Er duschte. Als er im Kleiderschrank nach sauberen Anziehsachen
suchte, vergaß er sich und begann, Kleider von Þórhildur
herauszusuchen, um ihren Geruch, den Duft zu finden, in der
Hoffnung, sich an eine Berührung mit ihr zu erinnern.
Den Duft fand er, nicht an den Kleidern, an ihnen haftete kein
Geruch, sondern die Erinnerung erschien seinen Sinnen und er stand
in der Mitte des Raumes mit geschlossenen Augen und hoffte, dass
die Inhaberin des Duftes erscheinen würde, wenn er sie wieder
öffnete. Er legte sich aufs Bett, nahm ihre Bettdecke in die Arme
und weinte lautlos, bis der Schlaf ihn kurz aus den Fesseln der
Trauer befreite.
Als er aufwachte, spürte er, wie nass das Kissen war, und begriff,
dass er sich in den Schlaf geweint hatte. Er war viel zu früh
eingeschlafen, denn ein Ozean von Tränen war noch
ungeweint.
*****
Am Arbeitsplatz war das Mitleid fast unerträglich.
Was gibt es Neues von Þórhildur?
Nichts. Alles noch wie vorher.
Keine Veränderung?
Er schüttelte den Kopf, traute sich nicht zu sagen: »Nein«, aus
Angst, die Stimme könne ihm versagen.
*****
Randver sah, wie es ihm ging, und rettete ihn in sein
Büro.
»Was schleichst du denn hier herum? Du sollst nicht mal in die Nähe
des Büros kommen, bevor Þórhildur sich erholt hat.«
Erholt hat. Wie von einer Erkältung oder einer Grippe.
»Ich weiß gar nicht, was ich hier mache. Ich bin kurz nach Hause
gefahren und habe es da auch nicht ausgehalten.«
Randver wollte am liebsten vom Schreibtisch aufstehen und seinen
Freund umarmen. Stattdessen sagte er: »Soll ich uns einen Kaffee
holen?«
»Nein, danke. Ich möchte im Moment keinen Kaffee.«
»Tee?«, fragte Randver verzweifelt und hoffte, ihm würde etwas
Passendes zu sagen einfallen, etwas, das seinem Freund Kraft
spenden könnte.
Ihm fiel nichts ein.
»Ach, hör mal, bevor ich es vergesse: Irgendein Herr von Durendoff
von der holländischen Polizei hat versucht, dich zu erreichen. Er
bittet um einen Rückruf, wenn du Zeit hast.«
»Van Turenhout?«
»Ja. Er bat mich, dir auszurichten, dass der Mann, bei dem Joe
Diesserson zur Miete wohnte ...«
»Joe Diesserson? Jódísarson? Ársæll Jódísarson. Die Leiche, die er
uns auf dem Flughafen gezeigt hat.«
»Ja, natürlich Jódísarson. Der Sæli. Ja, jetzt verstehe ich, wovon
der Mann geredet hat. Nur, dass von Durendoff von diesem Vermieter
gesagt bekam, dass Sæli auf der Flucht vor Magnús gewesen
sei.«
»Magnús?«
»Ja, Magnús, den Namen habe ich auf jeden Fall richtig verstanden,
auch wenn ich es mit dem Ausländisch nicht so habe. Magnús, den ihr
in Holland gesucht habt. Er ist offensichtlich kurz vor euch dort
gewesen. Und damit nicht genug, der Vermieter sagte auch, dass
Magnús behauptete, er sei dort im Auftrag irgendeiner Vereinigung,
die so gefährlich sei, dass Motorradgangs dagegen wie ein Lions
Club wirkten.«
»Moment mal. Dieser Vermieter hat Magnús getroffen?«
»Nein, das wohl nicht, aber die Mieter berichteten ihm von dem
Besuch«, sagte Randver. »Magnús und zwei andere kamen und haben
sich in dem Haus nach Ársæll erkundigt mit ziemlichem Radau, wie
es scheint. Sæli hatte das Glück, nicht zu Hause zu sein, und als
er erfuhr, dass drei Männer nach ihm gesucht hätten, war er ganz
schnell wieder verschwunden, natürlich ohne seine Mietrückstände zu
begleichen. Er muss einen Schrecken bekommen haben, als er seinen
Verfolgern dann auf dem Flughafen Schiphol wohl in die Arme lief,
wohin er vermutlich gegangen war, um sich abzusetzen.«
»Wer waren die anderen beiden?«
»Das scheint der holländische Polizist nicht zu wissen.
