Þórhildur stand ein langer Arbeitstag bevor. Es gab die drei
Leichen aus Þingvellir und dazu noch zwei früher eingelieferte
Fälle, einen Ertrunkenen und einen Erhängten, wahrscheinlich
Selbstmord, um die sich Sveinn noch nicht hatte kümmern
können.
»Absolut unglaublich, wie viele unbedingt sterben wollten, während
du weg warst«, sagte er zu Þórhildur.
Sveinn war ein vielversprechender Rechtsmediziner, aber er hatte
zwei Fehler. Er war sehr von sich eingenommen was Randver total
auf die Nerven ging und ausgesprochen geschwätzig; was Randvers
Geduld besonders strapazierte, waren die endlosen Vorträge über die
Geheimnisse der forensischen Medizin. Wenn man Randver etwas
vorwerfen konnte, dann, dass er selbst ungeheuer redselig
war.
»Ich habe den Verdacht, dass irgendwelche Professoren in der
Medizinischen Fakultät Sveinn dazu ermutigt haben, sich auf
Forensik zu spezialisieren, um zu verhindern, dass er seine
Patienten mit seinem Geschwätz umbringt«, sagte Þórhildur eines
Tages zu Víkingur, als er bemerkte, dass sie mit Wattebäuschen in
den Ohren von der Arbeit nach Hause gekommen war. »Watte ist nicht
so auffällig wie Ohrenstöpsel, und irgendwelche Vorsichtsmaßnahmen
muss ich ergreifen, damit er mich nicht totschwätzt. Er ist
geschickt mit dem Skalpell, aber er hat trotzdem irgendwie keine
Zukunft als Chirurg vor sich. Eigentlich ist er ein guter Junge,
aber er ist ein bisschen speziell.«
Þórhildur hatte das Gefühl, dass Sveinn die drei Leichname aus dem
Sommerhaus am liebsten in Besitz nehmen wollte. Er war am Tatort
gewesen und die Obduktion wäre unter seine Leitung gefallen, wenn
sie nicht einen Tag früher als ursprünglich geplant von ihrer Reise
heimgekommen wäre. Wortreich beschrieb er ihr die Situation im
Sommerhaus und hielt darüber hinaus eine fundierte Vorlesung über
den Sinn und Zweck von Obduktionen.
»Viele Leute glauben, es ginge vor allem darum, die Todesursache
festzustellen«, sagte er. »Meiner Meinung nach ist der Zeitpunkt
des Todes noch viel wichtiger. Der Polizei hilft es recht wenig,
exakt zu wissen, woran derjenige stirbt, der festgenagelt und dann
nach allen Regeln der Kunst gemartert wird. Wenn wir andererseits
den Zeitpunkt festlegen können, wann das geschehen ist, haben wir
die Arbeit der Polizei entscheidend erleichtert.«
»Und wie wollen wir das tun?«, fragte Þórhildur, als wolle sie
Sveinn daran erinnern, wer hier der Schüler sei.
Dieser subtile Hinweis entging Sveinn offenbar, der freudig die
Gelegenheit ergriff, seine Vorlesung fortzusetzen.
»Also, schau mal. Anhaltspunkte, um den Zeitpunkt des Todes
festzustellen, kommen aus drei Richtungen.
Zuallererst gibt der Zustand des Leichnams Hinweise.
Zweitens gibt der Fundort Hinweise. Und schließlich können
Zeugenaussagen von Dritten Hinweise geben, also Informationen über
die Gewohnheiten des Verstorbenen, wo und wann er zuletzt gesehen
wurde und so weiter und so fort.«
»Die Antwort ist korrekt«, sagte Þórhildur. »In der forensischen
Medizin gibt es keine unfehlbare Methode, um zu einem exakten
Ergebnis bei der Beurteilung des Todeszeitpunkts zu gelangen. Unser
Beruf wäre einfacher, wenn die Körperuhr, von der so viele
sprechen, sichtbar wäre und stoppen würde, wenn der Tod
eintritt.«
»Warte, ich bin noch nicht fertig«, sagte Sveinn und schaute sie
wegen der Unterbrechung vorwurfsvoll an.
