Vier


Das Restaurant, in dem van Turenhout einen Tisch reserviert hatte, war eine kleine indonesische Gaststätte in der Nähe des Rembrandtplein an der Utrechtstraat und hieß Tempo Doeloe.


»Ich rufe dich an, wenn du uns abholen sollst«, sagte van Turenhout zu seinem Chauffeur und wandte sich dann Víkingur zu. »Wenn ich mit Gästen essen gehe, dann entweder in dieses Restaurant oder ins Hotel Plaza.


Ich habe diesmal das Tempo Doeloe ausgesucht und hoffe, dass du nicht enttäuscht sein wirst.«


»Lässt du den Zufall entscheiden, welchen Ort du wählst?«, fragte Víkingur.


Van Turenhout lächelte. »Nein, das nicht. Ich versuche zu erraten, ob die Gäste mehr Wert auf gutes Essen oder fabelhaftes Ambiente legen.«


»Mir gefällt das Ambiente hier sehr gut«, sagte Víkingur.


»Das freut mich, denn das Essen hier ist besser als im Hotel Plaza. Tempo Doeloe bedeutet eigentlich >Damals<«, sagte van Turenhout. »Soviel weiß ich, auch wenn ich in der Sprache meiner Vorfahren nicht gerade gut bin.


Ich bin sozusagen ein Kind der europäischen Kolonialpolitik und ein ehelicher Sohn der Vereenigde Oostindische Compagnie, der Niederländischen OstindienKompanie. Meine Familie stammt von Tidore, was eine der Molukken-Inseln in Indonesien ist. Man nannte sie die Gewürzinseln, und die Immigranten von dort sind das Gewürz in der holländischen Gesellschaft, die meiner Meinung nach auch dringend Würze brauchte.«


Víkingur hörte van Turenhout mit einem Ohr zu, während er in der viersprachigen Speisekarte hin- und herblätterte.


*****


»Wenn du magst, bestelle ich für uns beide«, bot van Turenhout an. »Wenn jemand dieses Restaurant zum ersten Mal besucht, verschwendet er oft wertvolle Zeit damit, die Speisekarte zu lesen, bestellt dann doch der Einfachheit halber das >Rijstaffel-Angebot< und hat am Ende keine Ahnung, was er da eigentlich isst.«


Víkingur gefiel der Vorschlag, also rief van Turenhout den Kellner und diktierte ihm eine Zahlenreihe so schnell, dass der Schwierigkeiten hatte, die Bestellung mitzuschreiben.


»Kannst du alle Nummern der Speisekarte auswendig?«, fragte Víkingur.


»Nur die der besten Gerichte«, antwortete van Turenhout. »Wir haben Glück, denn der Kellner sagt, die King Prawns seien frisch und lecker. Außerdem habe ich uns Bier zum Essen bestellt. Wo war ich bei meiner Autobiographie angekommen?«


»Kurz vor der Geburt«, sagte Víkingur.


»Also, ich bin in Rotterdam geboren und dort aufgewachsen. In Indonesien war ich nur einmal«, fuhr van Turenhout fort. »Als Jugendlicher beschloss ich, entweder Verbrecher oder Soldat zu werden. Ich entschied mich für die Armee. Irgendetwas in mir wollte einer starken, verschworenen Gemeinschaft angehören, einer Gang von Kriminellen, der Armee oder eben der Polizei. Ich wollte zum Militär, fiel aber bei irgendeinem Persönlichkeitstest mit Pauken und Trompeten durch.


Die Psychologen meinten, ich sei zu gewaltbereit, um in die Armee aufgenommen zu werden. Also habe ich mit der Schule weitergemacht und danach sogar angefangen, Psychologie zu studieren, vielleicht, um herauszufinden, was die Psychologen an mir auszusetzen hatten.«


Es überraschte Víkingur, wie gesprächig und offenherzig sein großgewachsener Kollege war. Van Turenhout machte eine Pause, während der Kellner zwei Halblitergläser Bier auf den Tisch stellte.