Magnús war der Einzige, der seinen Namen nannte, und die
Beschreibung der anderen ist nicht sehr hilfreich. Das Einzige,
worin sich die Leute einig waren, ist, dass der eine dick gewesen
sei und der andere dünn.«
»Isländer?«
Randver zuckte mit den Schultern. »Wir wissen nichts über sie, nur,
dass sie mit Magnús unterwegs waren, der eine dick, der andere
...«
»Dünn«, sagte Víkingur.
»Exakt«, sagte Randver. Er freute sich, dass er es anscheinend
geschafft hatte, Víkingurs Interesse an etwas zu wecken und ihn für
kurze Zeit von der enormen Bürde zu befreien, die unerträglich sein
musste.
»Was sagt uns das?«, fragte Víkingur und schaute Randver an, der
aus langjähriger Erfahrung wusste, dass keine Antwort erwartet
wurde. »Das sagt uns, dass Magnús in Holland war und, gemeinsam mit
seinen zwei unbekannten Kumpels, Ársæll Jódísarson auf dem
Flughafen Schiphol erledigt haben könnte. Das bedeutet, dass Magnús
und seine Kollegen dieses LT-Runenzeichen auf der Stirn von Sæli
hinterlassen haben könnten. Was bedeutet, dass dieselben Täter die
Leute in Estland umgebracht und das Amphetaminlabor in Brand
gesetzt haben könnten, weil sich dort dasselbe Zeichen, ergänzt um
ein Nazisymbol, fand.«
»Vier und R«, schob Randver ein. »Und der Vogel, ob es nun eine
Friedenstaube, der Phönix oder der Reichsadler ist«, sagte
Víkingur. »Gut.
Im Prinzip unterliegen beide Fälle nicht unserer Gerichtsbarkeit.
Wir wissen, dass Magnús noch lebte, als die Morde in Þingvellir
verübt wurden ...«
»In Grafningur«, korrigierte Randver und augenblicklich gab ihm der
Blick Víkingurs zu verstehen, dass es sich dabei kaum um etwas
Wesentliches handelte.
»In Grafningur finden sich dann diese zwei Symbole noch einmal,
also L und T und der gute Vogel, aber keine Nazisymbolik. Was
bedeutet, dass Magnús an vier Mordfällen beteiligt gewesen sein
kann.«
»Drei«, sagte Randver.
»Vier«, wiederholte Víkingur. »Vergiss nicht die Leiche, die im
Rotterdamer Hafen gefunden wurde. Wenn diese Morde in Zusammenhang
stehen, dann war das der erste Mord der Serie, auch wenn wir weder
wissen, wer ermordet wurde, noch weshalb. Wir wissen auch, dass
Magnús bereits verstorben und obduziert war, als der letzte Mord
geschah, und deswegen kann er Auður Sörensen nicht getötet haben.
Dennoch war es ein Mord unter ähnlichen Vorzeichen. Runen. L und T.
Eine Pfählung. Die Runen tauchen jedes Mal auf, aber die Methoden
sind verschieden und auch die Symbole sind nicht immer die
gleichen.«
»Es gibt ziemlich viele Tote«, sagte Randver. »In Estland meint die
Polizei, die Überreste von sechs oder sieben Leichen in den
verkohlten Ruinen gefunden zu haben. Zwei Tote in Holland, einer
davon ganz sicher ein Isländer. Drei im Sommerhaus und dann die
Anwältin.
Das macht insgesamt dreizehn Morde. Auch wenn es vielleicht keine
Rolle spielt, dann ist es aber doch beispiellos, dass ein Isländer
so viele Morde begangen haben soll, zumindest in der heutigen
Zeit.« »Daraus können wir kaum Schlüsse ziehen«, sagte Víkingur.
»Wir können uns aber vielleicht damit trösten, dass die meisten
dieser Menschen im Ausland getötet wurden und diese Morde uns
strenggenommen nicht betreffen. Unter unsere Gerichtsbarkeit fallen
nur vier.«
»Auch mehr als genug in einem Land, das im Jahr durchschnittlich
auf nicht einmal zwei Morde kommt«, bemerkte Randver.