»Um den Zeitpunkt des Todes zu bestimmen, gibt es zwei Wege. Der
eine ist der, die Veränderungen zu beurteilen, die eingetreten
sind, seitdem der Betreffende starb; Veränderungen der
Körpertemperatur, Erstarrung oder zum Beispiel Verwesung. Der
andere Weg ist, die Zeitpunkte der Ereignisse zu
vergleichen.«
»Wie das?«, fragte Þórhildur, denn Sveinn schloss langsam die
Augen, als ob er eine Lehrbuchseite vor seinem geistigen Auge sehen
wollte. Offensichtlich öffnete sich der Wälzer an der richtigen
Stelle, denn Sveinn fuhr fort: »Wenn jemand mit einem Brecheisen
auf den Kopf geschlagen wurde, und das Glas seiner Uhr zerbrochen
ist und die Zeiger zwölf Uhr anzeigen, dann ist das ein Hinweis,
den der Rechtsmediziner sich zunutze machen kann, genauso wie die
Polizei. Oder wenn wir wissen, dass der Verstorbene üblicherweise
um neunzehn Uhr zu Abend aß, aber keine Essensreste im
Verdauungstrakt zu finden sind.«
»Was würde uns das sagen?«
»Entweder, dass der Mann vor neunzehn Uhr umgebracht worden ist,
oder eben erst fünf oder sechs Stunden später, nachdem die
Verdauung abgeschlossen ist.«
»Das stimmt alles«, sagte Þórhildur. »Aber wir sollten auch an den
Grundsatz der forensischen Medizin denken, dass, je mehr Zeit
vergeht, nachdem ein Mord begangen worden ist und bis die Leiche
untersucht wird, es umso schwerer wird, den Todeszeitpunkt exakt zu
bestimmen. Hier haben wir ein Beispiel wie aus dem Schulbuch, dass
eine Obduktion allein nur sehr ungenaue Ergebnisse über den
Zeitpunkt des Todes geben kann.«
Sie zeigte auf den Leichnam, der einmal Elli vom Octopussy gewesen
war. Er war blau und aufgedunsen und der Torso wirkte, als wäre er
kurz davor, unter dem Druck der verschiedenen Gase zu zerspringen,
die sich in seinem Inneren gebildet hatten.
»Die Hitzewelle, die das Land heimgesucht hat, hilft uns auch nicht
gerade«, sagte Þórhildur. »Ich habe in deinen Notizen gelesen, dass
die Temperatur im Sommerhaus morgens 23° betragen hat, was
bedeutet, dass die Sonne den Raum in einen Heizofen verwandelt hat,
als sie am höchsten stand. Es wird nicht einfach werden, damit
umzugehen.«
»Das macht es doch nur interessanter«, sagte Sveinn und strahlte
voller Vorfreude. »Darf ich schneiden oder willst du das
machen?«
»Mach du ruhig«, sagte Þórhildur und schaute ihrem eifrigen Schüler
zu, wie er einen schönen Y-Schnitt von den Brustwarzen herunter bis
zum Rippenbogen machte und von da aus bis zum Schambein. Der
Gestank, der herausdrang, war so stark, dass Þórhildur kaum Luft
bekam.
»Der Stab, der in den Anus geschoben wurde, hat natürlich den Darm
perforiert, sodass hier hervorragende Bedingungen für alle
möglichen Bakterien entstanden sind«, murmelte Sveinn, als spräche
er mit sich selbst.
Þórhildur betrachtete ihren Schüler verwundert, der den üblen
Geruch nicht wahrzunehmen schien.
Sveinn bemerkte ihren Blick, als er aufschaute, um zu sehen, ob ihr
seine Handfertigkeit gefiele. »Entschuldige«, sagte er. »Wenn du
einen Blick hineinwerfen willst, kann ich gerne schon einmal den
Schädel aufsägen. Nein, sieh mal, was für eine hübsche
Zirrhose.«
Þórhildur hatte den Nagel auf den Kopf getroffen, als sie ihren
Schüler beschrieb. Er war tatsächlich >ein bisschen
speziell<.
*****
Der Kriminaldirektor Randver Andrésson hatte die Tugend, in anderen
das Beste hervorzurufen. Alle mochten ihn. Sogar Leute, die er vor
zwanzig Jahren, als er bei der Polizei anfing, verhaftet hatte,
hielten an, wenn sie ihn zufällig trafen, und begrüßten ihn wie
einen guten alten Freund. Er war liebenswürdig und gutmütig, eher
heiter und umgänglich.
Trotz seiner Position hatte Randver keine hochtrabende Meinung von
sich selbst. Er wusste sehr wohl, dass Víkingur für die
Beförderungen verantwortlich war, die er bekommen hatte, und die
Beförderungen waren das Kreuz, das er zu tragen hatte, um weiter
mit Víkingur arbeiten zu können, denn diese Zusammenarbeit wollte
er auf keinen Fall missen. Er hatte Víkingur sogar mehr als einmal
gebeten, ihn die Karriereleiter der Polizei nicht weiter
hochklettern zu lassen, als seine geistigen Kräfte es
zuließen.
