Fünf


Exakt um 23:00 Uhr standen drei schwarz gekleidete Männer auf einer kleinen Lichtung im Lahemaa-Nationalpark in Estland.


Nordpol, Ulrich, Karl.


Es war die Johannisnacht,
Jaaniõhtu, und obwohl sie sich tief im Wald befanden, drangen die Geräusche von Zechgelagen und Lärm von den Grillplätzen bis zu ihnen durch.


Im Halbdunkel konnte man die Johannisfeuer lodern sehen, denn in der hellsten Nacht des Jahres brennen Freudenfeuer im ganzen Land. Der Volksglaube besagt, dass das Glück denjenigen begleitet, der das Feuer durchschreitet oder darüberspringt.


Wer an diesem Abend kein Feuer entzündet, riskiert, dass ihn das Feuer heimsucht und dass sein Haus und sein Besitz durch Brände zerstört werden.


Eine tausendjährige Magie wird in der Johannisnacht wach. Und aus den Flammen steigen Glaube und Bräuche lang vergessener Generationen auf und tanzen in den Herzen der Menschen.


*****


Die drei Männer hockten inmitten des LahemaaNationalparks und beugten sich über eine Landkarte, die Karl auf dem Boden ausgebreitet hatte. Im Westen des Nationalparks war das Wort »Rebasekasvatus« unterstrichen.


»Das bedeutet Pelztierzucht oder Fuchsfarm«, sagte Karl. »Bis dahin sind es etwa 14 Kilometer durch Wald und Sumpfland. Wir wissen nicht genau, wie viele Leute an dem Ort sind und ob sie bewaffnet sind.


Wir haben genug Zeit. Nordpol geht voraus und wird den Ort erkundet haben, wenn Ulrich und ich kommen.


Gegen Ende der Johannisnacht sind hier in Estland die meisten wahrscheinlich entweder sternhagelvoll oder schlafen.«


Nachdem Karl den Plan mit wenigen Worten erklärt hatte, hob er die Landkarte auf und faltete sie zusammen.


»Ziehen wir uns an«, sagte er.


Die Kleidung bestand aus schwarzen Jogginganzügen, Handschuhen und Skimützen. Die Schuhe waren estnische Kampfstiefel. Alles neu und noch in der Plastikverpackung.


»Wir dürfen weder die Handschuhe noch die Skimützen verlieren. Und es wird nicht geraucht. Wir haben kein Interesse daran, Spuren zu hinterlassen.« Die Männer zogen die Jacken an und schnürten die Stiefel.


»Nordpol, du informierst mich, wenn du fertig bist.«


Nordpol lief auf und ab und stampfte mit den Füßen auf, wie jemand im Schuhladen, der herauszufinden versucht, ob die Schuhe bequem sind.


»Muss ich unbedingt diese Riesenlatschen tragen?«, fragte er. »Kann ich sie nicht einfach anziehen, kurz bevor ich den Ort erreiche?«


»Darf ich deine Schuhe mal sehen?«, fragte Karl.


Nordpol öffnete den Rucksack und nahm seine schwar zen Turnschuhe heraus.


»Siehst du«, sagte Karl und hielt Nordpol die Schuhsohlen entgegen. »Ist das dasselbe Muster wie das der Stiefel?«


»Das weiß ich nicht«, sagte Nordpol. »Welche Rolle spielt das? Wir werden wieder zu Hause sein, wenn die Polizei hier einen Abguss von unseren Fußabdrücken macht. Sie werden meine Fußspuren wohl kaum bis nach Island verfolgen.«   

 


»Jeder hinterlässt Spuren«, sagte Karl. »Überall. Das tun wir auch. Wenn wir alle die gleichen Schuhe tragen, wird es aber schwer zu sagen, wie viele wir waren. Wir sind eine Einheit und die Spuren, die wir hinterlassen, sollen das bezeugen. Wir sind die Höllenengel.«


»Und wer hat gesagt, dass die Höllenengel estnische Armeestiefel tragen?«, fragte Nordpol. »Aber wenn das so ein Big Deal ist, dann mache ich es natürlich für euch.«


»Für uns?«, fragte Karl. »Glaubst du, dass du mir persönlich damit einen Gefallen tust?«


»Beruhige dich, Mann«, sagte Ulrich. »Wir haben das doch schon besprochen. Wir halten uns an die Organisation. So ist das halt.« »Hör mal, ich wusste nicht, dass das alles so eine wahnsinnig große Sache ist. Stiefel, Decknamen und alles. Wir sollten das alles schnellstens vergessen«, sagte Nordpol und nahm Karl seine Turnschuhe aus den Händen, steckte sie in den Rucksack und lief los.


*****


Þórhildurs Hand ragte aus dem Treibsand heraus und versank langsam. Es ging um Leben und Tod. Er robbte auf dem Bauch zu ihr, so schnell es ging, ohne dabei im Schlamm einzusinken.


Hörte Sirenen in der Ferne. Hilfe nahte.


Schaffte es, ihre Fingerspitzen zu packen, die seinem Griff entglitten und im Schlick versanken.


Er versuchte zu schreien, aber es kam kein Laut heraus.


Grub mit den Händen im Treibsand und ergriff ihr Haar. Zog fest daran und scherte sich nicht darum, dass er selbst einzusinken begann.


Das Sirenengeräusch näherte sich. Bloß nicht aus dem Griff verlieren. Er zog jetzt mit aller Kraft und schaffte es, seinen Schatz aus dem Pfuhl zu ziehen.


Entsetzen erfüllte ihn, als er sah, dass es sich nicht um Þórhildur, sondern den rothaarigen Kerl von Schiphol handelte, der an die Oberfläche kam. Der Junge war quicklebendig, hatte aber einen wütenden Ausdruck im Gesicht, spuckte schwarzen Schlick aus und sagte: »Hab ich etwa kein Recht auf Sommerferien?«


Er ließ los und versuchte, von dem Kerl wegzukommen, der gerade einen Tobsuchtsanfall bekam.


Der Lärm der Sirenen machte ihn wahnsinnig.


Víkingur erwachte schweißgebadet und in seine Decke gewickelt. Das Sirenengeräusch draußen entfernte sich. Er versuchte sich zu orientieren. Er hatte sich aufs Bett gelegt, um auf Þórhildur zu warten, und war eingeschlafen.


Es war 01:34 Uhr.


Er war allein. Sie war immer noch nicht da.