Sechzehn


Þórhildur stand ein langer Arbeitstag bevor. Es gab die drei Leichen aus Þingvellir und dazu noch zwei früher eingelieferte Fälle, einen Ertrunkenen und einen Erhängten, wahrscheinlich Selbstmord, um die sich Sveinn noch nicht hatte kümmern können.


»Absolut unglaublich, wie viele unbedingt sterben wollten, während du weg warst«, sagte er zu Þórhildur.


Sveinn war ein vielversprechender Rechtsmediziner, aber er hatte zwei Fehler. Er war sehr von sich eingenommen ­ was Randver total auf die Nerven ging ­ und ausgesprochen geschwätzig; was Randvers Geduld besonders strapazierte, waren die endlosen Vorträge über die Geheimnisse der forensischen Medizin. Wenn man Randver etwas vorwerfen konnte, dann, dass er selbst ungeheuer redselig war.


»Ich habe den Verdacht, dass irgendwelche Professoren in der Medizinischen Fakultät Sveinn dazu ermutigt haben, sich auf Forensik zu spezialisieren, um zu verhindern, dass er seine Patienten mit seinem Geschwätz umbringt«, sagte Þórhildur eines Tages zu Víkingur, als er bemerkte, dass sie mit Wattebäuschen in den Ohren von der Arbeit nach Hause gekommen war. »Watte ist nicht so auffällig wie Ohrenstöpsel, und irgendwelche Vorsichtsmaßnahmen muss ich ergreifen, damit er mich nicht totschwätzt. Er ist geschickt mit dem Skalpell, aber er hat trotzdem irgendwie keine Zukunft als Chirurg vor sich. Eigentlich ist er ein guter Junge, aber er ist ein bisschen speziell.«


Þórhildur hatte das Gefühl, dass Sveinn die drei Leichname aus dem Sommerhaus am liebsten in Besitz nehmen wollte. Er war am Tatort gewesen und die Obduktion wäre unter seine Leitung gefallen, wenn sie nicht einen Tag früher als ursprünglich geplant von ihrer Reise heimgekommen wäre. Wortreich beschrieb er ihr die Situation im Sommerhaus und hielt darüber hinaus eine fundierte Vorlesung über den Sinn und Zweck von Obduktionen.


»Viele Leute glauben, es ginge vor allem darum, die Todesursache festzustellen«, sagte er. »Meiner Meinung nach ist der Zeitpunkt des Todes noch viel wichtiger. Der Polizei hilft es recht wenig, exakt zu wissen, woran derjenige stirbt, der festgenagelt und dann nach allen Regeln der Kunst gemartert wird. Wenn wir andererseits den Zeitpunkt festlegen können, wann das geschehen ist, haben wir die Arbeit der Polizei entscheidend erleichtert.«


»Und wie wollen wir das tun?«, fragte Þórhildur, als wolle sie Sveinn daran erinnern, wer hier der Schüler sei.


Dieser subtile Hinweis entging Sveinn offenbar, der freudig die Gelegenheit ergriff, seine Vorlesung fortzusetzen.


»Also, schau mal. Anhaltspunkte, um den Zeitpunkt des Todes festzustellen, kommen aus drei Richtungen.


Zuallererst gibt der Zustand des Leichnams Hinweise.   

 


Zweitens gibt der Fundort Hinweise. Und schließlich können Zeugenaussagen von Dritten Hinweise geben, also Informationen über die Gewohnheiten des Verstorbenen, wo und wann er zuletzt gesehen wurde und so weiter und so fort.«


»Die Antwort ist korrekt«, sagte Þórhildur. »In der forensischen Medizin gibt es keine unfehlbare Methode, um zu einem exakten Ergebnis bei der Beurteilung des Todeszeitpunkts zu gelangen. Unser Beruf wäre einfacher, wenn die Körperuhr, von der so viele sprechen, sichtbar wäre und stoppen würde, wenn der Tod eintritt.«


»Warte, ich bin noch nicht fertig«, sagte Sveinn und schaute sie wegen der Unterbrechung vorwurfsvoll an.