»Bleib ganz ruhig«, sagte Víkingur. »Ich weiß, was ich tue. Du hast
so vieles, was mir fehlt. Du bist ordentlich und korrekt. Wenn
emotionale Intelligenz in den IQ miteingerechnet würde, hättest du
von uns allen den höchsten. Mehr als genug Schlauberger sind
tierisch ehrgeizig, sodass Männer wie du oft gar nicht zum Zuge
kommen.« »Emotionale Intelligenz?«, fragte Randver. »Was ist das
denn?«
»Ich bin mir da selbst nicht ganz sicher«, sagte Víkingur. »Aber
Þórhildur hat mir gesagt, dass sie sehr wichtig sei.«
Randver hatte nach diesem merkwürdigen Begriff oft im Internet
suchen wollen, aber kaum war eins der seltenen Male gekommen, dass
er sich zu seinem Vergnügen an den Computer setzte, war er auch
schon auf worldfengur.com eingeloggt und stöberte in den
Stammbäumen von Pferden herum. Nicht, dass er selber Pferde halten
würde. Sein Zwillingsbruder war passionierter Pferdezüchter und
sprach von nichts anderem als Pferden, wenn sich die beiden Brüder
trafen, also hielt Randver es für nicht verkehrt, sich etwas
anzulesen, um mitreden zu können. Außerdem hatte er fest vor, sich
ein Pferd zu kaufen, sobald er in Rente ging. Nicht um darauf
auszureiten, sondern um es zu striegeln und zu füttern und mit ihm
zu plaudern.
*****
An manchen Tagen scheint emotionale Intelligenz wenig nützlich zu
sein. Die morgendliche Besprechung der Kripo war eher öde gewesen,
zumindest in Anbetracht dessen, dass die Polizei zum ersten Mal vor
der Aufgabe stand, einen dreifachen Mord aufzuklären. Der Tatort
lieferte sehr wenige Indizien. Derjenige oder diejenigen, die dort
am Werk gewesen waren, hatten keine offensichtlichen Spuren
hinterlassen und die Mitarbeiter der kriminaltechnischen Abteilung
benötigten Zeit, um die Hinweise auszuwerten, die sie am Tatort
gefunden hatten.
Víkingur hatte sich bei der Besprechung nicht blicken lassen, also
hatte Randver die Mannschaft so gut wie möglich eingeteilt.
Angehörige mussten benachrichtigt werden, um die Leichen zu
identifizieren, und aus verschiedenen Richtungen mussten
Informationen über die Verstorbenen eingeholt werden.
Randver bereute es bitter, keinen Vertreter der Abteilung R2 zu der
Besprechung geladen zu haben, einer Abteilung, die in der
Umgangssprache >Rauschgift< bzw.
Abteilung für Rauschgiftdelikte genannt wird. Dieses Versäumnis
machte Randver wieder wett, indem er sich lange mit Ásta
Finnsdóttir unterhielt, die gerade als erste Frau die Leitung der
Abteilung übernommen hatte.
Ásta versprach, zum nächsten Treffen am Nachmittag zu kommen, und
sagte ihm volle Unterstützung zu.
In seinem Inneren spürte Randver eine Art von Betrübnis, wie er sie
nicht kannte. Normalerweise kam er gut gelaunt zur Arbeit, aber der
grauenhafte Anblick, der sich ihm im Sommerhaus am Þingvallavatn
geboten hatte, entzog ihm Energie und bedrückte ihn.
»Ich verstehe nicht, was das Ganze soll«, hatte er zu seiner Frau
Bríet beim Frühstück gesagt.
»Was was soll?«, fragte Bríet. Sie ging den Dingen immer auf den
Grund.
»Na ja, dieser Beruf«, sagte Randver. »Es wird immer schlimmer und
schlimmer, hässlicher und hässlicher.«
»Das ist ja wohl kaum deine Schuld.«
»Nein, es ist vielleicht niemandes Schuld. Aber ich kann auch nicht
erkennen, dass die Polizei sich besonders nützlich
macht.«
»Was für ein Blödsinn ist das denn?«, fragte Bríet. »Natürlich
macht sich die Polizei überall nützlich. Das sieht doch jedes Kind.
Hat Víkingur dir wieder einen seiner fatalistischen Vorträge
gehalten?« »Nein, ich bin kaum dazu gekommen, mit ihm zu sprechen.
Ich habe ihn natürlich sofort angerufen und gebeten, mit der ersten
Maschine nach Hause zu kommen.«
»Was maulst du denn dann so herum? Ab in die Arbeit mit dir.
