Vierzehn


Innerhalb von vierundzwanzig Stunden hatte sich alles verändert. Die Frau, die er liebte und der er vertraute, sein bester Freund auf der ganzen Welt, war sein Gegner geworden. Verlogen, hinterlistig, unberechenbar.


Nein, Þórhildur war nichts von all dem. Im Moment war sie anders als sonst. Sie war krank und es war seine Aufgabe, ihr zu helfen.


Aber sie gestand sich nicht ein, krank zu sein, und noch weniger, dass sie Hilfe benötigte.


Wenn er ihr verbot, zur Arbeit zu gehen, und einen Drogentest von ihr verlangte, war das gleichbedeutend mit einem Rauswurf aus dem Job, falls der Drogentest ein positives Ergebnis brachte.


Seine Aufgabe war nicht, sie zu zerbrechen, sondern sie zu schützen und zu stützen.              


Dennoch gehörte es zu seinem Beruf, darauf zu achten, dass alle seine Untergebenen den Gesetzen entsprechend arbeiteten. Die Dienstpflichtverletzung eines Untergebenen im Job zu decken, war schlecht. Den Gesetzesbruch seiner Ehefrau zu decken war unverzeihlich.


Er versuchte, klar zu denken.


Þórhildur war eine passive Abhängige. Sobald sie begann, Drogen zu nehmen, wurde sie zu einer aktiven Abhängigen, die nach mehr Drogen verlangte. Ein Drogensüchtiger mit Drogen ist ein Kranker mit einer Krankheit, die ihn dazu bewegt, Gesetze zu brechen, und wer einem solchen Kranken hilft, macht sich des gleichen Vergehens schuldig.


Seiner Ehefrau nicht zu helfen, wenn sie krank ist und nicht weiß, was sie tut, ist falsch und gemein.


Er betätigte die Toilettenspülung, sodass das Pulver und die Pillen verschwanden. Mit einem Handgriff hatte er Beweismaterial vernichtet, das seine Frau und ihn die Anstellung hätte kosten können.


Korruption?


In der Not bricht man Gesetze ...


*****


Morgens erwachte Þórhildur noch vor Víkingur, stand vorsichtig auf, um ihren Ehemann nicht zu wecken, und begab sich ins Bad. Sie sah sofort, dass ihre Medikamente aus der Handtasche entfernt worden waren. Was hatte sie sich nur dabei gedacht, die Tasche einfach herumliegen zu lassen?


Sie ging wieder in den Flur, lauschte an der Tür des Schlafzimmers und versicherte sich, dass ihr Mann im Tiefschlaf lag. Zog eine Schublade in der Küche heraus, die Mehl, Zucker und verschiedene Backzutaten enthielt.


Tastete an ihrer Unterseite nach etwas und riss ein Plastiktütchen ab, das mit Klebeband am Boden der Schublade befestigt war. Sie ging wieder ins Bad und schloss hinter sich ab.


Þórhildur schüttete den Inhalt des Tütchens in ihre offene Hand. Nahm sich vier Ritalin-Tabletten. Steckte sie in den Mund und spülte mit einem Schluck Wasser aus dem Kran nach.


Dann nahm sie eine Dusche.


Víkingur war aufgewacht, als Þórhildur in der Schlafzimmertür erschien. Sie hielt eine Kaffeetasse und einen kleinen Teller, auf dem zwei Toastscheiben lagen, in der Hand.


»Das ist eine offizielle Entschuldigung«, sagte sie.


»Kaffee und Frühstück im Bett. Nur schade, dass wir nichts anderes dahaben als Marmelade. Kein Käse. Der Kühlschrank ist völlig leer. Einer von uns muss heute zum Bónus gehen.«


»Wie geht es dir?«, fragte Víkingur.


»Ich weiß es eigentlich nicht«, sagte Þórhildur. »Mir geht es wahrscheinlich besser, als ich verdient habe.«


»Hör mal«, sagte Víkingur. »Wir müssen miteinander reden. Ich habe mir gestern Nacht, als ich nach Hause kam, deine Handtasche angeschaut.«


»Das habe ich gesehen«, sagte sie. »Ich stand neben mir.«


»Offensichtlich«, sagte Víkingur. »Du weißt doch, was es bedeutet hätte, wenn du beim Zoll mit Drogen im Gepäck erwischt worden wärst? Für uns beide?«


»Ja, ich weiß. Es ist nicht zu entschuldigen.« Þórhildur ergriff seine Hand. Sie war den Tränen nahe. »Ich verstehe nicht, was mit mir los war. Ich habe einfach plötzlich alles aufgegeben. Konnte nicht mehr.«


»Wann?«


»In Amsterdam. Gestern, nein, vorgestern. Es war, als würde die Welt über mir zusammenbrechen.«


Víkingur schaute sie an. Im nächsten Moment würde sich zeigen, ob sie vorhatte, die Wahrheit zu sagen, oder ob sie das Täuschungsspielchen fortführen wollte.