»Ich habe Theologie studiert«, sagte Víkingur, um auch irgendetwas zu dem Gespräch beizutragen. »Ich war anscheinend auch zu gewaltbereit, denn schließlich bin ich nicht Pfarrer, sondern Polizist geworden. Du bist also Psychologe?«


»Nein, von Psychologie verstehe ich nichts«, entgegnete van Turenhout. »Ich habe viel zu viel geraucht, um mich bei den Prüfungen an irgendetwas zu erinnern.


Dann wurde mir langsam klar, dass Psychologe für einen Mann wie mich vielleicht nicht der geeignetste Beruf ist.«


»Warum nicht?«


»Prost«, schob van Turenhout ein und hob sein Glas.


»Wenn du eine empfindsame Seele mit Weltschmerz wärst, würdest du dann zu einem riesigen Molukken mit Rastazöpfen gehen, um über deine Existenzangst zu sprechen? Ja, auch wenn ich jetzt eine Glatze habe, früher hatte ich eine regelrechte Haarpracht. Ich hätte vielleicht als Medizinmann arbeiten können, aber nicht als Psychologe. Aber du sagtest, du hättest Theologie studiert. Wie kam es, dass du bei der Polizei gelandet bist, statt Pfarrer oder Papst zu werden?« Víkingur lächelte. »Während meines Theologiestudiums arbeitete ich als Aushilfe bei der Polizei. Vielleicht erschien mir der Kampf gegen das Verbrechen nicht ganz so aussichtslos wie der gegen die Sünde.«


»Glaubst du an die Sünde?«, fragte van Turenhout.


»Es gibt nur noch wenig, an das ich glaube«, antwortete Víkingur. »Nein, ich glaube nicht an die Sünde. Nicht direkt. Es ist schon lange her, dass ich darüber nachgedacht habe, woran ich in Wirklichkeit glaube.«   

 


»Aber du glaubst an etwas?«


»Ich weiß es nicht«, sagte Víkingur. »Ich möchte daran glauben, dass die Wahrheit die stärkste Kraft der Welt ist ­ und dass wir alle tief in unserem Inneren wissen, was die Wahrheit ist. Und du, glaubst du an irgendetwas?«


»Ich glaube an Ordnung und kleinbürgerliche Tugenden«, sagte van Turenhout. »Ich glaube an warme Mahlzeiten, am besten zwei am Tag. Ich glaube an saubere Unterwäsche, Fleiß, Toleranz und Genügsamkeit in allen Bereichen ­ außer beim Essen und Trinken.«


*****


Als die Kellner die Speisen auf den Tisch stellten, sah es nicht so aus, als sei bei dieser Mahlzeit Genügsamkeit vorgesehen.


»Die armen Touristen rühren normalerweise alles zusammen und machen aus einer Rijstaffel einen ekelerregenden Reismatsch«, erzählte van Turenhout. »Der Trick ist, sich oft und dafür wenig auf einmal zu nehmen und den Geschmack eines jeden einzelnen Gerichts zu genießen. Hier haben wir von allem etwas: Da ist Sateh Ajam, Hähnchenspieße mit Erdnusssauce, hier gegrillte King Prawns, Oedang Madoera und Oedang Piendang, mit Kemiri-Nüssen und auch mit süßsaurer Zitronengrassauce. Dort gibt es Ikan Goreng, das ist Rotbarsch, in der Pfanne gebraten in milder Kräutersauce, und Scholle in Tamarindensauce, genannt Ikan Mangoet. Meine Leibspeise ist Goalee Kambing, das ist Fleisch vom Zicklein in Kokosmilch mit einem Hauch von Kräutern. Wenn du die Gewürze zu stark findest, dann nimm dir vom weißen Reis, um deine Geschmacksnerven zu beruhigen.