»Um den Zeitpunkt des Todes zu bestimmen, gibt es zwei Wege. Der eine ist der, die Veränderungen zu beurteilen, die eingetreten sind, seitdem der Betreffende starb; Veränderungen der Körpertemperatur, Erstarrung oder zum Beispiel Verwesung. Der andere Weg ist, die Zeitpunkte der Ereignisse zu vergleichen.«


»Wie das?«, fragte Þórhildur, denn Sveinn schloss langsam die Augen, als ob er eine Lehrbuchseite vor seinem geistigen Auge sehen wollte. Offensichtlich öffnete sich der Wälzer an der richtigen Stelle, denn Sveinn fuhr fort: »Wenn jemand mit einem Brecheisen auf den Kopf geschlagen wurde, und das Glas seiner Uhr zerbrochen ist und die Zeiger zwölf Uhr anzeigen, dann ist das ein Hinweis, den der Rechtsmediziner sich zunutze machen kann, genauso wie die Polizei. Oder wenn wir wissen, dass der Verstorbene üblicherweise um neunzehn Uhr zu Abend aß, aber keine Essensreste im Verdauungstrakt zu finden sind.«


»Was würde uns das sagen?«


»Entweder, dass der Mann vor neunzehn Uhr umgebracht worden ist, oder eben erst fünf oder sechs Stunden später, nachdem die Verdauung abgeschlossen ist.«


»Das stimmt alles«, sagte Þórhildur. »Aber wir sollten auch an den Grundsatz der forensischen Medizin denken, dass, je mehr Zeit vergeht, nachdem ein Mord begangen worden ist und bis die Leiche untersucht wird, es umso schwerer wird, den Todeszeitpunkt exakt zu bestimmen. Hier haben wir ein Beispiel wie aus dem Schulbuch, dass eine Obduktion allein nur sehr ungenaue Ergebnisse über den Zeitpunkt des Todes geben kann.«


Sie zeigte auf den Leichnam, der einmal Elli vom Octopussy gewesen war. Er war blau und aufgedunsen und der Torso wirkte, als wäre er kurz davor, unter dem Druck der verschiedenen Gase zu zerspringen, die sich in seinem Inneren gebildet hatten.


»Die Hitzewelle, die das Land heimgesucht hat, hilft uns auch nicht gerade«, sagte Þórhildur. »Ich habe in deinen Notizen gelesen, dass die Temperatur im Sommerhaus morgens 23° betragen hat, was bedeutet, dass die Sonne den Raum in einen Heizofen verwandelt hat, als sie am höchsten stand. Es wird nicht einfach werden, damit umzugehen.«


»Das macht es doch nur interessanter«, sagte Sveinn und strahlte voller Vorfreude. »Darf ich schneiden oder willst du das machen?«


»Mach du ruhig«, sagte Þórhildur und schaute ihrem eifrigen Schüler zu, wie er einen schönen Y-Schnitt von den Brustwarzen herunter bis zum Rippenbogen machte und von da aus bis zum Schambein. Der Gestank, der herausdrang, war so stark, dass Þórhildur kaum Luft bekam.


»Der Stab, der in den Anus geschoben wurde, hat natürlich den Darm perforiert, sodass hier hervorragende Bedingungen für alle möglichen Bakterien entstanden sind«, murmelte Sveinn, als spräche er mit sich selbst.              


Þórhildur betrachtete ihren Schüler verwundert, der den üblen Geruch nicht wahrzunehmen schien.


Sveinn bemerkte ihren Blick, als er aufschaute, um zu sehen, ob ihr seine Handfertigkeit gefiele. »Entschuldige«, sagte er. »Wenn du einen Blick hineinwerfen willst, kann ich gerne schon einmal den Schädel aufsägen. Nein, sieh mal, was für eine hübsche Zirrhose.«


Þórhildur hatte den Nagel auf den Kopf getroffen, als sie ihren Schüler beschrieb. Er war tatsächlich >ein bisschen speziell<.


*****


Der Kriminaldirektor Randver Andrésson hatte die Tugend, in anderen das Beste hervorzurufen. Alle mochten ihn. Sogar Leute, die er vor zwanzig Jahren, als er bei der Polizei anfing, verhaftet hatte, hielten an, wenn sie ihn zufällig trafen, und begrüßten ihn wie einen guten alten Freund. Er war liebenswürdig und gutmütig, eher heiter und umgänglich.


Trotz seiner Position hatte Randver keine hochtrabende Meinung von sich selbst. Er wusste sehr wohl, dass Víkingur für die Beförderungen verantwortlich war, die er bekommen hatte, und die Beförderungen waren das Kreuz, das er zu tragen hatte, um weiter mit Víkingur arbeiten zu können, denn diese Zusammenarbeit wollte er auf keinen Fall missen. Er hatte Víkingur sogar mehr als einmal gebeten, ihn die Karriereleiter der Polizei nicht weiter hochklettern zu lassen, als seine geistigen Kräfte es zuließen.