»Ach was, du sprichst vom vergangenen Jahrhundert«, sagte Víkingur.
»Im 21. Jahrhundert liegen wir weit über diesem
Schnitt.«
Randver fuhr störrisch fort: »Nichtsdestotrotz haben wir Isländer
keinen gefassten und noch lebenden Mörder, der mehr als zwei Morde
auf dem Kerbholz hat. Was sagt uns das?«
»Das sagt uns gar nichts«, sagte Víkingur. »Außer dass wir ein
kleines Volk sind.«
»Exakt«, sagte Randver. »Wir sind ein winziges Volk.«
»Wie klein das Volk ist, spielt keine Rolle«, sagte Víkingur.
»Isländische Mörder haben ein gleich großes oder kleines Gehirn und
gleich viele Arme und gleich viele Füße wie die Mörder in China
oder Amerika.«
»Ich habe noch nie von chinesischen Mördern gehört«, witzelte
Randver.
Víkingur lächelte.
»Heißt es nicht, dass Mao Tse-tung mehr Menschenleben auf dem
Gewissen haben soll als jeder andere, der je auf dieser Erde
geboren wurde?«
»Das war natürlich nicht Mord, sondern Totschlag«, sagte Randver.
»Außerdem hat er diese ganzen Millionen nicht mit eigenen Händen
getötet, sondern hat andere die Drecksarbeit erledigen lassen. Was
ich meine, ist: Auch wenn nicht mehr als vier dieser Morde uns
etwas angehen, finde ich es trotzdem unwahrscheinlich, dass der
Täter ein Isländer ist sofern es sich überhaupt in allen Fällen
um denselben Täter handelt.«
»Und woran machst du fest, dass der Täter kein Isländer
ist?«
»Wenn wir uns nur auf diese vier Morde konzentrieren, erscheint mir
vieles daran ungewöhnlich und fremd.
Erstens wirken sie wie geplante Hinrichtungen. Das sind wir so
nicht gewohnt. Meistens werden die Morde im Jähzorn begangen ohne
jede Planung. Wenn der Mörder sieht, was er getan hat, versucht er
verzweifelt, die Sache zu vertuschen, meistens, indem er die Leiche
versteckt.
Zweitens gab es in Island bisher keinen Mörder, der irgendwelche
Zeichen oder Botschaften am Tatort hinterlassen hat, außer in dem
einem Fall, wo es sich um einen geistesgestörten Mann
handelte.
Drittens diese Pfählung. Woher sollten Isländer plötzlich eine
solche Idee haben?«
»Aus Kinofilmen, Comics, Computerspielen. Aus der modernen Zeit,
die sich immer weiter von unserer eigenen Erfahrungswelt entfernt«,
sagte Víkingur. »Die Mode oder, mit anderen Worten, der Zeitgeist
spielt in vieles mit hinein.«
»Das kann gut sein«, sagte Randver. »Worauf ich hinauswill, ist,
dass dieser Mord eher auf organisierte Kriminalität hinweist als
auf den Stil der Einzeltäter, mit denen wir es bisher zu tun
hatten. Organisierte Kriminalität ist so gut wie unbekannt in
Island, wenn man die kurzfristige Zusammenarbeit verschiedener
Beteiligter beim Schmuggel und Verkauf von Drogen mal ausnimmt.«
»Da bist du, glaube ich, beim Kern der Sache angelangt«, sagte
Víkingur. »Was alle diese Fälle verbindet, außer Symbolen und
Runen, ist, dass sie auf die eine oder andere Weise mit Rauschgift
zu tun haben.«
Randver nickte, fragte dann aber: »Wie verbindest du den Torso, der
im Rotterdamer Hafen gefunden wurde, mit Drogen?«
Víkingur winkte ab.
»Da hast du recht. Ich habe dafür keine Beweise. Können wir uns
nicht darauf einigen, dass eine Leiche von dreizehn die Ausnahme
ist, die die Regel bestätigt?«
»Aber Auður Sörensen hat doch nicht mit Drogen
gehandelt?«
»Nein, aber sie war die Anwältin eines Mannes, dem Drogenhandel
nachgesagt wird. Das ist der Zusammenhang.«
»Wenn dieser Zusammenhang sie das Leben gekostet hat, ist es dann
nicht ein Hinweis darauf, dass diese Morde sich um etwas anderes
drehen als Machtkämpfe auf dem Drogenmarkt?«
»Nein, nicht unbedingt. Auður hat Elli vom Octopussy eventuell in
der einen oder anderen Angelegenheit seines Unternehmens beraten
und deswegen vielleicht etwas gewusst, das mit Rauschgift zu tun
hat.«
»Ja, das ist komplex«, sagte Randver und rieb sich die
Nase.