Vergiss bloß nicht, wenn du in einem Fernsehinterview landest,
darauf zu achten, dass die Krawatte nicht schief hängt, und steck
dir das Hemd ordentlich in die Hose.«
Die Krawatte hing schief und ein Hemdschoß hing ihm aus der Hose.
Der Gesprächspartner von Randver war jedoch kein Fernsehreporter,
sondern Guðfinnur Bertholdsson, der sich selbst als Gastwirt
bezeichnete, auch wenn alle anderen ihn Puffbesitzer
nannten.
Guðfinnur von Berthold's Baby Doll war der Konkurrent von Elli vom
Octopussy gewesen. Ursprünglich war er der Freund und Kollege von
Elli gewesen, aber dann war die Freundschaft zerbrochen und ihr
Verhältnis war auch nicht besser geworden, als Guðfinnur es wagte,
seinen eigenen Nachtclub zu eröffnen.
Guðfinnur war auf der Polizeiwache erschienen und hatte mit
Víkingur zu sprechen verlangt, und als er nicht vorgelassen wurde,
dann eben mit Randver. Er gab an, eine Anzeige erstatten zu wollen,
und sagte, er wäre es gewohnt, eher mit Vorgesetzten als mit
Untergebenen zu sprechen.
»Wie kommt es, dass jeder in der Stadt darüber spricht, dass ich
Elli vom Octopussy und diese zwei Jungs, die er dabeihatte,
umgebracht haben soll?«, fragte er, ohne zu grüßen, sobald er
Randvers Büro betreten hatte.
»Hast du es getan?«, fragte Randver leise.
Dem Mann blieb vor Empörung die Luft weg. »Habe ich was getan? Bist
du von Sinnen, Mann? Ich habe noch nie jemanden umgebracht und
werde es hoffentlich auch nie tun. Trotzdem pfeifen es die Spatzen
von allen Dächern, dass ich letzte Woche drei Morde begangen habe
oder irgendwelche Ausländer engagiert habe, damit sie Elli für mich
umbringen.«
»Wird denn auch dazugesagt, warum du das getan haben sollst?«
Randver musterte den Mann, der vor ihm stand und den er schon lange
kannte. Guðfinnur hatte als junger Mann mit Bodybuilding angefangen
und war trotz seiner nur 167 cm ein Koloss. Niemand, der noch ganz
bei Trost war, wagte jedoch, Witze über seine geringe Körpergröße
zu machen, weder in seiner Anwesenheit noch anderswo. Alles kann
sich herumsprechen.
Parallel zum Bodybuilding hatte Guðfinnur als Türsteher in dieser
oder jener Diskothek gearbeitet, bis sich sein Weg mit dem von Elli
kreuzte. Von da an waren sie unzertrennlich, bis vor zwei Jahren,
als ihre Freundschaft in die Brüche ging.
Guðfinnur hielt die Frage für nicht beantwortungswürdig. Er fuhr
fort, seine Wut über Randver zu ergießen: »Sogar sein Sohn, dieser
geistig behinderte Idiot, der immer zugedröhnt ist, ruft mich an
und stößt Drohungen aus.«
»Was für Drohungen?«
»Na, dass er dasselbe mit mir macht, was ich mit seinem Papa
gemacht haben soll.«
»Was sollst du denn mit seinem Papa gemacht haben?«, fragte
Randver.
Guðfinnur kam mit dem Schimpfen aus dem Takt und starrte Randver
perplex an. »Ey, ist irgendwas mit dir nicht in Ordnung? Hab ich
nicht gerade gesagt, dass ich den Mann umgebracht haben soll? Und
damit nicht genug, hat der Junior jetzt auch noch die spinnerte
Idee, dass ich ihn als Nächstes umbringen will. Es ist vielleicht
nicht überraschend, dass der Kerl para ist, schließlich hat er nur
Speed und Koks intus, seit er nicht mehr an der Flasche nuckelt.
Das Ganze stimmt von vorne bis hinten nicht. Warum hätte ich Elli
umbringen sollen?«
»Aus Konkurrenzgründen?«
»Man bringt doch keine Leute aus Konkurrenzgründen um«, sagte
Guðfinnur. »Da würde man ja nie zu einem Ende kommen.«
»Ihr habt euch gestritten.«
»Ich habe siebzehn Jahre lang bei ihm gearbeitet«, entgegnete
Guðfinnur. »Ich fand, es war an der Zeit, mein eigener Herr zu
werden.«
»Elli war vielleicht anderer Ansicht. Ich weiß, dass er Leute zu
dir geschickt hat und gedroht hat, dir den Laden dichtzumachen.