»Bleib ganz ruhig«, sagte Víkingur. »Ich weiß, was ich tue. Du hast so vieles, was mir fehlt. Du bist ordentlich und korrekt. Wenn emotionale Intelligenz in den IQ miteingerechnet würde, hättest du von uns allen den höchsten. Mehr als genug Schlauberger sind tierisch ehrgeizig, sodass Männer wie du oft gar nicht zum Zuge kommen.« »Emotionale Intelligenz?«, fragte Randver. »Was ist das denn?«


»Ich bin mir da selbst nicht ganz sicher«, sagte Víkingur. »Aber Þórhildur hat mir gesagt, dass sie sehr wichtig sei.«


Randver hatte nach diesem merkwürdigen Begriff oft im Internet suchen wollen, aber kaum war eins der seltenen Male gekommen, dass er sich zu seinem Vergnügen an den Computer setzte, war er auch schon auf worldfengur.com eingeloggt und stöberte in den Stammbäumen von Pferden herum. Nicht, dass er selber Pferde halten würde. Sein Zwillingsbruder war passionierter Pferdezüchter und sprach von nichts anderem als Pferden, wenn sich die beiden Brüder trafen, also hielt Randver es für nicht verkehrt, sich etwas anzulesen, um mitreden zu können. Außerdem hatte er fest vor, sich ein Pferd zu kaufen, sobald er in Rente ging. Nicht um darauf auszureiten, sondern um es zu striegeln und zu füttern und mit ihm zu plaudern.


*****


An manchen Tagen scheint emotionale Intelligenz wenig nützlich zu sein. Die morgendliche Besprechung der Kripo war eher öde gewesen, zumindest in Anbetracht dessen, dass die Polizei zum ersten Mal vor der Aufgabe stand, einen dreifachen Mord aufzuklären. Der Tatort lieferte sehr wenige Indizien. Derjenige oder diejenigen, die dort am Werk gewesen waren, hatten keine offensichtlichen Spuren hinterlassen und die Mitarbeiter der kriminaltechnischen Abteilung benötigten Zeit, um die Hinweise auszuwerten, die sie am Tatort gefunden hatten.


Víkingur hatte sich bei der Besprechung nicht blicken lassen, also hatte Randver die Mannschaft so gut wie möglich eingeteilt. Angehörige mussten benachrichtigt werden, um die Leichen zu identifizieren, und aus verschiedenen Richtungen mussten Informationen über die Verstorbenen eingeholt werden.


Randver bereute es bitter, keinen Vertreter der Abteilung R2 zu der Besprechung geladen zu haben, einer Abteilung, die in der Umgangssprache >Rauschgift< bzw.


Abteilung für Rauschgiftdelikte genannt wird. Dieses Versäumnis machte Randver wieder wett, indem er sich lange mit Ásta Finnsdóttir unterhielt, die gerade als erste Frau die Leitung der Abteilung übernommen hatte.


Ásta versprach, zum nächsten Treffen am Nachmittag zu kommen, und sagte ihm volle Unterstützung zu.


In seinem Inneren spürte Randver eine Art von Betrübnis, wie er sie nicht kannte. Normalerweise kam er gut gelaunt zur Arbeit, aber der grauenhafte Anblick, der sich ihm im Sommerhaus am Þingvallavatn geboten hatte, entzog ihm Energie und bedrückte ihn.


»Ich verstehe nicht, was das Ganze soll«, hatte er zu seiner Frau Bríet beim Frühstück gesagt.


»Was was soll?«, fragte Bríet. Sie ging den Dingen immer auf den Grund.


»Na ja, dieser Beruf«, sagte Randver. »Es wird immer schlimmer und schlimmer, hässlicher und hässlicher.«


»Das ist ja wohl kaum deine Schuld.«


»Nein, es ist vielleicht niemandes Schuld. Aber ich kann auch nicht erkennen, dass die Polizei sich besonders nützlich macht.«


»Was für ein Blödsinn ist das denn?«, fragte Bríet. »Natürlich macht sich die Polizei überall nützlich. Das sieht doch jedes Kind. Hat Víkingur dir wieder einen seiner fatalistischen Vorträge gehalten?« »Nein, ich bin kaum dazu gekommen, mit ihm zu sprechen. Ich habe ihn natürlich sofort angerufen und gebeten, mit der ersten Maschine nach Hause zu kommen.«


»Was maulst du denn dann so herum? Ab in die Arbeit mit dir. Vergiss bloß nicht, wenn du in einem Fernsehinterview landest, darauf zu achten, dass die Krawatte nicht schief hängt, und steck dir das Hemd ordentlich in die Hose.«


Die Krawatte hing schief und ein Hemdschoß hing ihm aus der Hose. Der Gesprächspartner von Randver war jedoch kein Fernsehreporter, sondern Guðfinnur Bertholdsson, der sich selbst als Gastwirt bezeichnete, auch wenn alle anderen ihn Puffbesitzer nannten.