Wir haben hier auch gelben Reis und süßsauren Rohkostsalat, Gado-Gado-Gemüse mit Nussdressing, und Kroepoek, also Krabbenbrot. Ich glaube, das ist alles.


Selamat makan, guten Appetit!«


»
Selamat makan«, erwiderte Víkingur.


Unter der umsichtigen Anleitung van Turenhouts probierte Víkingur von allen Gerichten. Einige Gewürze von den südpazifischen Inseln waren für die Geschmacksnerven eines Mannes vom Nordpolarmeer fast zu stark. Beide Polizisten waren hungrig und langten ordentlich zu.


*****


»Bevor ich es vergesse«, sagte Víkingur. »Was die Leiche am Flughafen Schiphol betrifft: Ich vermute, der Junge hat keine Angehörigen in Island gehabt. Dennoch werde ich prüfen, ob eine Rückführung eingeleitet werden soll.


Sein nächster Angehöriger ist wahrscheinlich der Konsul in Amsterdam. Oder gar die isländische Botschaft in London.«


»Wurde er in Island nicht sogar gesucht?«


»Ja, oder so ähnlich. Wir hätten ihn gerne verhört wegen eines Brandes in Kópavogur, bei dem drei Menschen starben. Drogensüchtige. Wir haben sehr deutliche Hinweise bekommen, dass er daran beteiligt war.« »Und die Runenzeichen?«


»Ich wüsste nicht, warum Runen irgendeine besondere Verbindung zu Island haben sollten. Alle germanischen Völker verwendeten ursprünglich Runen. Als sie das Christentum annahmen, wurde dann das lateinische Alphabet eingeführt. Dennoch berichten die Tageszeitungen von Verbindungen nach Island, sodass wir die Zeichen natürlich sehr gründlich untersuchen werden.«              


Van Turenhout schien kein gesteigertes Interesse an einem Gespräch über Leichen zu haben, sodass Víkingur entschied, die Unterhaltung in eine andere Richtung zu lenken. Er wollte gern wissen, wie sein holländischer Kollege zu der liberalen Drogenpolitik stand, die die Holländer Ende des vergangenen Jahrhunderts eingeführt hatten.


»Vorhin sagtest du, dass du unter anderem an Toleranz glaubst«, sagte Víkingur. »Wer würde dir da widersprechen? Trotzdem wirkt es manchmal so, als würde die Realität nicht ganz zur Vision passen.«


»Ich verstehe nicht ganz, worauf du hinauswillst.«


»Ich verstehe es selbst kaum«, fuhr Víkingur fort. »Toleranz als Lebenseinstellung ist die eine Sache. Toleranz als politische Richtung ist etwas anderes.«


»Und die holländische Toleranz ist ein merkwürdiges Phänomen«, sagte van Turenhout, als er verstand, worauf sich Víkingur bezog. »Beim Einkaufen in einem Geschäft möchte man keine Moralpredigt des Verkäufers. Eine Nation, die vom Handel lebt, weiß, dass sich Toleranz auszahlt. Dreißig Jahre lang hat die holländische Toleranz gegenüber Rauschgift anderen Nationen als Vorbild dienen sollen.«


»Und was, meinst du, hat es gebracht?«, fragte Víkingur. »Darauf gibt es im Grunde keine allgemeingültige Antwort«, sagte van Turenhout. »Willst du nicht noch ein bisschen von der Ziege?«


»Nein, danke. Es schmeckt alles phantastisch, aber ich mag den Fisch am liebsten.«


Van Turenhout schüttete den Rest des Ziegengerichts auf seinen Teller und kratzte die Sauce aus der Schüssel.