»Wie verläuft die Untersuchung ansonsten?«
»Die offizielle Antwort darauf ist, dass die Untersuchung ihren
normalen Gang nimmt, was bedeutet, dass nichts vorangeht und wir
überhaupt nichts wissen.«
»Was habt ihr denn so gemacht?«
»Wir stecken bis zum Hals im ganz normalen Verfahren Zeugen
verhören, Zeugen suchen, die Finanzen von Elli und der Juristin
untersuchen, Telefongespräche protokollieren und unterwegs jeden
Stein umdrehen.«
»Und?«
»Was ich merkwürdig finde, ist, dass wir keine Anhaltspunkte dafür
finden, dass diese Gewalttaten in der Luft lagen. Keinerlei
Streitigkeiten. Keine Drohungen.
Keine Anzeichen dafür, dass Elli oder Auður glaubten, in Gefahr zu
schweben. Das kommt wie ... wie ...«
»Ein Blitz aus heiterem Himmel?«
»Wie ein Blitz aus allen Wolken, hätte ich beinahe gesagt«, sagte
Randver und lachte. Wunderbar, wieder so mit Víkingur dazusitzen
und ein gutes Gespräch über die Themen des Tages zu
führen.
»Was gibt es sonst noch Neues?«, fragte Víkingur.
Randver zögerte mit der Antwort.
»Hier im Haus, meine ich«, fügte Víkingur hinzu.
»Hat Marinó dem neuen Polizeipräsidenten schon eine anständige
Kaffeemaschine abgerungen?«
»Nein, das glaube ich nicht«, antwortete Randver.
»Ich glaube, wir bekommen so lange keine neue Kaffeemaschine, bis
hier eingebrochen und die alte gestohlen wird.«
Das war ein Running Gag auf der Wache. Víkingur lächelte aus alter
Gewohnheit.
Randver schaukelte in seinem Sessel.
»Was traust du dich nicht, mir zu sagen?«, fragte Víkingur. »Ich
kenne doch das unglückliche Gesicht, das du machst.«
Randver stöhnte.
»Es ist nichts, was wir jetzt dringend besprechen müssten. Ich
wollte es nicht ansprechen, bevor Þórhildur sich erholt
hat.«
»Ist es etwas, das mit ihr zu tun hat?« »Vielleicht nicht direkt.
Eigentlich dreht es sich mehr um dich, wenn man so sagen
kann.«
»Mich?«
Jetzt begann ein ziemliches Gefasel. Randver hatte Schwierigkeiten,
für das, was er seinem Freund sagen wollte, Worte zu finden.
Schlussendlich fand er aber in die richtige Spur.
»Ja also ... Schau mal. Es ist eigentlich zweierlei. Aber es ist
eigentlich dieselbe Sache. In erster Linie habe ich erfahren, dass
beschlossen worden ist, deine Stelle auszuschreiben.«
Víkingur reagierte nicht auf diese Information.
»Ich habe schon erfahren, dass das zu erwarten ist«, sagte er. »Und
zweitens?«
»Hm?«
»Erstens ist beschlossen worden, dass jemand anderes meine Stelle
übernimmt. Und was wolltest du mir zweitens sagen?«
»Die Belegschaft hier ist befragt worden, wie du in den vergangenen
Monaten gewesen bist.«
»Wie ich gewesen bin?«
»Ja. Irgendwer bei der Landespolizeichefin soll ausgegraben haben,
dass deine Frau in den letzten drei bis vier Monaten ziemlich viel
Ritalin und Valium auf deinen Namen verordnet haben soll. Sogar ich
bin gefragt worden, wie du mir vorgekommen seiest, ob ich
irgendeine Veränderung an dir bemerkt hätte.«
Víkingur begriff augenblicklich, wie es dazu gekommen war, doch
obwohl er mit Randver im Vertrauen sprach, konnte er ihm den Grund
nicht nennen. Er konnte sich nicht damit entschuldigen, dass seine
Frau ein rückfälliger Junkie war und seinen Namen missbraucht
hatte, um Medikamente für sich selbst zu besorgen. »Und?«, fragte
er.