Guðfinnur von Berthold's Baby Doll war der Konkurrent von Elli vom Octopussy gewesen. Ursprünglich war er der Freund und Kollege von Elli gewesen, aber dann war die Freundschaft zerbrochen und ihr Verhältnis war auch nicht besser geworden, als Guðfinnur es wagte, seinen eigenen Nachtclub zu eröffnen.


Guðfinnur war auf der Polizeiwache erschienen und hatte mit Víkingur zu sprechen verlangt, und als er nicht vorgelassen wurde, dann eben mit Randver. Er gab an, eine Anzeige erstatten zu wollen, und sagte, er wäre es gewohnt, eher mit Vorgesetzten als mit Untergebenen zu sprechen.


»Wie kommt es, dass jeder in der Stadt darüber spricht, dass ich Elli vom Octopussy und diese zwei Jungs, die er dabeihatte, umgebracht haben soll?«, fragte er, ohne zu grüßen, sobald er Randvers Büro betreten hatte.


»Hast du es getan?«, fragte Randver leise.


Dem Mann blieb vor Empörung die Luft weg. »Habe ich was getan? Bist du von Sinnen, Mann? Ich habe noch nie jemanden umgebracht und werde es hoffentlich auch nie tun. Trotzdem pfeifen es die Spatzen von allen Dächern, dass ich letzte Woche drei Morde begangen habe oder irgendwelche Ausländer engagiert habe, damit sie Elli für mich umbringen.«   

 


»Wird denn auch dazugesagt, warum du das getan haben sollst?« Randver musterte den Mann, der vor ihm stand und den er schon lange kannte. Guðfinnur hatte als junger Mann mit Bodybuilding angefangen und war trotz seiner nur 167 cm ein Koloss. Niemand, der noch ganz bei Trost war, wagte jedoch, Witze über seine geringe Körpergröße zu machen, weder in seiner Anwesenheit noch anderswo. Alles kann sich herumsprechen.


Parallel zum Bodybuilding hatte Guðfinnur als Türsteher in dieser oder jener Diskothek gearbeitet, bis sich sein Weg mit dem von Elli kreuzte. Von da an waren sie unzertrennlich, bis vor zwei Jahren, als ihre Freundschaft in die Brüche ging.


Guðfinnur hielt die Frage für nicht beantwortungswürdig. Er fuhr fort, seine Wut über Randver zu ergießen: »Sogar sein Sohn, dieser geistig behinderte Idiot, der immer zugedröhnt ist, ruft mich an und stößt Drohungen aus.«


»Was für Drohungen?«


»Na, dass er dasselbe mit mir macht, was ich mit seinem Papa gemacht haben soll.«


»Was sollst du denn mit seinem Papa gemacht haben?«, fragte Randver.


Guðfinnur kam mit dem Schimpfen aus dem Takt und starrte Randver perplex an. »Ey, ist irgendwas mit dir nicht in Ordnung? Hab ich nicht gerade gesagt, dass ich den Mann umgebracht haben soll? Und damit nicht genug, hat der Junior jetzt auch noch die spinnerte Idee, dass ich ihn als Nächstes umbringen will. Es ist vielleicht nicht überraschend, dass der Kerl para ist, schließlich hat er nur Speed und Koks intus, seit er nicht mehr an der Flasche nuckelt. Das Ganze stimmt von vorne bis hinten nicht. Warum hätte ich Elli umbringen sollen?«


»Aus Konkurrenzgründen?«


»Man bringt doch keine Leute aus Konkurrenzgründen um«, sagte Guðfinnur. »Da würde man ja nie zu einem Ende kommen.«


»Ihr habt euch gestritten.«


»Ich habe siebzehn Jahre lang bei ihm gearbeitet«, entgegnete Guðfinnur. »Ich fand, es war an der Zeit, mein eigener Herr zu werden.«


»Elli war vielleicht anderer Ansicht. Ich weiß, dass er Leute zu dir geschickt hat und gedroht hat, dir den Laden dichtzumachen. Warum hat er das gemacht?«


»Das ist ein Betriebsgeheimnis«, sagte Guðfinnur.