»Hattest du denn vor dem Zeitpunkt vorgestern nicht daran gedacht, Drogen zu nehmen?«


»Nicht, um mich in einen Rausch zu versetzen«, sagte Þórhildur. »Ich weiß nicht, ob du das für Drogenkonsum hältst, wenn man Schmerzmittel nimmt, um einschlafen zu können, denn das habe ich ein paarmal gemacht.«


»Und sonst nichts?«


Þórhildur schaute ihrem Mann in die Augen. Die Freude war aus ihrem Gesicht gewichen. Sie nahm einen verletzten Ausdruck an. Traurig darüber, Misstrauen zu begegnen, wo sie doch gekommen war, um offenherzig über die Dinge zu sprechen.


»Du musst doch verstehen, warum ich frage. Es ist nicht so, als wäre nichts passiert. Erst dieser Vorfall in Amsterdam. Dann dieser erstaunliche Aussetzer deines Urteilsvermögens, dass du mit Drogen in der Handtasche nach Island heimkehrst.«


»Was soll ich sagen?«, fragte sie. »Ich habe bereits um Entschuldigung gebeten. Ich verstehe nicht, wie das passieren konnte. In meinem Leben sind halt einige Dinge vorgefallen, wegen dieser Sache mit Magnús, aber ich weiß, dass das keine Entschuldigung sein kann. Mir ist es so unendlich schlecht gegangen. Menschen nehmen Medikamente ein, damit es ihnen nicht so schlecht geht, und ich habe das genommen, was ich brauchte, um einschlafen und mich tagsüber zusammenreißen zu können. Natürlich habe ich in der letzten Zeit Tabletten genommen, aber ich habe keine Medikamente missbraucht. Nicht bis vorgestern. Da bin ich rückfällig geworden.«


»Ist das nicht ein Hinweis dafür, dass es unachtsam von dir ist, Beruhigungs- oder Aufputschmittel zu nehmen, selbst wenn du sie benötigen solltest?«


Þórhildur dachte nach: »Weißt du, ich glaube, ich wäre schon lange durchgedreht oder in der Psychiatrie gelandet, wenn ich nicht ein paar Tabletten gehabt hätte, um mir zu helfen, sodass ich es für ziemlich fragwürdig halte, den Medikamentenkonsum für diesen Vorfall verantwortlich zu machen. Wir waren einander so fern, wir haben nicht mehr miteinander geredet, alles wegen dieser Situation mit Magnús.«


»Ja, aber ...«, sagte Víkingur.


»Lass mich bitte ausreden«, sagte sie. »Ich weiß, dass es meine Schuld war. Ich habe mich in mein Schneckenhaus zurückgezogen, wollte oder konnte dich nicht mit diesen Sorgen belasten.«


»Mein Schatz«, sagte er und umarmte sie. »Wir müssen miteinander reden können. Du musst mir sagen, was du denkst. Wir müssen zusammenhalten.«


»Das weiß ich«, sagte Þórhildur. »Manchmal wird man aber in sich selbst eingeschlossen wie ein Tier in einem Käfig. Ich muss mit dir sprechen können.«


»Wir sprechen doch gerade miteinander«, sagte er. »Du darfst dich nicht abkapseln. Wir schaffen das zusammen.«


Sie lächelte und Víkingur spürte die Eisnadeln in seiner Brust schmelzen. Seine Frau strahlte. Sie schien wieder sie selbst zu sein.


»Aber«, sagte er, »brauchst du denn keine Hilfe? Einen Entzug? Oder kann dir mit irgendeiner Beratung geholfen werden?«


»Du hilfst mir«, sagte sie. »Wir halten zusammen. Ich brauche niemand anderes als dich.«


»Ich habe einfach so wenig Ahnung von Abhängigkeit«, entgegnete er.


»Du hast Ahnung von mir«, sagte sie. »Ich werde auch einen Termin bei den Anonymen Alkoholikern machen, wenn ich Zeit dafür habe. Die haben viele gute Berater.«


»Das gefällt mir«, sagte Víkingur. »Zögere es nicht hinaus. Mach am besten noch heute einen Termin.«


»Heute nicht«, sagte Þórhildur. »Heute wird ganz schön anstrengend. Mindestens drei Obduktionen erwarten mich. Zu dumm, dass ich gestern nicht mit dir gefahren bin, um den Tatort anzusehen. Aber das ist ja hoffentlich alles von vorne bis hinten abfotografiert worden. Kannst du mir die Tatort-Fotos schicken lassen, sobald du da bist?«


»Ja, natürlich. Außerdem war ja auch noch der da, der dich vertreten sollte, während du im Ausland warst. Wie heißt er noch?«   

 


»Svenni, also Sveinn heißt er. Er ist ein fähiger Kerl, auch wenn er vielleicht ein bisschen wie ein Sonderling wirkt. Er ist nicht direkt mein Stellvertreter, sondern er macht bei mir eine Fortbildung in forensischer Medizin.«


»Auf jeden Fall hat er den Stock gesehen, der Elli vom Octopussy hinten reingeschoben worden ist. Kommt das Pfählen irgendwie in Mode in den gewalttätigen Kreisen?«


Þórhildur sah ihn überrascht an, also erklärte Víkingur ihr das Wichtigste, was sie bei der Untersuchung des Tatorts gestern herausgefunden hatten.