»Ich bin nur ein Schreibtischbulle«, sagte er, »aber mich widert die Durchseuchung der Gesellschaft an, die der Toleranz folgt. Es ist übrigens ein weitverbreitetes Missverständnis, dass Rauschgift bei uns legal sei. Weder Haschisch noch Marihuana sind hier legal. Persönlich sehe ich Haschisch und Marihuana auch nicht als >weichen< Stoff. Ich bin vom Kiffen losgekommen, bevor alle meine Gehirnzellen verschmort waren. Ich hatte Glück. Denn schon vor vielen Jahren begannen meine Bekannten in den Leichenschauhäusern des Landes aufzutauchen. Ich will diese Verseuchten aus meinem Land loswerden, die Gangs loswerden, die Haie, die Kleinkriminellen und die vielen jungen Leute, die aus ganz Europa hierherkommen, weil man hier so gemütlich vor die Hunde gehen kann. Wenn es Toleranz ist, möglichst viele verschiedene Methoden anzubieten, wie man sein Leben zerstören kann, dann nehme ich zurück, dass ich an die Toleranz glaube.«


»Ein Rauchverbot für öffentliche Orte dient nicht dazu, Raucher am Rauchen zu hindern«, sagte Víkingur.


»Es ist dazu da, die Nichtraucher vor dem Passivrauchen zu schützen. Passiver Drogenkonsum ist viel gefährlicher als passives Rauchen. Jeder Drogenabhängige zieht Eltern, Kinder, Partner, Freunde oder nahestehende Angehörige mit sich in den Kummer und die Dunkelheit.


Jedes Jahr sterben zehntausende junge Menschen in Europa an den Folgen von Drogenkonsum. Was glaubst du, wie groß die Menge von Trauernden ist, die diese Jugendlichen hinterlassen?«


»Dieser Junge, den ihr sucht, ist er nicht dein Stiefsohn?«, fragte van Turenhout. »Ich versuche, mich nach ihm zu erkundigen.«


»Es ist nicht einmal sicher, ob er hier ist«, entgegnete Víkingur. »Wir wussten beide vor der Anreise, dass er nicht die Leiche in der Reisetasche ist. Aber wenn die Verzweiflung einen bestimmten Grad erreicht ...«


»Der Kaffee hier ist so schlecht, wie das Essen gut ist«, bemerkte van Turenhout. »Aber schlechter Kaffee ist immer noch besser als gar keiner.«


»Nicht für mich«, sagte Víkingur.


»Wie wäre es mit einem Schluck Cognac?«


»Nein, danke, auch nicht«, sagte Víkingur.


»Kräutertee?«, fragte van Turenhout. »Abgekochtes Wasser?«


Víkingur lächelte. »Ich bin kein Asket. Aber in der letzten Zeit hat mir eine Tasse Kaffee nach dem Abendessen gereicht, um schlaflos zu sein, und Cognac möchte ich nicht, weil ich mich noch mit meiner Frau unterhalten will.«


»Und Frauen lehnen Alkohol ab«, sagte van Turenhout. »Besonders, wenn ihre Männer eine Fahne haben.«


»Ja und nein«, erwiderte Víkingur. »Die Menschen, die nicht trinken, haben für ihre Ablehnung von Alkohol einen triftigen Grund: Wenn man mal betrachtet, dass der gesellschaftliche Schaden, den Alkohol verursacht, in den meisten Ländern ein Vielfaches der Zerstörung beträgt, die durch Drogen entsteht.«


»Du bist kein Calvinist«, stellte van Turenhout fest.


»Du bist Moslem.« »Wohl kaum«, entgegnete Víkingur. »Aber ich bewundere den Propheten, dass er dieses Verderben schon im achten Jahrhundert erkannt hat. Er hat sich getraut, Maßnahmen zu ergreifen in einer Gesellschaft, die vom Alkohol durchtränkt war. Als die arabische Welt ausgenüchtert wurde, blühten Kultur und Bildung auf, während Europa besoffen am Boden lag.«


»Interessant«, sagte van Turenhout. »Aber was geschah dann? Sie sind immer noch abstinent. Wir saufen.