Warum hat er das gemacht?«
»Das ist ein Betriebsgeheimnis«, sagte Guðfinnur.
»Machst du Witze?«, fragte Randver.
»Nein, ich mache keine Witze. Meinst du, wir können in unserer
Branche nicht wie in anderen auch Betriebsgeheimnisse
haben?«
»Hör mal, jetzt habe ich aber genug«, sagte Randver und stand zum
Zeichen dafür, dass das Gespräch beendet war, auf. »Du kommst zu
mir und heulst Rotz und Wasser, weil der Junior behauptet, dass du
seinen Vater umgebracht hast, und redest dann von
Betriebsgeheimnissen, wenn ich dich nach eurer Beziehung frage.
Möchtest du, dass wir unsere ganze Untersuchung auf dich und eure
Geheimnisse richten?«
»Jetzt wo Elli tot ist, kann ich es dir ja eigentlich auch
anvertrauen«, lenkte Guðfinnur ein. »Er wollte mich dazu bringen,
Dope für ihn zu verkaufen.«
»Und dann?« »Ich wollte nicht. Ich bin absolut gegen
Rauschgift.«
»Kennst du sonst noch einen Witz?«, fragte Randver.
»Wenn ich Rauschgift verkaufen würde was ich nicht tue , würde
ich keinen Stoff von Elli vom Octopussy verkaufen.«
»Wessen Rauschgift würdest du denn verkaufen?«
»Das tut nichts zur Sache«, sagte Guðfinnur. »Schließlich verkaufe
ich keine Drogen und habe es nie getan und als Allerletztes würde
ich mir die Hände damit schmutzig machen, dieses Speed, das Elli in
Estland herstellen lässt, zu verkaufen.«
»Und das, wo ihr die besten Freunde wart wieso würdest du das
nicht wollen?«
»Es ist einfach kein gutes Produkt«, sagte Guðfinnur.
»Eine Sache ist es, den Menschen zu helfen, sich einen schönen Tag
zu machen, und eine andere, sie umzubringen.«
»Drück dich klar aus, Mann, drück dich klar aus.
Sagst du mir gerade, dass Elli tödliches Rauschgift eingeschmuggelt
und verkauft hat?«
»Ich weiß nichts davon«, sagte Guðfinnur. »Mir ist nur gesagt
worden, dass mehr als einer und auch mehr als zwei Junkies an
dieser Scheiße gestorben sind, die Elli vertrieben hat. Die
Qualität ist so unterschiedlich.
Manchmal ist es in Ordnung, manchmal nicht. Ich möchte betonen,
dass das nicht von mir stammt. Das pfeifen die Spatzen von den
Dächern.«
»Dieselben Spatzen, die sagen, dass du Elli und seine zwei
Handlanger getötet hast?«
»Verdammte Verdrehungen sind das. Man kommt hierher, um Anzeige zu
erstatten, weil ein irrer Junkie damit droht, einen umzubringen,
und dann wird man selbst wegen Mordes angeklagt.« »Du bist
überhaupt nicht angeklagt«, sagte Randver.
»Und wenn schon«, sagte Guðfinnur.
»Nur verdächtig«, fügte Randver hinzu. »Ich danke dir für das
Gespräch. Ich werde mir diese Sache anschauen. Wir melden uns
dann.«
*****
Wie versprochen nahm Ásta Finnsdóttir, Leiterin der Abteilung für
Rauschgiftdelikte, an der Nachmittagsbesprechung teil. Irgendetwas
hatte sie wohl beim Gespräch mit Randver falsch verstanden, denn
sie erschien mit einem Laptop und verwendete einen Beamer, um ihren
Vortrag über den Aufbau und die Arbeit ihrer Abteilung zu
illustrieren.
Das Referat an sich war informativ und ganz gut vorgetragen, aber
am Anfang wirkte es so, als sei es zur Information normaler Bürger
verfasst worden, denn das meiste, was Ásta sagte, wussten ihre
Zuhörer genauso gut wie sie.
Sie begann damit, zu erklären, dass in der Rauschgiftabteilung
zweiunddreißig Polizisten tätig seien und daneben noch zwei
Juristen, die die Untersuchungen begleiteten und sich anschließend
um die Anklagen kümmerten. »Die Polizisten versehen jegliche
Schreibarbeit selbst, denn wir haben keine Sekretärin.« Dieser
während des Vortrags häufig wiederholte Satz war wahrscheinlich ihr
Beitrag zum internen Gerangel um mehr Finanzmittel für ihre
Abteilung.
