Jagdfieber

 


 

Es dauerte weitere zwei Tage, bis sie das Unglaubliche wirklich begriffen hatte.

Frederic versuchte, es ihr schonend beizubringen, aber die Geschichte war derart gewaltig, dass jedes Wort und jeder Satz mit Donnerhall nachklang.

Es dauerte Stunden, bis Caroline sich damit abfand, von den Toten zurückgekehrt zu sein und während dieses Prozesses kehrten weitere Erinnerungen zurück. Die Tatsache, dass Frederic ein Vampir war, musste kaum noch besprochen werden, denn sie ergab sich aus allen Bildern, die nach und nach auf Caroline einströmten und alles deutlich machten.

Sie schlief wenig, trank viel Wasser, aß kaum und am dritten Morgen erwachte sie gestärkt und mit einem Fatalismus, der sie überraschte. Sie ahnte, dass sie sich in Zukunft noch oft mit ihrer ... Wiedergeburt? auseinandersetzen würde, verdrängte diese Empfindungen jedoch. Würde sie altern? War sie ein Mensch wie alle anderen?

Nein, sie war etwas Besonderes, so wie auch Frederic etwas Besonderes war! Onkel Albert schien das in seinen Visionen gesehen zu haben. Er hatte Frederic und Caroline eine Aufgabe zugeteilt.

Als ihr dies aufging, rann Kraft durch ihren Geist und Körper. Sie atmete tief ein und spannte ihre Muskeln an. Aus dem Stand sprang sie vier Meter weit und rollte sich ab wie eine Katze. Sie entdeckte an sich die Gabe der Geschwindigkeit. Sie konnte durch die Räume huschen wie ein Raubtier, mit weichen Schritten schlich sie über das Geländer der Empore, ohne abzustürzen. Sie turnte über die Wände, hielt sich ohne Anstrengung an gemauerten Vorsprüngen fest, ließ sich aus großer Höhe fallen und landete sich auf ihren Beinen.

Frederic bekam den Mund nicht mehr zu. Kopfschüttelnd verfolgte er, wie Caroline ihre neuen Kräfte entdeckte.

»Wir sind ein seltsames Paar«, meinte er.

»Ist dir schon aufgefallen, dass wir anstatt zwei Katzen nur noch eine Hauskatze haben?«, fragte Caroline.

»Nein ... aber jetzt, da du es sagst. Ist die andere Katze nicht mehr da?«

»Sie ist geflohen. Sie floh zu Madame deSoussa und wurde ein Teil ihrer Magie. Ich spüre ihre Kraft!«, lachte Caroline. »Sie ist in mir.« Sie machte einen Handstand und floppte vor Frederic in die Knie. Sie nahm seinen Kopf in ihre Hände. »Was ist mit der Liebe? Kennt ihr Vampire das noch?«

Und sie liebten sich mit atavistischer Stärke, leidenschaftlich wie Götter. Sie spürten ihre Haut, drängten sich aneinander, ineinander, lösten sich, fauchten, atmeten ihre Hitze, ihr Blut kochte, ihre Gefühle schrien. Sie verkrallten sich erneut ineinander, rollten vor den Kamin und Frederic richtete sich über sie auf. Seine Fangzähne schimmerten im Feuer, seine Augen waren blutrot. Rosafarbige Tränen tropften aus seinen Augen in Carolines Halsbeuge. Sie wusste, dass er sie nicht beißen würde, sie wusste, dass er sich beherrschen konnte, um stattdessen alle Leidenschaft zu kanalisieren, für sie zu erübrigen, ihr Glück zu schenken. Und das tat er, und Caroline fühlte sich ... lebendig! Lebendig wie noch nie zuvor. Sie war die Kraft. Sie hatte die Macht. Sie und Frederic waren jene Zwei, die die Welt verändern konnten.

Später lagen sie nebeneinander, Frederic mit kühler Haut und gleichmäßig atmend. Caroline schwitzend wie ein Mensch und schnurrend wie eine Katze, sie kroch über ihn, suchte, stimulierte, und gemeinsam führten sie sich erneut zum Höhepunkt ihrer Leidenschaft.

Die Laute ihrer Lust hallten durch Asburyhouse. Alle Gedanken an die Zukunft waren ausgelöscht. Es gab nur das Hier und Jetzt. Liebende, die zwei Jahre aufeinander gewartet, sich nacheinander verzehrt hatten, die die Liebe wieder zusammengeführt hatte. Sie hatten den Beweis dafür erbracht, dass die wahre, aufrichtige Liebe, alle Schranken überwinden konnte, und wenn es sein musste, sogar den Tod!

Das Kaminfeuer züngelte in den letzten Zügen, Regen prasselt auf das Hausdach. Frederic streichelte Caroline mit sanfter Hand über die heiße Haut. »Du bist so schön ...«, murmelt er. »Du bist so klug! Ich liebe dich, Caro. Ich liebe dich, seitdem ich dich das erste Mal sah. Und doch scheint uns nicht nur die Liebe, sondern auch das Schicksal zusammengeführt zu haben. Man sagt, es gäbe keinen Zufall. Was aber soll es dann gewesen sein? Wir sind füreinander bestimmt. Nichts kann uns trennen.«

Carolines Gefühle summten. Ihre Sinne waren geschärft. Sie vernahm das Rascheln winziger Mäusefüße hinter den Wänden, lauschte dem Sterben des Feuers. Und sie vernahm Frederics Worte. Sie richtete sich auf und rötlicher Feuerschein schimmerte feucht auf ihren Brüsten.