»Machst du Witze?«, fragte Randver.


»Nein, ich mache keine Witze. Meinst du, wir können in unserer Branche nicht wie in anderen auch Betriebsgeheimnisse haben?«


»Hör mal, jetzt habe ich aber genug«, sagte Randver und stand zum Zeichen dafür, dass das Gespräch beendet war, auf. »Du kommst zu mir und heulst Rotz und Wasser, weil der Junior behauptet, dass du seinen Vater umgebracht hast, und redest dann von Betriebsgeheimnissen, wenn ich dich nach eurer Beziehung frage. Möchtest du, dass wir unsere ganze Untersuchung auf dich und eure Geheimnisse richten?«


»Jetzt wo Elli tot ist, kann ich es dir ja eigentlich auch anvertrauen«, lenkte Guðfinnur ein. »Er wollte mich dazu bringen, Dope für ihn zu verkaufen.«


»Und dann?« »Ich wollte nicht. Ich bin absolut gegen Rauschgift.«


»Kennst du sonst noch einen Witz?«, fragte Randver.


»Wenn ich Rauschgift verkaufen würde ­ was ich nicht tue ­, würde ich keinen Stoff von Elli vom Octopussy verkaufen.«


»Wessen Rauschgift würdest du denn verkaufen?«


»Das tut nichts zur Sache«, sagte Guðfinnur. »Schließlich verkaufe ich keine Drogen und habe es nie getan ­ und als Allerletztes würde ich mir die Hände damit schmutzig machen, dieses Speed, das Elli in Estland herstellen lässt, zu verkaufen.«              


»Und das, wo ihr die besten Freunde wart ­ wieso würdest du das nicht wollen?«


»Es ist einfach kein gutes Produkt«, sagte Guðfinnur.


»Eine Sache ist es, den Menschen zu helfen, sich einen schönen Tag zu machen, und eine andere, sie umzubringen.«


»Drück dich klar aus, Mann, drück dich klar aus.


Sagst du mir gerade, dass Elli tödliches Rauschgift eingeschmuggelt und verkauft hat?«


»Ich weiß nichts davon«, sagte Guðfinnur. »Mir ist nur gesagt worden, dass mehr als einer und auch mehr als zwei Junkies an dieser Scheiße gestorben sind, die Elli vertrieben hat. Die Qualität ist so unterschiedlich.


Manchmal ist es in Ordnung, manchmal nicht. Ich möchte betonen, dass das nicht von mir stammt. Das pfeifen die Spatzen von den Dächern.«


»Dieselben Spatzen, die sagen, dass du Elli und seine zwei Handlanger getötet hast?«


»Verdammte Verdrehungen sind das. Man kommt hierher, um Anzeige zu erstatten, weil ein irrer Junkie damit droht, einen umzubringen, und dann wird man selbst wegen Mordes angeklagt.« »Du bist überhaupt nicht angeklagt«, sagte Randver.


»Und wenn schon«, sagte Guðfinnur.


»Nur verdächtig«, fügte Randver hinzu. »Ich danke dir für das Gespräch. Ich werde mir diese Sache anschauen. Wir melden uns dann.«


*****


Wie versprochen nahm Ásta Finnsdóttir, Leiterin der Abteilung für Rauschgiftdelikte, an der Nachmittagsbesprechung teil. Irgendetwas hatte sie wohl beim Gespräch mit Randver falsch verstanden, denn sie erschien mit einem Laptop und verwendete einen Beamer, um ihren Vortrag über den Aufbau und die Arbeit ihrer Abteilung zu illustrieren.


Das Referat an sich war informativ und ganz gut vorgetragen, aber am Anfang wirkte es so, als sei es zur Information normaler Bürger verfasst worden, denn das meiste, was Ásta sagte, wussten ihre Zuhörer genauso gut wie sie.


Sie begann damit, zu erklären, dass in der Rauschgiftabteilung zweiunddreißig Polizisten tätig seien und daneben noch zwei Juristen, die die Untersuchungen begleiteten und sich anschließend um die Anklagen kümmerten. »Die Polizisten versehen jegliche Schreibarbeit selbst, denn wir haben keine Sekretärin.« Dieser während des Vortrags häufig wiederholte Satz war wahrscheinlich ihr Beitrag zum internen Gerangel um mehr Finanzmittel für ihre Abteilung.