Trotzdem geht es uns besser als ihnen.«


»Von unserer Warte aus betrachtet ja«, sagte Víkingur.


»Wir haben einiges verloren, das sie sich erhalten haben.


Der Grund dafür, warum ich einen klaren Kopf haben will, wenn ich meine Frau nachher treffe, ist der, dass sie Alkoholikerin ist.«


»Alkoholikerin?«, fragte van Turenhout. »Das tut mir leid.«


»Kein Problem«, sagte Víkingur. »Ihr Konsum ist in unserer Beziehung kein Problem. Seit ich Þórhildur kenne, habe ich sie nie angeheitert erlebt. Der Konsum ihres Sohnes ist das eigentliche Problem. Das meinte ich, als ich von passivem Drogenkonsum als Pendant zum Passivrauchen sprach. Seine Krankheit hat Einfluss auf uns. Der Rauschgiftkonsum des Jungen verursacht seiner Mutter wahrscheinlich mehr Leiden als ihm selbst.«


»Ich verstehe«, sagte van Turenhout.


»Und das Leiden meiner Frau macht wiederum mir Sorgen. So infiziert man sich mit den Folgen von Drogenkonsum, einer beim anderen. Weil du so freundlich bist, dich nach dem Jungen umzuhören, möchte ich dir ein bisschen mehr über unsere Situation erzählen. Þórhildur, seine Mutter, studierte Medizin. Während des Studiums heiratete sie einen Ingenieursstudenten. Sie gingen beide gern aus. Er hatte mehr Durchhaltevermögen als sie und erholte sich nach den Wochenenden auch schneller. Þórhildur fand heraus, dass sie länger feiern konnte, wenn sie Amphetamine nahm und den anschließenden Kater mit Beruhigungsmitteln bekämpfte. Das funktionierte ganz hervorragend. Dann wurde Þórhildur schwanger, und weil sie den Alkohol- und Drogenkonsum ohne große Schwierigkeiten während der Schwangerschaft einstellen konnte, betrachtete sie sich als offensichtlich nicht süchtig.


Als Þórhildur das Studium beendet hatte, bot man ihr eine Stelle als Oberärztin einer großen Region in Nordisland an. Das war eine gute Gelegenheit, viel Erfahrung zu sammeln und in kurzer Zeit viel Geld zu verdienen.


Aber das junge Ehepaar langweilte sich in dem kleinen Dorf weit entfernt von den Freunden und Angehörigen in Reykjavík. Er musste sein Studium unterbrechen und sich um den Haushalt kümmern. Die einzige Abwechslung war, sich am Wochenende kräftig zu betrinken und große Partys zu feiern, wenn Besuch aus dem Süden kam.   

 


Þórhildur begann auch wieder Drogen zu nehmen, um sich sowohl den Gästen als auch der Arbeit gewachsen zu fühlen.


Eines Sonntagmorgens im Dezember wurde die Oberärztin wegen eines Notfalls auf einen entfernten Hof gerufen.


Þórhildur hatte sich gerade ins Bett gelegt, nach einem Hausfest für ihre Freunde aus Reykjavík, die über die Weihnachtsfeiertage bleiben wollten. Um wenigstens ein bisschen Schlaf zu bekommen, hatte sie eine ordentliche Dosis Beruhigungstabletten genommen. Sie hatte damit den Effekt ihrer nächtlichen Erfrischung durch Amphetamin dämpfen wollen. Sie schaffte es, aufzustehen und sich Amphetamin aus dem Medizinschrank zu holen, um klar im Kopf zu werden. Dann, noch bei Dunkelheit und Schneefall, brach sie in ihrem großen Geländewagen auf.«


Víkingur schwieg. Er wunderte sich über sich selbst.


