Fünfundzwanzig


Randver war nicht gerade überzeugt davon, dass Terje auf die richtige Spur gelangt sein könnte. Nichtsdestotrotz war er zufrieden mit dem Kerl. Ungeachtet seines Trotzes und seines Leichtsinns hatte er auch Selbstständigkeit und Initiative gezeigt, was gute Eigenschaften eines Polizisten waren. Jedenfalls in Maßen.


Randver dachte daran, das Büro zu verlassen und bei Víkingur vorbeizuschauen, bevor er nach Hause ging, als das Telefon klingelte.


»Hallo«, sagte er und hoffte, dass es nicht schon wieder Teitur von >Menschen und Meldungen< wäre, der fragte, wie es um die Untersuchung des Mordes an Auður Sörensen bestellt sei.


Sein Wunsch wurde ihm erfüllt.


»Hallo, hier ist Guðrún Sólveig von der technischen Abteilung. Bist du an deinem Computer?«


»Ja, der ist hier auf dem Schreibtisch. Warum fragst du?«


»Ich will, dass du dir etwas ansiehst. Gib mal >wohlverdientestrafe.com< ein, in einem Wort.«


»Jetzt?«


»Ja, wenn du so lieb wärst.«


»Dann muss ich das Ding erst anmachen«, sagte Randver und schämte sich zugleich, dass er so unabhängig vom Computer war, dass er ihn manchmal tagelang vergaß ­ zum großen Verdruss derjenigen, die darauf warteten, dass er ihre E-Mails beantwortete. »In Ordnung, ich warte solange.«


Randver legte den Hörer ab und schaltete das Gerät ein. Er zuckte zusammen, als es laute Geräusche von sich gab, und suchte hektisch nach einer Möglichkeit, den Ton leiser zu stellen.


Er nahm den Hörer wieder auf: »So. Was sollte ich noch mal tun?«


Guðrún Sólveig wiederholte: »Geh auf >wohlverdientestrafe.com<, alles zusammengeschrieben, und schau mal, was du dann siehst.«


Randver starrte auf den Bildschirm und suchte einen Hinweis darauf, in welchem Ordner >wohlverdientestrafe< zu finden sei.


»Hör mal, also, ich sehe das hier gerade auf meinem Computer nicht.«


»Das ist eine Internetseite. Du musst den Browser verwenden. Du öffnest den Explorer und schreibst die URL www.wohlverdientestrafe.com hinein.«


»Ja. Ja, natürlich. Da hätte ich draufkommen müssen.


Einen Moment.«


»Was siehst du?«


»Da kommt nur: »
Internet Explorer cannot display this webpage. Und dann darunter: Most likely causes: You are not connected to the Internet. Wohl bin ich connected.


The website is encountering problems. Das könnte die Erklärung sein. There might be a typing error in the address. Nein, die Adresse ist genauso, wie du sagtest, wohlverdiente Strafe Punkt is.«


»Punkt com, habe ich gesagt.«


»Hm, Punkt com. Okay, spielt es denn eine Rolle, ob man Punkt com oder Punkt is schreibt?«


»Ja, das spielt eine Rolle.«


»Das scheint mir nicht so. Genau dieselbe Meldung wieder.
What you can try: Connection Problems, More information. Ja, es ist einfach wieder dasselbe. Ich glaube aber, dass ich alles richtig gemacht habe.«


»In Ordnung. Ich bringe meinen Laptop mit und zeige es dir«, sagte Guðrún Sólveig. »Ich bin in ein paar Minuten da.«


»Was ist es denn, was du mir unbedingt zeigen willst?«, fragte Randver, aber seine Gesprächspartnerin hatte schon aufgelegt.


»Warum meinst du, dass du auf die Seite kommst, die sich bei mir nicht öffnet?«, fragte Randver, als Guðrún Sólveig mit ihrem Laptop unter dem Arm erschien.


»Weil ich die Seite gespeichert habe. Ich bin nicht online«, sagte sie. »Schau mal.«


Der Bildschirm war blutrot. In der Mitte stand in schwarzen Buchstaben: Wohlverdiente Strafe.