Wie sich herausstellte, war Ásta sehr wohl bewusst, dass sie zu ihren Kollegen sprach, denn sie sagte: »Die Hauptaufgabe der Abteilung für Gewaltdelikte ist, Morde und Gewalttaten zu untersuchen, und zwar, nachdem sie begangen worden sind. In der Rauschgiftabteilung ist die Arbeit schon deswegen komplizierter, weil wir versuchen müssen, die Verdächtigen in genau dem Moment zu ergreifen, wo sie den Stoff in den Händen haben.


Mörder hinterlassen Leichen, aber in unserer Abteilung haben wir es mit Tätern zu tun, die die Beweismittel einfach vernichten können, sie in die Nase hochziehen, aus dem Autofenster werfen oder in der Toilette herunterspülen können.


Ferner gibt es den folgenden Unterschied zwischen unserer Arbeit und der der Mordabteilung: Morde sind hierzulande kein Berufszweig, jedenfalls noch nicht, aber Rauschgiftschmuggel, Vertrieb und Verkauf von Drogen bilden die weitaus bedeutendste Branche der sogenannten Unterwelt. Diejenigen, gegen die wir ankämpfen, sind also größtenteils Profis und manche von ihnen haben schon eine lange Karriere hinter sich.«


Ásta wies mit einem Laserzeiger auf ein Diagramm, das der Beamer an die Wand warf.


»Um euch einmal eine Vorstellung davon zu geben, was für ein großes Problem die Drogenbranche weltweit ist: Der Jahresumsatz auf diesem Gebiet beträgt mehr als vierhundert Milliarden US-Dollar, das sind zweiunddreißigtausend Milliarden isländische Kronen oder besser gesagt zweiunddreißig Billionen Kronen. Dreihundert Kárahnjúkar-Kraftwerke jedes Jahr. Niemand kennt die genaue Anzahl derer, die von Drogen abhängig sind, aber eine Kommission der Vereinten Nationen schätzt, dass es etwa hundertvierzig Millionen Cannabissüchtige, acht Millionen Heroinsüchtige, dreizehn Millionen Kokainsüchtige gibt und dann noch weitere dreißig Millionen, die synthetische Drogen nehmen, wie Amphetamin, Crack und solche Sachen. Es ist nur eine Schätzung. Eine vorsichtige Schätzung.


Diese Plage hat sich in Island genauso wie anderswo eingenistet. Hier seht ihr die Entwicklung: Im Jahr 1971, in der Hippiezeit, wurde ein bisschen Hasch geraucht.


Im Jahr 1985 war Speed schon ziemlich verbreitet und es kam vor, dass man ein klein wenig Kokain >für Weihnachten< oder für Festlichkeiten besaß. Aber die Kurve weist steil nach oben. Im darauffolgenden Jahr, 1986, hat die Rauschgiftabteilung vierhundert Gramm Kokain beschlagnahmt. Von da an verschlechterte sich die Lage kontinuierlich. Ecstasy kam ernsthaft ab 1992 ins Spiel und von dem Zeitpunkt an, kann man sagen, haben wir keine Ruhe mehr gehabt. Hier kommen alle möglichen und unmöglichen Drogen an. Die Cannabisstoffe haben ihren Konsumentenkreis, der jedoch veränderlich ist, weil so viele dann zu Speed und Koks wechseln.


Bitte beachtet, dass ich keine Unterscheidung zwischen sogenannten harten und weichen Drogen mache.


Manch einer behauptet, Cannabis sei weich und keinesfalls gefährlicher als zum Beispiel Tabak. Doch die meisten Untersuchungen von Cannabisstoffen weisen darauf hin, dass sie viel schädlicher sind als wir, die wir uns noch an die Hippiezeit erinnern können, gerne glauben möchten.


Der Zoll ist natürlich hilflos. Seine Hauptaufgabe ist es, die fälligen Zölle und Importgebühren bei legalen Waren zu kassieren. Der Zoll des Flughafens in Keflavík ist dennoch äußerst nützlich. Zumindest zeigt er den Menschen, dass man nicht einfach mit Koffern voller Rauschgift ins Land einreisen kann. Mit den Containern haben wir ein größeres Problem. Es sind so viele, dass es ausgeschlossen ist, in mehr als vielleicht einen von hundert hineinzuschauen. Die Regierung hat auch kein Interesse an einer strengeren Zollfahndung. Drei Jahre lang bitten wir nun schon um ein Durchleuchtungsgerät, durch das Container gerollt werden können und das ungeheuer nützlich wäre. Wir bekommen keine Gelder dafür.«


Diese Bemerkung weckte Sympathie bei Kriminalpolizist Marinó, der ansonsten ein begrenztes Interesse an Straftaten hatte.