»Lass uns jagen, Frederic!«, sagte sie unvermittelt und sie bekam von ihren eigenen Worten eine Gänsehaut. »Lass uns dieser Vampirbande den Garaus machen, bevor es noch mehr unschuldige Opfer gibt.«

Frederic stutzte unmerklich, dann lächelte er und nickte. Er beugte sich hinunter und küsste ihre Brustspitzen, sah ihr in die Augen und murmelte: »Ja, Caro! Lass uns jagen!«


 


 

Regus wusste, dass sie nach ihm suchten,, dass Frederic und Caroline durch London streiften. Gestern war Vollmond gewesen und erneut hatte Frederic Densmore, wie es schien, dem Blutdurst widerstanden. Wie lange würde er das noch ertragen? Wie lange würde es dauern, bis er sich an den jenen Menschen gütlich tat, die ihm am nächsten standen?

Der Vampir grinste. Frederic hatte keine Ahnung, wie sehr er seine Liebsten in Gefahr brachte. Er klammerte sich an seine Menschlichkeit und sann auf Rache gegen einen … Bruder! Das war absurd.

Es konnte sich nur noch um eine kurze Zeit handeln und der Geweissagte würde einer von ihnen werden. Früher oder später gaben sie alle ihrem Instinkt nach...

Er winkte einer Droschke und fuhr Richtung Hyde Park, in seinen Club, entlang am gigantischen Bau des Generalpostamtes. Bei den Packmens wurde er freundlich empfangen, man brachte ihm seine Lieblingszigarre und die Times. Er warf sich in einen bequemen Ledersessel, lauschte in die angenehme Stille und las einen Bericht über Josef Bazalgette, der vor 26 Jahren mit dem Bau des Abwassersystems begonnen hatte und für den man eine Feier ausrichten wollte. Inzwischen hatte London fast fünf Millionen Einwohner.

Der Vampir grinste hart. Ja, da war es wichtig, dass dieses Menschengewürm ihre ganzen Unrat in die Themse spülten, bevor sie daran erstickten. Auf der nächsten Seite fand er einen Bericht über die moderne Stadtentwicklungspolitik. Weg von den Ghettos, weg von den Slums, schrieb man. Die Bedeutung der Hauptstadt als Handels- und Finanzzentrum müsse gestärkt werden. Das ginge nicht mit Armenvierteln, in deren Straßen Kinder verhungerten. Regus störte sich nicht an den sozialen Ungerechtigkeiten. In Whitechapel und wie diese Gegenden hießen, fand er soviel Blut, wie er suchte, ohne übermäßig viele ehrenwerte Bürger töten zu müssen.

Er faltete die Zeitung gelangweilt zusammen und starrte durchs Fenster nach draußen. Wie üblich sah man davon ab, ihm ein Getränk zu bringen. In weiser Voraussicht hatte er sich in dieser Nacht gesättigt. London schäumte. Die Stadt barst aus allen Fugen. Droschken, Pferdekarren, Fußgänger und schimpfende, brüllende, gestikulierende Händler, wohin er blickte.

Er verabscheute London. Den Gestank der Themse. Newgate und Bedlam, Kriminalität und Wahnsinn. Die sogenannten Krähennester im Osten mit ihrem lebenden Abschaum, die Hurerei vor der eigene Haustür, die Wunden und Blessuren, die Straßenräuber ehrbaren Bürgern schlugen.

Und gleichermaßen liebte er die Stadt. Er liebte es, wenn der Nebel sich davon machte wie ein Tier, das sich zur Ruhe begibt und Betriebsamkeit die Neuerung der Welt ankündigte, denn diese Stadt war der Kosmos der ewig menschlichen Evolution. Nur diese Stadt war fähig, der Gesellschaft Neuheiten zu geben, die das Leben der Zukunft verändern würden.

Er hatte die Jahrhunderte überlebt und seine Existenz kultiviert. In welcher Epoche er auch auftauchte, immer tat er es im Gewand eines Unternehmers, der mit seinen Firmen viel Geld verdiente. Zwar bedeutete Regus Geld nichts, aber es war ein Elixier, mit dem er sich der Menschen bemächtigen konnte, außerdem hasste er Langeweile. Und Geld bedeutete Macht!

Nur sehr wenige Eingeweihte wussten, dass ein Großteil des britischen Unternehmertums von Vampiren infiltriert war. Inzwischen zogen sie ihre Kreise auch bis nach Frankreich und Deutschland.

Es gab nur noch wenige von ihnen, die sich bei Tageslicht verstecken mussten. Einige der sogenannten alten Schule, Vampire aus dem Osten, die noch nicht mutiert waren. Für alle anderen war tödliches Sonnenlicht ein Mythos, genauso wie die Angst vor Knoblauch oder Gotteskreuzen. Das alles war Unsinn! London hatte mehr als vierhundert Kirchen. Eine Existenz hier wäre unmöglich gewesen, wenn dies so wäre, Kreuze und biblische Artefakte, wohin man blickte – eigentlich eine Frage der Logik, nicht wahr?

Regus blinzelte und nahm die Sonnenbrille ab, hinter der es seine roten Augen verbarg. Eine Droschke hielt an, der Kutscher sprang vom Bock und verscheuchte einen Straßenkehrer, der mit einer grossen Schaufel Pferdekot einsammelte, vermutlich, um damit zu heizen.

Der Verschlag wurde aufgerissen und eine bildschöne Frau stieg aus, gefolgt von einem schlanken, elegant gekleideten Mann, der ebenso wie Regus eine Sonnenbrille trug.

Und es werden sein derer Zwei, die dem Dunkel entgegentreten. Ihre Schwingen werden überdecken das Böse. Ihre Liebe wird zerreißen den Hass! Sie werden vernichten die Sphäre des Blutes und gewinnen des Menschen Seele!