Wie sich herausstellte, war Ásta sehr wohl bewusst, dass sie zu
ihren Kollegen sprach, denn sie sagte: »Die Hauptaufgabe der
Abteilung für Gewaltdelikte ist, Morde und Gewalttaten zu
untersuchen, und zwar, nachdem sie begangen worden sind. In der
Rauschgiftabteilung ist die Arbeit schon deswegen komplizierter,
weil wir versuchen müssen, die Verdächtigen in genau dem Moment zu
ergreifen, wo sie den Stoff in den Händen haben.
Mörder hinterlassen Leichen, aber in unserer Abteilung haben wir es
mit Tätern zu tun, die die Beweismittel einfach vernichten können,
sie in die Nase hochziehen, aus dem Autofenster werfen oder in der
Toilette herunterspülen können.
Ferner gibt es den folgenden Unterschied zwischen unserer Arbeit
und der der Mordabteilung: Morde sind hierzulande kein Berufszweig,
jedenfalls noch nicht, aber Rauschgiftschmuggel, Vertrieb und
Verkauf von Drogen bilden die weitaus bedeutendste Branche der
sogenannten Unterwelt. Diejenigen, gegen die wir ankämpfen, sind
also größtenteils Profis und manche von ihnen haben schon eine
lange Karriere hinter sich.«
Ásta wies mit einem Laserzeiger auf ein Diagramm, das der Beamer an
die Wand warf.
»Um euch einmal eine Vorstellung davon zu geben, was für ein großes
Problem die Drogenbranche weltweit ist: Der Jahresumsatz auf diesem
Gebiet beträgt mehr als vierhundert Milliarden US-Dollar, das sind
zweiunddreißigtausend Milliarden isländische Kronen oder besser
gesagt zweiunddreißig Billionen Kronen. Dreihundert
Kárahnjúkar-Kraftwerke jedes Jahr. Niemand kennt die genaue Anzahl
derer, die von Drogen abhängig sind, aber eine Kommission der
Vereinten Nationen schätzt, dass es etwa hundertvierzig Millionen
Cannabissüchtige, acht Millionen Heroinsüchtige, dreizehn Millionen
Kokainsüchtige gibt und dann noch weitere dreißig Millionen, die
synthetische Drogen nehmen, wie Amphetamin, Crack und solche
Sachen. Es ist nur eine Schätzung. Eine vorsichtige
Schätzung.
Diese Plage hat sich in Island genauso wie anderswo eingenistet.
Hier seht ihr die Entwicklung: Im Jahr 1971, in der Hippiezeit,
wurde ein bisschen Hasch geraucht.
Im Jahr 1985 war Speed schon ziemlich verbreitet und es kam vor,
dass man ein klein wenig Kokain >für Weihnachten< oder für
Festlichkeiten besaß. Aber die Kurve weist steil nach oben. Im
darauffolgenden Jahr, 1986, hat die Rauschgiftabteilung vierhundert
Gramm Kokain beschlagnahmt. Von da an verschlechterte sich die Lage
kontinuierlich. Ecstasy kam ernsthaft ab 1992 ins Spiel und von dem
Zeitpunkt an, kann man sagen, haben wir keine Ruhe mehr gehabt.
Hier kommen alle möglichen und unmöglichen Drogen an. Die
Cannabisstoffe haben ihren Konsumentenkreis, der jedoch
veränderlich ist, weil so viele dann zu Speed und Koks
wechseln.
Bitte beachtet, dass ich keine Unterscheidung zwischen sogenannten
harten und weichen Drogen mache.
Manch einer behauptet, Cannabis sei weich und keinesfalls
gefährlicher als zum Beispiel Tabak. Doch die meisten
Untersuchungen von Cannabisstoffen weisen darauf hin, dass sie viel
schädlicher sind als wir, die wir uns noch an die Hippiezeit
erinnern können, gerne glauben möchten.
Der Zoll ist natürlich hilflos. Seine Hauptaufgabe ist es, die
fälligen Zölle und Importgebühren bei legalen Waren zu kassieren.
Der Zoll des Flughafens in Keflavík ist dennoch äußerst nützlich.
Zumindest zeigt er den Menschen, dass man nicht einfach mit Koffern
voller Rauschgift ins Land einreisen kann. Mit den Containern haben
wir ein größeres Problem. Es sind so viele, dass es ausgeschlossen
ist, in mehr als vielleicht einen von hundert hineinzuschauen. Die
Regierung hat auch kein Interesse an einer strengeren Zollfahndung.