»Davon kann ich ein Lied singen«, brummte er. »Ich weiß nicht, seit wie vielen Jahren ich jetzt schon eine neue Kaffeemaschine für unsere Abteilung beantragt habe.


Aber es ist nicht eine Krone übrig in der Staatskasse, nachdem allen Politikern gute Bezüge und gute Renten zugesichert worden sind.«


Ásta tat so, als hörte sie Marinós Anmerkung nicht.


Sein Interesse an dem Thema war niemandem verborgen geblieben, der bei der Polizei arbeitete. Sie fuhr mit ihrem Bericht fort: »Zur schwierigsten Aufgabe von Eltern und Erziehern ist es geworden, zu gewährleisten, dass die Kinder das Teenageralter überstehen, ohne drogenabhängig zu werden. Die Menge ist groß genug, dass jede Familie, zumindest hier im Stadtgebiet, jemanden kennt oder mit jemandem verwandt ist, der ein ernsthaftes Drogenproblem hat oder hatte.« Hier machte Ásta eine Pause und schaute die Menschen an, die im Besprechungsraum saßen, als erwartete sie, dass jedem ein Junkie in seinem nächsten Umfeld einfiele.   

 


Randver nutzte die Gelegenheit, um den Vortrag zu unterbrechen.


»Das sind ja alles nützliche Hintergrundinformationen, die ein sehr genaues und erschreckendes Gesamtbild der Lage geben, aber ich weiß, dass viele Anwesende die Frage stellen möchten: Weiß die Rauschgiftabteilung, ob Elli vom Octopussy und die Geldeintreiber, die bei ihm waren, auf irgendeine Art und Weise mit Drogen in Verbindung standen ­ und wenn ja, wie?«


Ásta verstand sofort, dass Randver sie antreiben wollte, zum Punkt zu kommen. Sie sagte: »Das ist selbstverständlich eine gute Frage, aber ich hatte mir gedacht, ich widme mich ihr nachher. Es gibt noch ein oder zwei Aspekte, die ich nennen will, um das Gesamtbild zu verdeutlichen.


Ich sagte bereits, dass wir es mit Profis zu tun haben.


Damit meinte ich nicht, dass die Drogenhändler oder Schmuggler nicht auch andere Berufe ausüben könnten ­ auf dem Papier zumindest. Was ich meinte, ist, ein normaler Bürger, der ein Kilo Kokain auf dem Bürgersteig findet, hätte, ohne Verbindungen zu solchen Leuten zu haben, große Schwierigkeiten, es an den Mann zu bringen.


In früheren Jahren wurde einigen Leuten, von denen die Allgemeinheit fand, dass sie erstaunlich schnell zu Vermögen gekommen waren, nachgesagt, den Drogenschmuggel zu finanzieren. Wir haben dafür keine Beweise, aber es ist nicht unwahrscheinlich, dass einige Leute das als eine spannende Art von Risikokapital betrachteten. Andererseits ist es unwahrscheinlich, dass dieselben Beteiligten den Drogenhandel über längere Zeit finanzieren. Dazu ist der Markt hierzulande einfach nicht groß genug. Man kann, gemessen an normalen Angestelltenlöhnen, beträchtliche Gewinne einfahren, aber sobald jemand sein Vermögen in Milliarden beziffert, ist das Schmuggeln von Drogen in ein so spärlich besiedeltes Land nicht mehr lukrativ, wenn man das Risiko miteinbezieht. Diejenigen, die den Drogenschmuggel als ihren Beruf betrachten, müssen Geschäftsbeziehungen ins Ausland haben. Manche haben feste Großhändler.


Abgesehen von den Handelsbeziehungen, die sich normalerweise leicht auftun, muss ein professioneller Drogenschmuggler irgendeine Art von Geldwäschemöglichkeit für seine Einnahmen haben. Er muss eine Firma besitzen oder Verbindungen zu einer Firma haben, die genug Gewinn macht, um die gute finanzielle Lage zu erklären, also eine Gaststätte, eine Reinigung, ein Fitnessstudio oder irgendeine andere unschuldige Einkommensquelle.«


»Und was ist mit einem Puff?« Terje konnte nicht länger schweigend dasitzen und unterbrach Ásta mit diesem Zwischenruf.