»Und was?«
»Hast du an mir irgendeine Veränderung bemerkt?«
»Nein, natürlich nicht. Außer vielleicht, dass du in den letzten
Wochen eher düsterer Stimmung warst.«
»Es ist nicht, dass ich selbst Medikamente missbraucht habe. Es hat
andere Gründe.«
»Ja, natürlich. Das mit Þórhildurs Sohn und den ganzen
Sorgen.«
Die ganzen Sorgen. Ja, das war richtig. Soweit es eben
ging.
»So, mein Lieber«, sagte Víkingur. »Ich mache mich mal schnell auf
den Weg zurück ins Krankenhaus. Ich bin schon länger hiergeblieben,
als ich wollte.«
»Was wirst du denn in der Angelegenheit mit deiner Stelle
unternehmen?«, fragte Randver.
»Überhaupt nichts. Wenn ich abgelöst werden soll, weil ich
Medikamente nehme, dann soll das so sein. Ich mache nichts in der
Angelegenheit. Ich habe mich um anderes zu kümmern.«
»Das stimmt natürlich, aber denk mal drüber nach, wenn du Zeit
hast. Das kann man doch so nicht hinnehmen.«
»Das Leben ist, wie es ist; nicht unbedingt so, wie wir es haben
wollen.«
»Das kann gut sein, aber man muss trotzdem versuchen, seine klare
Linie beizubehalten.«
Víkingur stand auf und lächelte.
»Wir bleiben in Kontakt.«
»Ja, bleiben wir«, sagte Randver und blickte Víkingur nach, der mit
hängendem Kopf davonging. Auch wenn ihr Gespräch für kurze Zeit
aufgelebt war, solange es sich um die Mordfälle drehte, hatte
Randver es nie schwerer gefunden, eine Verbindung zu seinem Freund
herzustellen.
*****
Alles nimmt ein Ende. Auch das Warten darauf, dass Þórhildur
aufwachen möge.
Víkingur wich nicht von ihrem Bett, außer die kurzen Male, wenn die
Krankenschwestern ihm geradezu befahlen, aufzustehen und sich zu
bewegen. Auch dann verließ er das Krankenhaus nur widerwillig, tat
so, als mache er einen Spaziergang, schlich sich aber in den
Aufenthaltsraum und versuchte, die Zeit totzuschlagen, indem er
desinteressiert im Internet herumklickte.
Er schämte sich dafür, dass er das Wort »Koma« bei Google eingab,
und blickte sich verlegen um, als mache er sich einer unsittlichen
Handlung schuldig.
Laut Guinness-Buch der Rekorde hat niemand länger im Koma gelegen
als Elaine Esposito. Im Alter von sechs Jahren musste sie sich
einer Blinddarmoperation unterziehen, das war am 6. August 1941.
Sie verstarb am 25. November 1978, im Alter von vierundvierzig
Jahren, und war nach der Narkose nie mehr aufgewacht. Das Koma
dauerte siebenunddreißig Jahre und einhundertelf Tage.
Ein anderer US-Amerikaner, Terry Wallis, erwachte am 11. Juni 2003
aus dem Koma, in dem er fast zwanzig Jahre lang gelegen hatte. Er
glaubte, er sei immer noch neunzehn Jahre alt und Ronald Reagan
wäre Präsident der Vereinigten Staaten.
Þórhildur starb, nachdem sie fast zwölf Tage und Nächte im Koma
geruht hatte. Sie starb, ohne noch einmal zu Bewusstsein gekommen
zu sein. Ihr Herzschlag war unregelmäßig, und je länger sie im Koma
lag, desto trüber wurden die Aussichten auf Genesung. Ganz langsam
ebbten ihre Kräfte ab, obgleich die Ärzte alles zu tun versuchten,
was in ihrer Macht stand.
Als Víkingur auf seinem Weg aus dem Krankenhaus den Gang
entlangtrudelte, hörte er Lärm aus dem Aufenthaltsraum der
Patienten: Der Tag hatte sich dem Abend zugeneigt. Im Fernsehen
begannen die Nachrichten.