Darunter waren Porträts von Menschen, aber weiter unten auf der Seite fehlten offenbar Fotos, denn dort erschienen nur Umrisse. Unter ihnen standen die Namen: Andrus Xxxxx Auður Sörensen Ársæll Jódísarson Baldur Jónsson Elías Elíasson Jóhann Baker Reelikka Nuul Steingrímur Steingrímsson Ævar Guðbergsson »Was ist denn das für eine Sekte?«, fragte Randver und beugte sich näher zum Bildschirm.


»Siehst du, was auf alle Fotos gekritzelt worden ist?«, fragte Guðrún Sólveig. »Nein, ist das möglich? Was zur ...«


Auf jedes Gesicht oder jeden Umriss war mit blutroter Farbe gemalt:

 

[image]

 

»Was ist das für eine Seite?«, fragte Randver. »Von wem ist die?«   

 


»Ich weiß es nicht«, antwortete Guðrún. »Ich habe sie zufällig gefunden, als ich bei Google nach Auður Sörensen gesucht habe. Dann ist die Seite verschwunden und nicht wieder aufgetaucht. Bis mir heute einfiel, es wieder zu probieren, und glücklicherweise konnte ich sie bei mir abspeichern.«


»Jetzt warte mal«, sagte Randver. »Was sind das eigentlich für Leute? Andrus Xxxxx und nur ein Umriss. Den kenne ich nicht. Da ist Auður Sörensen. Ein gutes Bild von ihr. Ársæll Jódísarson. Kein Foto. Ja, natürlich, Sæli >Hangaround< mit der Motorradmacke. Baldur Jónsson. Ich kann mich gut an ihn erinnern. Ich dachte, er sei schon lange tot. Und da ist der Meister selbst, Elías Elíasson, wie immer von einem Ohr zum anderen grinsend. Mehr Fotos gibt es nicht, nur Silhouetten von den anderen. Jóhann Baker, oh ja. Reelikka Nuul, ein ausländischer Name. Steingrímur Steingrímsson. Da klingelt bei mir irgendetwas.«


»Steini >Stoned<«, sagte Guðrún Sólveig.


»Ja, Steini, natürlich. Und dann ein Ævar.«


»Goldköpfchen«, sagte Guðrún Sólveig.


»Sieh an, sieh an«, sagte Randver. »Wer hat sich denn den Spaß gemacht, diese Fotos ins Netz zu stellen?« »Ich weiß es nicht. Das herauszufinden ist der nächste Tagesordnungspunkt«, erwiderte Guðrún Sólveig.


»Das ist nicht irgendein Journalist«, sagte Randver.


»Wir haben keine Informationen über die Runen, die wir gefunden haben, herausgegeben. Verflixt noch eins, wie ist das nach außen gedrungen?«


»Teitur Jónsson, der Journalist, hat das Zeichen auf der Stirn von Auður Sörensen gesehen. Er hat davon sicherlich auch Fotos.«


»Das ist aber sicher nicht dieses Foto«, sagte Randver.


»Als dieses Bild gemacht wurde, lebte sie ja noch.«


Randver ließ seinen Blick über den Text schweifen, der den oberen Teil der Internetseite einnahm. Weiße Buchstaben auf einer roten Fläche: Wohlverdiente Strafe ist die neu gegründete Island Abteilung einer internationalen Verbindung von Menschen, die nicht länger untätig zusehen können, wie Mörder frei herumlaufen und unsere Kinder mit Rauschgift umbringen, um sich daran zu bereichern.


Wenn der Arm des Gesetzes nicht bis zu den Mördern reicht, dann ist es unsere Pflicht, dafür zu sorgen, dass sie ihre wohlverdiente Strafe bekommen, um die Gesellschaft so von diesen gefährlichen Raubtieren zu befreien.


Gemeinsam vollbringen wir, was keiner von uns allein schaffen kann.


Alle, die einen großen Verlust wegen eines Überträgers der Rauschgiftseuche zu beklagen haben, können uns beim Kampf dafür unterstützen, dass die kommenden Generationen aufwachsen können, ohne dass ihr Leben bedroht wird. Jeder, der die Gerechtigkeit liebt, kann mitmachen.