»Selbstverständlich. Ein Bordell fällt natürlich unter die Rubrik Gaststätte. Und damit bin ich beim letzten Punkt meines allgemeinen Vortrags über die Lage bei den Rauschgiftdelikten angekommen. Obgleich der isländische Markt klein ist, ist damit nicht gesagt, dass es nur der eine oder andere Junkie ist, der den Schmuggel aufrechterhält. Ganz im Gegenteil. In den letzten Jahren haben wir mehrfach Anzeichen dafür gesehen, dass starke Beteiligte aus dem Ausland Interesse daran gezeigt haben, hier Fuß zu fassen. Erstens die Hells Angels aus Dänemark, die wir durch die gute Zusammenarbeit mit dem Nachrichtendienst außerhalb unserer Landesgrenzen halten konnten. Zweitens scheint es so, dass hier eine bemerkenswerte Menge von Drogen aus den Ostseeanrainerstaaten ins Land kommt. Und damit bin ich zu der Frage gekommen, die Randver eben gestellt hat.              


Die Frage kam auf, ob Elli vom Octopussy und die Männer, die mit ihm gefunden wurden, mit Drogen in Verbindung gestanden haben, und wenn ja, auf welche Art.


Diese Frage kann man sowohl lang als auch kurz beantworten. Die kurze Antwort ist einfach Ja. Ævar Guðbergsson und Jóhann Baker sind beide wegen Drogenmissbrauchs vorbestraft. Elías ist nie in Zusammenhang mit Drogen geschnappt worden, wenn man Führerscheinentzug wegen Alkohols am Steuer nicht mitzählt.


Aber den Anwesenden gegenüber kann ich bestätigen, dass Elías mehr als nur eine Verbindung zu Drogen hatte. Wir haben den sehr fundierten Verdacht, dass er in großem Stil Amphetamin ins Land geschmuggelt hat.


Wir können in etwa auch den Zeitpunkt benennen, wann er damit begonnen hat. Das war vor gut zwei Jahren.


Zu der Zeit importierte er Baumaterial aus Estland, und zwar in Containern. Denkbar, dass er dort im Osten mächtige Partner, egal, ob es sich um Russen oder Esten handelt, kennengelernt hat, indem er sich von ihnen Prostituierte auslieh, die er dann wiederum hierzulande als sogenannte Revuetänzerinnen weitervermittelte. Und damit reden wir von zwei weiteren Straftaten, nämlich einem Bruch der Sittengesetze und knallhartem Menschenhandel.«


Für die anwesenden Polizisten war es keine Neuigkeit, dass Rauschgift, Prostitution und Menschenhandel oft Hand in Hand gehen, aber Ásta hatte sich die wichtigste Nachricht bis zum Schluss aufgehoben.


»Darüber hinaus weist vieles darauf hin, dass Elli der Teilhaber oder Mitbesitzer eines Amphetaminlabors in Estland gewesen ist, das wohlgemerkt vor ein paar Tagen bis auf die Grundfesten niedergebrannt worden ist. Auf dem Gelände wurden sieben Leichen gefunden, wenn ich mich recht erinnere; eine war wahrscheinlich aus der Gruppe der Angreifer, die anderen jedoch Wächter und Angestellte des Labors.«


Wer bei der Besprechung kurz vor dem Eindösen gewesen war, sperrte jetzt seine Ohren auf, setzte sich auf seinem Stuhl aufrecht hin und tauschte mit den anderen Bemerkungen aus.


»Nicht den Faden verlieren«, sagte Randver, und kaum hatte er es gesagt, merkte er, dass diese Redewendung im Gespräch mit einer modernen Frau vielleicht nicht ganz glücklich gewählt war.


»Das ist noch nicht die ganze Geschichte«, erwiderte Ásta trocken. »Hier sind einige Fotos vom Tatort mit der Frage, ob wir irgendwelche der Leichen identifizieren können. Die Fotos bekamen wir heute in aller Herrgottsfrühe zugeschickt. Estland ist uns wohl mit der Zeit zwei oder drei Stunden voraus. Da seht ihr auch das Gekritzel, von dem die Esten meinen, dass es an nordische Runenschrift erinnert. Sie vermuten, dass die Angreifer das hinterlassen haben. Auf die Schnelle scheint es mir dem Gekritzel zu ähneln, das ihr in Þingvellir gefunden habt.«  

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Dieser Vortrag, der so öde begann, hatte vor seinem Ende doch noch das Interesse aller Anwesenden geweckt, das muss man sagen.