Drei Jahre lang bitten wir nun schon um ein Durchleuchtungsgerät,
durch das Container gerollt werden können und das ungeheuer
nützlich wäre. Wir bekommen keine Gelder dafür.«
Diese Bemerkung weckte Sympathie bei Kriminalpolizist Marinó, der
ansonsten ein begrenztes Interesse an Straftaten hatte.
»Davon kann ich ein Lied singen«, brummte er. »Ich weiß nicht, seit
wie vielen Jahren ich jetzt schon eine neue Kaffeemaschine für
unsere Abteilung beantragt habe.
Aber es ist nicht eine Krone übrig in der Staatskasse, nachdem
allen Politikern gute Bezüge und gute Renten zugesichert worden
sind.«
Ásta tat so, als hörte sie Marinós Anmerkung nicht.
Sein Interesse an dem Thema war niemandem verborgen geblieben, der
bei der Polizei arbeitete. Sie fuhr mit ihrem Bericht fort: »Zur
schwierigsten Aufgabe von Eltern und Erziehern ist es geworden, zu
gewährleisten, dass die Kinder das Teenageralter überstehen, ohne
drogenabhängig zu werden. Die Menge ist groß genug, dass jede
Familie, zumindest hier im Stadtgebiet, jemanden kennt oder mit
jemandem verwandt ist, der ein ernsthaftes Drogenproblem hat oder
hatte.« Hier machte Ásta eine Pause und schaute die Menschen an,
die im Besprechungsraum saßen, als erwartete sie, dass jedem ein
Junkie in seinem nächsten Umfeld einfiele.
Randver nutzte die Gelegenheit, um den Vortrag zu
unterbrechen.
»Das sind ja alles nützliche Hintergrundinformationen, die ein sehr
genaues und erschreckendes Gesamtbild der Lage geben, aber ich
weiß, dass viele Anwesende die Frage stellen möchten: Weiß die
Rauschgiftabteilung, ob Elli vom Octopussy und die Geldeintreiber,
die bei ihm waren, auf irgendeine Art und Weise mit Drogen in
Verbindung standen und wenn ja, wie?«
Ásta verstand sofort, dass Randver sie antreiben wollte, zum Punkt
zu kommen. Sie sagte: »Das ist selbstverständlich eine gute Frage,
aber ich hatte mir gedacht, ich widme mich ihr nachher. Es gibt
noch ein oder zwei Aspekte, die ich nennen will, um das Gesamtbild
zu verdeutlichen.
Ich sagte bereits, dass wir es mit Profis zu tun haben.
Damit meinte ich nicht, dass die Drogenhändler oder Schmuggler
nicht auch andere Berufe ausüben könnten auf dem Papier
zumindest. Was ich meinte, ist, ein normaler Bürger, der ein Kilo
Kokain auf dem Bürgersteig findet, hätte, ohne Verbindungen zu
solchen Leuten zu haben, große Schwierigkeiten, es an den Mann zu
bringen.
In früheren Jahren wurde einigen Leuten, von denen die
Allgemeinheit fand, dass sie erstaunlich schnell zu Vermögen
gekommen waren, nachgesagt, den Drogenschmuggel zu finanzieren. Wir
haben dafür keine Beweise, aber es ist nicht unwahrscheinlich, dass
einige Leute das als eine spannende Art von Risikokapital
betrachteten. Andererseits ist es unwahrscheinlich, dass dieselben
Beteiligten den Drogenhandel über längere Zeit finanzieren. Dazu
ist der Markt hierzulande einfach nicht groß genug. Man kann,
gemessen an normalen Angestelltenlöhnen, beträchtliche Gewinne
einfahren, aber sobald jemand sein Vermögen in Milliarden
beziffert, ist das Schmuggeln von Drogen in ein so spärlich
besiedeltes Land nicht mehr lukrativ, wenn man das Risiko
miteinbezieht. Diejenigen, die den Drogenschmuggel als ihren Beruf
betrachten, müssen Geschäftsbeziehungen ins Ausland haben. Manche
haben feste Großhändler.
Abgesehen von den Handelsbeziehungen, die sich normalerweise leicht
auftun, muss ein professioneller Drogenschmuggler irgendeine Art
von Geldwäschemöglichkeit für seine Einnahmen haben. Er muss eine
Firma besitzen oder Verbindungen zu einer Firma haben, die genug
Gewinn macht, um die gute finanzielle Lage zu erklären, also eine
Gaststätte, eine Reinigung, ein Fitnessstudio oder irgendeine
andere unschuldige Einkommensquelle.«
»Und was ist mit einem Puff?« Terje konnte nicht länger schweigend
dasitzen und unterbrach Ásta mit diesem Zwischenruf.