Räumen wir die Händler des Todes aus! In einem Land, in dem die öffentliche Hand ihre Bürger nicht ausreichend beschützt, müssen die Bürger sich selbst und ihre Nächsten schützen. Wohlverdiente Strafe ist Gerechtigkeit und keine Vergeltung.


Die, die unseren Kindern das Leben nehmen, sollen dafür mit ihrem eigenen Leben bezahlen nach dem ältesten Gesetz der Menschheit. Auge für Auge. Leben für Leben.


Wenn du dieser Botschaft zustimmst, drücke ENTER


»Was passiert, wenn man auf Enter drückt?«, fragte Randver.


»Dann kann man sich in der Gemeinschaft registrieren, indem man eine E-Mail sendet.«


»An wen?«


»Das weiß ich nicht. Die E-Mail-Adresse des Empfängers ist nicht angegeben.«


»Meinst du, das sind irgendwelche Kinder, die sich einen Jux machen?«, fragte Randver.


»Ich habe keine Ahnung«, antwortete Guðrún Sólveig.


»Ich bin ja kein großer Computerfachmann«, sagte Randver. »Aber mir scheint, dass im Netz alle möglichen Deppen herumhängen, nur um Schaden anzurichten, Viren zu erschaffen und sich in diese und jene Computersysteme zu hacken, sodass ich nicht beurteilen kann, wie ernst man so etwas nehmen muss. Was meinst du?«


»Weißt du, ich weiß es eigentlich auch nicht«, erwiderte Guðrún. »Ich halte es für sehr wahrscheinlich, dass es irgendein Scherz sein soll, aber gehört es nicht zu unseren Aufgaben, alle Drohungen ernst zu nehmen? Sonst hätte ich es dir nicht gezeigt.«


»Wie sollten wir uns deiner Meinung nach verhalten?«


Zwischen Guðrún Sólveig und Randver lagen nur anderthalb Jahrzehnte Altersunterschied, aber sie erlebten Computer auf so verschiedene Weise, als wäre es ein ganzes Jahrhundert. In Randvers Augen waren Computer eine bedeutende technische Neuerung, die Kurse mit Hausaufgaben erforderte. Für Guðrún Sólveig waren sie ein selbstverständlicher Teil ihrer Umwelt.


»Ich kenne einen Computerfreak in der Innenstadt, den ich gebeten habe, rauszukriegen, was hinter dieser Website steckt, wo sie gehostet wird und so weiter«, sagte Guðrún Sólveig. »Wenn er sich nützlich machen kann, ist es dann in Ordnung, wenn wir ihm einen kleinen Lohn zahlen? Es gibt andererseits auch viele Wege, um IP-Nummern zu verbergen.«              


»Selbstverständlich«, sagte Randver. »Was meinst du, wie lange er braucht?«


»Er will es heute Nacht angehen. Er sagt, dass Nerds und Geeks erst nach Einbruch der Dunkelheit aus ihren schummrigen Winkeln kriechen.«


»Die Nacht ist nicht gerade lang zu dieser Jahreszeit«, bemerkte Randver.


»Ich glaube, er hat das nur so gesagt«, sagte Guðrún Sólveig. »Er hat selbst die Angewohnheit, bis zum Abendessen zu schlafen. Er ist mein Neffe. Seine Mutter, also meine Schwester, hat Panik, dass er mit irgendwelchen Drogen angefangen hat. Ich glaube, er hat die Teenagerkrankheit. Aber man weiß es nie.«


»Also machen wir es so«, sagte Randver. »Du, sag mal, kann man diese Seite als E-Mail verschicken?«


»Ja. An wen soll ich sie senden?« »Schick sie an meine Adresse ­ und auch eine Kopie an Víkingur. Ich möchte, dass er sich das ansieht.«


»Kein Problem.«


»Das hast du gut gemacht.«


»Es war ein absoluter Zufall. Bleibt Víkingur lange in Urlaub?«


»Wenn ich das nur wüsste«, sagte Randver. »Ich glaube, er weiß es selbst nicht.«