er trank nicht nur das Blut einer Voodoo-Priesterin, sondern auch eine besondere magische Anreicherung. Er wird auch in Zukunft den Sterblichen näher sein als den Untoten.« Sie strich Caroline erneut die Tränen von den Wangen. »Eure Liebe hat euch gerettet – vorerst!«
»Er ist da!«, seufzte Caroline und ihr Blick fiel auf einen knorrigen Baum.
Ludwig hatte sich aus seiner Starre gelöst und war nun bei Caroline. Frederic und er betasteten den Körper der Frau, als könnten sie noch immer nicht glauben, was soeben geschehen war. Ludwig schüttelte ein einem Fort den Kopf, Frederic schien das Grinsen in die Mundwinkel geprägt.
Madame deSoussa war die einzige, der Carolines geflüsterte Warnung auffiel. »Was meinst du damit? Wer ist er?«
»Regus!«, sagte Caroline, dann verdrehte sie die Augen und wurde ohnmächtig. Frederic fing sie in seinen Armen auf, hob sie hoch und sagte: »Bringen wir sie ins Haus. Es ist kalt hier draußen. Sie wird sich wärmen müssen. Liebe Güte, ich glaube es immer noch nicht! Es ist ... unvorstellbar! Liebste, beste Mambo ... du hast sie dem Totenreich entrissen! Über welche Macht verfügst du sonst noch?«
Die Priesterin lächelte. »Manchmal sind es Kräfte, die selbst mich erstaunen, Vampir! Vermutlich wird sie später erwachen und sich an nichts erinnern. Es wird ihr vorkommen, als sei sie nach einer langen Krankheit gesundet.«
»Madame deSoussa«, sagte Ludwig nervös, der die Priesterin nun unterhakte. »Sie haben eine Belohnung verdient. Bringen wir Caroline, Mrs Densmore, ins Haus, dann genießen wir einen Tee am Kamin.«
»Verdammt!«, die Voodoo-Priesterin riss sich los. »Ich verstehe ja, dass ihr wie von Moskitos gestochen seid, aber warum hört ihr nicht auf das, was Caroline sagte? Sie meint, Regus sei hier. Wenn ich mich richtig erinnere, ist das euer Todfeind?«
»Das kann warten. Caroline muss in Sicherheit gebracht werden. Sie hat oberste Priorität!«, entschied Frederic, suchte aber trotzdem die Gegend nach verdächtigen Zeichen ab. Ein Rabe erhob sich von einem Ast und flog ins Mondlicht und Frederic brauchte nicht eine Sekunde, um zu erkennen, dass Caroline Recht gehabt hatte.
»Wir werden uns bald begegnen, schwarzer Vampir!«, murmelte er und spürte, dass sich seine Reißzähne leicht bewegten und der Jagdtrieb sich seiner zu bemächtigen versuchte. Mehr jedoch geschah nicht. Um Hass zu empfinden war er viel zu glücklich.