Diese Geschichte hatte er lange in seinem Inneren verwahrt und nie in Betracht gezogen, sie mit jemandem zu teilen. Und jetzt saß er in einem Restaurant in Amsterdam und vertraute sich einem vollkommen fremden Mann an.


»Dunkelheit und Schneefall«, sagte van Turenhout mit einem verträumten Ausdruck im Gesicht. »Island.«


»Als es schon fast Mittag war, kam ein zweiter Anruf von dem Bauernhof mit der erneuten Bitte um ärztliche Hilfe. Da kontaktierte Þórhildurs Mann den örtlichen Rettungsdienst, der einen Motorschlitten zu dem Kranken schickte. Nach ihrer Rückkehr berichteten die Mitglieder der Rettungsmannschaft, die Ärztin unterwegs nirgendwo gesehen zu haben. Dunkelheit hatte sich breitgemacht und der Schneefall war zu einem schweren Schneesturm geworden, also waren die Bedingungen für eine Suchaktion miserabel. Als der Suchtrupp kurz vor dem Abmarsch stand, kam ein Lastwagenfahrer an und berichtete, dass das Auto der Landärztin umgestürzt in einer Felsschlucht etwa zehn Minuten von dem Bauernhof entfernt läge ­ aber an einer völlig anderen Route als der, die man normalerweise dorthin gewählt hätte. Þórhildur war im Auto eingeklemmt. Sie war bei Bewusstsein und kam mit ein paar Knochenbrüchen und kleineren Wunden erstaunlich glimpflich davon.


Damit war der Aufenthalt der beiden an dem Ort beendet. Sie verlor ihre Zulassung als Ärztin. Die Ehe, die wohl auch nicht mehr besonders glücklich war, endete mit einer Scheidung, und in Anbetracht der Vorgeschichte bekam der Vater das Sorgerecht für den Sohn.


Island ist ein kleines Land, und über diesen Vorfall wurde ziemlich viel geredet. Þórhildur beschloss, unterzutauchen, und ging nach Australien. Sie arbeitete als Reinigungskraft in einem Krankenhaus und setzte alles daran, trocken zu werden. So verbrachte sie einige Jahre in Australien, wo sie die Anonymen Alkoholiker kennenlernte, und Mut fasste, eine Fortbildung in forensischer Medizin zu beginnen. Auf diese Art und Weise konnte sie ihr vorhandenes Wissen nutzen, ohne wieder Verantwortung für lebende Patienten tragen zu müssen.


      

 

 

Als schließlich ein Gerichtsmediziner in Island gesucht wurde, bewarb sie sich und bekam die Stelle. So haben wir uns kennengelernt.


Magnús, der Junge, von dem wir sprachen, wuchs bei seinem Vater auf, der ein unsolides, ausschweifendes Leben führte. Nachdem sie zurückgekehrt war, versuchte Þórhildur, ihrem Sohn wieder näherzukommen, aber er war voller Zorn, denn er fühlte sich von ihr verstoßen, als sie das Land verlassen hatte. Schon jung begann er mit dem Trinken, flog von der Schule und hat sich mehr oder weniger selbst versorgt, seit er dreizehn war.


Er hat sich bei seiner Mutter immer nur gemeldet, wenn er Geld brauchte. Sie hatte immer das Gefühl, ihm etwas schuldig zu sein, wobei sie bis heute nicht weiß, wie sie es wiedergutmachen soll, und das hat er ganz geschickt auszunutzen gewusst. Bis jetzt. Vor einigen Wochen rief er an und sagte, er sei in Holland. Seitdem haben wir nichts mehr von ihm gehört.«


»Wie alt ist er?«


»Siebenundzwanzig. Wird achtundzwanzig diesen Sommer.« »Wovon hat er gelebt ­ abgesehen von seiner Mutter?«


