Exakt um 23:00 Uhr standen drei schwarz gekleidete Männer auf einer
kleinen Lichtung im Lahemaa-Nationalpark in Estland.
Nordpol, Ulrich, Karl.
Es war die Johannisnacht, Jaaniõhtu,
und obwohl sie sich tief im Wald befanden, drangen die Geräusche
von Zechgelagen und Lärm von den Grillplätzen bis zu ihnen
durch.
Im Halbdunkel konnte man die Johannisfeuer lodern sehen, denn in
der hellsten Nacht des Jahres brennen Freudenfeuer im ganzen Land.
Der Volksglaube besagt, dass das Glück denjenigen begleitet, der
das Feuer durchschreitet oder darüberspringt.
Wer an diesem Abend kein Feuer entzündet, riskiert, dass ihn das
Feuer heimsucht und dass sein Haus und sein Besitz durch Brände
zerstört werden.
Eine tausendjährige Magie wird in der Johannisnacht wach. Und aus
den Flammen steigen Glaube und Bräuche lang vergessener
Generationen auf und tanzen in den Herzen der Menschen.
*****
Die drei Männer hockten inmitten des LahemaaNationalparks und
beugten sich über eine Landkarte, die Karl auf dem Boden
ausgebreitet hatte. Im Westen des Nationalparks war das Wort
»Rebasekasvatus« unterstrichen.
»Das bedeutet Pelztierzucht oder Fuchsfarm«, sagte Karl. »Bis dahin
sind es etwa 14 Kilometer durch Wald und Sumpfland. Wir wissen
nicht genau, wie viele Leute an dem Ort sind und ob sie bewaffnet
sind.
Wir haben genug Zeit. Nordpol geht voraus und wird den Ort erkundet
haben, wenn Ulrich und ich kommen.
Gegen Ende der Johannisnacht sind hier in Estland die meisten
wahrscheinlich entweder sternhagelvoll oder schlafen.«
Nachdem Karl den Plan mit wenigen Worten erklärt hatte, hob er die
Landkarte auf und faltete sie zusammen.
»Ziehen wir uns an«, sagte er.
Die Kleidung bestand aus schwarzen Jogginganzügen, Handschuhen und
Skimützen. Die Schuhe waren estnische Kampfstiefel. Alles neu und
noch in der Plastikverpackung.
»Wir dürfen weder die Handschuhe noch die Skimützen verlieren. Und
es wird nicht geraucht. Wir haben kein Interesse daran, Spuren zu
hinterlassen.« Die Männer zogen die Jacken an und schnürten die
Stiefel.
»Nordpol, du informierst mich, wenn du fertig bist.«
Nordpol lief auf und ab und stampfte mit den Füßen auf, wie jemand
im Schuhladen, der herauszufinden versucht, ob die Schuhe bequem
sind.
»Muss ich unbedingt diese Riesenlatschen tragen?«, fragte er. »Kann
ich sie nicht einfach anziehen, kurz bevor ich den Ort
erreiche?«
»Darf ich deine Schuhe mal sehen?«, fragte Karl.
Nordpol öffnete den Rucksack und nahm seine schwar zen Turnschuhe
heraus.
»Siehst du«, sagte Karl und hielt Nordpol die Schuhsohlen entgegen.
»Ist das dasselbe Muster wie das der Stiefel?«
»Das weiß ich nicht«, sagte Nordpol. »Welche Rolle spielt das? Wir
werden wieder zu Hause sein, wenn die Polizei hier einen Abguss von
unseren Fußabdrücken macht. Sie werden meine Fußspuren wohl kaum
bis nach Island verfolgen.«
»Jeder hinterlässt Spuren«, sagte Karl. »Überall. Das tun wir auch.
Wenn wir alle die gleichen Schuhe tragen, wird es aber schwer zu
sagen, wie viele wir waren. Wir sind eine Einheit und die Spuren,
die wir hinterlassen, sollen das bezeugen. Wir sind die
Höllenengel.«
»Und wer hat gesagt, dass die Höllenengel estnische Armeestiefel
tragen?«, fragte Nordpol. »Aber wenn das so ein Big Deal ist, dann
mache ich es natürlich für euch.«
»Für uns?«, fragte Karl. »Glaubst du, dass du mir persönlich damit
einen Gefallen tust?«
»Beruhige dich, Mann«, sagte Ulrich. »Wir haben das doch schon
besprochen. Wir halten uns an die Organisation. So ist das halt.«
»Hör mal, ich wusste nicht, dass das alles so eine wahnsinnig große
Sache ist. Stiefel, Decknamen und alles. Wir sollten das alles
schnellstens vergessen«, sagte Nordpol und nahm Karl seine
Turnschuhe aus den Händen, steckte sie in den Rucksack und lief
los.
*****
Þórhildurs Hand ragte aus dem Treibsand heraus und versank langsam.
Es ging um Leben und Tod. Er robbte auf dem Bauch zu ihr, so
schnell es ging, ohne dabei im Schlamm einzusinken.
Hörte Sirenen in der Ferne. Hilfe nahte.
Schaffte es, ihre Fingerspitzen zu packen, die seinem Griff
entglitten und im Schlick versanken.
Er versuchte zu schreien, aber es kam kein Laut heraus.
Grub mit den Händen im Treibsand und ergriff ihr Haar. Zog fest
daran und scherte sich nicht darum, dass er selbst einzusinken
begann.
Das Sirenengeräusch näherte sich. Bloß nicht aus dem Griff
verlieren. Er zog jetzt mit aller Kraft und schaffte es, seinen
Schatz aus dem Pfuhl zu ziehen.
Entsetzen erfüllte ihn, als er sah, dass es sich nicht um
Þórhildur, sondern den rothaarigen Kerl von Schiphol handelte, der
an die Oberfläche kam. Der Junge war quicklebendig, hatte aber
einen wütenden Ausdruck im Gesicht, spuckte schwarzen Schlick aus
und sagte: »Hab ich etwa kein Recht auf Sommerferien?«
Er ließ los und versuchte, von dem Kerl wegzukommen, der gerade
einen Tobsuchtsanfall bekam.
Der Lärm der Sirenen machte ihn wahnsinnig.
Víkingur erwachte schweißgebadet und in seine Decke gewickelt. Das
Sirenengeräusch draußen entfernte sich. Er versuchte sich zu
orientieren. Er hatte sich aufs Bett gelegt, um auf Þórhildur zu
warten, und war eingeschlafen.
Es war 01:34 Uhr.
Er war allein. Sie war immer noch nicht da.