»Wir können nicht ausschließen, dass es sexuelle Motive gibt«, sagte Víkingur. »Viele bringen Elli vom Octopussy mit Prostitution und Sklavenhalterei in Verbindung.«


»Und der Sturmtrupp kriegerischer Feministinnen wollte ihm die Gelegenheit geben, auszuprobieren, wie das ist, sich einen Fremdkörper in den eigenen Körper stecken zu lassen«, sagte Þórhildur und schauderte.


»
Cherchez les femmes?«, fragte Víkingur. »Wohl kaum.


Verbrechen sind immer noch ein Gebiet, auf dem Männer die Regie führen und Frauen die Nebenrollen spielen.


Genau wie in der Politik oder in der Geschäftswelt. Ohne dass ich etwas ausschließen kann, ist es doch am wahrscheinlichsten, dass das mit Streitigkeiten um Drogenhandel oder -schulden zusammenhängt.«


»Wo wir von Schulden sprechen, da gibt es noch etwas, was ich dir noch nicht gesagt habe«, sagte Þórhildur. »Ich habe einen kleinen Kredit aufgenommen, um eine Sache wieder hinzubiegen.«


Víkingur war bass erstaunt.


»Du musstest einen Kredit für die Drogen aufnehmen?«


»Nein, du verstehst mich falsch. Ich habe den Kredit für Magnús aufgenommen. Ihm waren irgendwelche Übeltäter auf den Fersen.«


»Ich kann es nicht fassen«, sagte Víkingur. »Warum hast du mir nichts davon gesagt? Geldeintreiber soll man nicht bezahlen, sondern sie anzeigen.«


»Hätte ich mich weigern sollen, meinem Sohn zu helfen, und ihm sagen, er solle sich an die Polizei wenden?«, fragte Þórhildur. »Ich habe nur getan, was jede andere Mutter auch tun würde. Sie hätten ihn umgebracht, wenn er nicht bezahlt hätte.«


»Wie viel Geld hast du ihm gegeben?«


»Ach, daran erinnere ich mich jetzt nicht. Können wir nicht später darüber sprechen? Manchmal ist es echt ganz schön schwierig, offen und ehrlich zu dir zu sein.«


Víkingur schwieg und schaute seine Frau an.


»Warum glotzt du mich so an?«, fragte Þórhildur.


»Ich bin einfach froh, dass du wieder da bist«, sagte Víkingur. »Froh, dass du wieder so bist, wie es deine Art ist. Du hast mir Angst gemacht. Es war, als wäre jemand anderes an deine Stelle getreten ­ eine unbekannte Person anstelle der Frau, die ich liebe.«


»Bist du dir sicher, dass du mich liebst?«, fragte Þórhildur. »Ich bin ein Mängelexemplar. Ich bin eine unheimlich labile Person.«


»Musst du mich das fragen?«


»Ja.«


»Ich kenne niemanden, der frei ist von Schwäche, und das Mängelexemplar ist mir nie zuvor begegnet, bis jetzt plötzlich in Amsterdam. Und es ähnelt dir nicht im Geringsten. Die Frau, die ich kenne, ist ehrlich und sagt immer die Wahrheit. Wahrheit ist für mich Liebe.«              


»Wie tugendhaft du bist. Du erwähnst weder schöne Augen, eine schlanke Taille, straffe Brüste noch Kaffee, der ans Bett gebracht wird.«


»Also dieser Kaffee ist nichts Besonderes«, sagte Víkingur. »Aber ich meine das mit der Wahrheit ernst.


Wenn die Wahrheit verloren geht, dann ersetzt auch kein Kaffee, den man ans Bett bekommt, die Liebe. Entweder sagen wir uns immer die Wahrheit oder nicht. Das ist Liebe. Wenn du den Rausch brauchst, dann sag mir das.


Ich kann mit allem umgehen außer Unwahrheiten. Sei einfach immer ehrlich zu mir. Das ist Liebe.«


»Das mache ich«, flüsterte Þórhildur.


»Kann ich darauf vertrauen?«


»Ja, immer«, sagte sie. »Ich liebe dich, alter Kerl. Sind wir jetzt wieder die besten Freunde auf der ganzen Welt?«


»Ja, und auch darüber hinaus«, sagte Víkingur.


Þórhildur lächelte ihn an.


In ihrer Tasche umklammerte sie ein Tütchen mit vierzehn weißen Tabletten.