»Von diesem und jenem, genau wie alle anderen Kleinkriminellen. Er war Geldeintreiber und Dealer. Und er hat sich mit Geschäften wie dem Import von Autos befasst. Er sagte, er sei Mitbesitzer eines Nachtclubs, der sogenannte Revuetänzerinnen aus dem Baltikum holt. In seinem polizeilichen Führungszeugnis findet sich nichts außer einem Führerscheinentzug. Er ist ein intelligenter und gut aussehender Junge. Aber das hilft ihm auch nichts, im Gegenteil, ich glaube, dass seine Intelligenz ihn eher hemmt.«


»Er ist zu intelligent, um aufzugeben und aufzuhören?«


»Ja, genau. Mir scheinen die Menschen ihren Mist immer weiterzumachen, solange sie sich nicht in eine existenzielle Krise bringen. Wenn sie die Familie verloren haben oder im Job gekündigt worden sind, dann geben sie auf. Magnús hat keine Familie und auch keinen Beruf.


Er hat nur durch seine Cleverness überlebt und kann sonst nichts. Für ihn gibt es keinen Grund, aufzuhören.«


*****


»Dunkelheit und Schneefall«, sagte van Turenhout. »In dieser Geschichte kommen Dunkelheit und Schneefall vor, und sie spielt in Island. Ansonsten ist sie haargenau so wie viele andere Geschichten. Sogar der Junge gleicht dem Sohn meines Bruders aufs Haar, auch wenn der bei seiner Mutter aufwuchs und nicht beim Vater.«


»Und er ist auch in der Drogenszene?«


»Nein, er liegt auf dem Friedhof. Er wurde vorletztes Jahr in einer Diskothek erschossen«, antwortete van Turenhout. »Wegen einer Meinungsverschiedenheit über ein paar Gramm Kokain. Du kannst dich darauf verlassen, dass ich versuche, herauszufinden, ob euer Junge in Holland ist. Dann werde ich schon einen Grund finden, ihn einsperren zu lassen, sodass er Zeit hat, über die Dinge nachzudenken. Unser Frank wäre vielleicht noch am Leben, wenn ich nicht gezögert hätte, meine Stellung zu missbrauchen, um ihn aus dem Verkehr zu ziehen.«


*****


Víkingur verabschiedete sich vor dem Restaurant von seinem Gastgeber und lehnte das Angebot, zum Hotel gebracht zu werden, ab.


»Ich möchte einfach gerne noch einen Spaziergang machen.«


In den Straßen pulsierte das Leben und die Menschenmenge war so dicht, dass der Abendspaziergang zum Hotel länger dauerte, als er gedacht hatte.


Es war exakt 22:56 Uhr, als er das Foyer des Hotels betrat, und 22:58 Uhr, als er die Zimmertür öffnete.


Vor elf wieder zu Hause, dachte er.


Drinnen war es dunkel und er zögerte, das Licht einzuschalten. Þórhildur schlief sicherlich. Er schloss die Tür hinter sich und trat in die Dunkelheit.


Er scheiterte mit seinem Vorhaben, leise zu sein, als er sich den Fuß an einem Stuhl stieß, strauchelte und aufs Bett stürzte.


»Entschuldige, das bin nur ich«, sagte er, damit Þórhildur nicht glaubte, ein ungebetener Gast sei zu Besuch gekommen. »Ich habe mich an einem Stuhl gestoßen«, fügte er hinzu. Nicht dass sie dachte, er sei betrunken und könne sich nicht mehr auf den Beinen halten.


Keine Antwort. Niemand lag im Bett. Im Dunkeln tastete er nach der Nachttischlampe am Kopfende, fand die Schnur und machte das Licht an.


Es war niemand im Raum außer ihm selbst.


Þórhildur war verschwunden.


Zuerst erschrak er.


Dann sah er wieder auf die Uhr. 23:00 Uhr.


Þórhildur musste irgendwann aufgewacht sein, nachdem er gegangen war. Vermutlich war sie hungrig geworden und etwas essen gegangen.


Sie ist gleich wieder da ...