»Selbstverständlich. Ein Bordell fällt natürlich unter die Rubrik
Gaststätte. Und damit bin ich beim letzten Punkt meines allgemeinen
Vortrags über die Lage bei den Rauschgiftdelikten angekommen.
Obgleich der isländische Markt klein ist, ist damit nicht gesagt,
dass es nur der eine oder andere Junkie ist, der den Schmuggel
aufrechterhält. Ganz im Gegenteil. In den letzten Jahren haben wir
mehrfach Anzeichen dafür gesehen, dass starke Beteiligte aus dem
Ausland Interesse daran gezeigt haben, hier Fuß zu fassen. Erstens
die Hells Angels aus Dänemark, die wir durch die gute
Zusammenarbeit mit dem Nachrichtendienst außerhalb unserer
Landesgrenzen halten konnten. Zweitens scheint es so, dass hier
eine bemerkenswerte Menge von Drogen aus den Ostseeanrainerstaaten
ins Land kommt. Und damit bin ich zu der Frage gekommen, die
Randver eben gestellt hat.
Die Frage kam auf, ob Elli vom Octopussy und die Männer, die mit
ihm gefunden wurden, mit Drogen in Verbindung gestanden haben, und
wenn ja, auf welche Art.
Diese Frage kann man sowohl lang als auch kurz beantworten. Die
kurze Antwort ist einfach Ja. Ævar Guðbergsson und Jóhann Baker
sind beide wegen Drogenmissbrauchs vorbestraft. Elías ist nie in
Zusammenhang mit Drogen geschnappt worden, wenn man
Führerscheinentzug wegen Alkohols am Steuer nicht
mitzählt.
Aber den Anwesenden gegenüber kann ich bestätigen, dass Elías mehr
als nur eine Verbindung zu Drogen hatte. Wir haben den sehr
fundierten Verdacht, dass er in großem Stil Amphetamin ins Land
geschmuggelt hat.
Wir können in etwa auch den Zeitpunkt benennen, wann er damit
begonnen hat. Das war vor gut zwei Jahren.
Zu der Zeit importierte er Baumaterial aus Estland, und zwar in
Containern. Denkbar, dass er dort im Osten mächtige Partner, egal,
ob es sich um Russen oder Esten handelt, kennengelernt hat, indem
er sich von ihnen Prostituierte auslieh, die er dann wiederum
hierzulande als sogenannte Revuetänzerinnen weitervermittelte. Und
damit reden wir von zwei weiteren Straftaten, nämlich einem Bruch
der Sittengesetze und knallhartem Menschenhandel.«
Für die anwesenden Polizisten war es keine Neuigkeit, dass
Rauschgift, Prostitution und Menschenhandel oft Hand in Hand gehen,
aber Ásta hatte sich die wichtigste Nachricht bis zum Schluss
aufgehoben.
»Darüber hinaus weist vieles darauf hin, dass Elli der Teilhaber
oder Mitbesitzer eines Amphetaminlabors in Estland gewesen ist, das
wohlgemerkt vor ein paar Tagen bis auf die Grundfesten
niedergebrannt worden ist. Auf dem Gelände wurden sieben Leichen
gefunden, wenn ich mich recht erinnere; eine war wahrscheinlich aus
der Gruppe der Angreifer, die anderen jedoch Wächter und
Angestellte des Labors.«
Wer bei der Besprechung kurz vor dem Eindösen gewesen war, sperrte
jetzt seine Ohren auf, setzte sich auf seinem Stuhl aufrecht hin
und tauschte mit den anderen Bemerkungen aus.
»Nicht den Faden verlieren«, sagte Randver, und kaum hatte er es
gesagt, merkte er, dass diese Redewendung im Gespräch mit einer
modernen Frau vielleicht nicht ganz glücklich gewählt
war.
»Das ist noch nicht die ganze Geschichte«, erwiderte Ásta trocken.
»Hier sind einige Fotos vom Tatort mit der Frage, ob wir
irgendwelche der Leichen identifizieren können. Die Fotos bekamen
wir heute in aller Herrgottsfrühe zugeschickt. Estland ist uns wohl
mit der Zeit zwei oder drei Stunden voraus. Da seht ihr auch das
Gekritzel, von dem die Esten meinen, dass es an nordische
Runenschrift erinnert. Sie vermuten, dass die Angreifer das
hinterlassen haben. Auf die Schnelle scheint es mir dem Gekritzel
zu ähneln, das ihr in Þingvellir gefunden habt.«
Dieser Vortrag, der so öde begann, hatte vor seinem Ende doch noch
das Interesse aller Anwesenden geweckt, das muss man
sagen.