Das Restaurant, in dem van Turenhout einen Tisch reserviert hatte,
war eine kleine indonesische Gaststätte in der Nähe des
Rembrandtplein an der Utrechtstraat und hieß Tempo
Doeloe.
»Ich rufe dich an, wenn du uns abholen sollst«, sagte van Turenhout
zu seinem Chauffeur und wandte sich dann Víkingur zu. »Wenn ich mit
Gästen essen gehe, dann entweder in dieses Restaurant oder ins
Hotel Plaza.
Ich habe diesmal das Tempo Doeloe ausgesucht und hoffe, dass du
nicht enttäuscht sein wirst.«
»Lässt du den Zufall entscheiden, welchen Ort du wählst?«, fragte
Víkingur.
Van Turenhout lächelte. »Nein, das nicht. Ich versuche zu erraten,
ob die Gäste mehr Wert auf gutes Essen oder fabelhaftes Ambiente
legen.«
»Mir gefällt das Ambiente hier sehr gut«, sagte
Víkingur.
»Das freut mich, denn das Essen hier ist besser als im Hotel Plaza.
Tempo Doeloe bedeutet eigentlich >Damals<«, sagte van
Turenhout. »Soviel weiß ich, auch wenn ich in der Sprache meiner
Vorfahren nicht gerade gut bin.
Ich bin sozusagen ein Kind der europäischen Kolonialpolitik und ein
ehelicher Sohn der Vereenigde Oostindische Compagnie, der
Niederländischen OstindienKompanie. Meine Familie stammt von
Tidore, was eine der Molukken-Inseln in Indonesien ist. Man nannte
sie die Gewürzinseln, und die Immigranten von dort sind das Gewürz
in der holländischen Gesellschaft, die meiner Meinung nach auch
dringend Würze brauchte.«
Víkingur hörte van Turenhout mit einem Ohr zu, während er in der
viersprachigen Speisekarte hin- und herblätterte.
*****
»Wenn du magst, bestelle ich für uns beide«, bot van Turenhout an.
»Wenn jemand dieses Restaurant zum ersten Mal besucht, verschwendet
er oft wertvolle Zeit damit, die Speisekarte zu lesen, bestellt
dann doch der Einfachheit halber das >Rijstaffel-Angebot< und
hat am Ende keine Ahnung, was er da eigentlich isst.«
Víkingur gefiel der Vorschlag, also rief van Turenhout den Kellner
und diktierte ihm eine Zahlenreihe so schnell, dass der
Schwierigkeiten hatte, die Bestellung mitzuschreiben.
»Kannst du alle Nummern der Speisekarte auswendig?«, fragte
Víkingur.
»Nur die der besten Gerichte«, antwortete van Turenhout. »Wir haben
Glück, denn der Kellner sagt, die King Prawns seien frisch und
lecker. Außerdem habe ich uns Bier zum Essen bestellt. Wo war ich
bei meiner Autobiographie angekommen?«
»Kurz vor der Geburt«, sagte Víkingur.
»Also, ich bin in Rotterdam geboren und dort aufgewachsen. In
Indonesien war ich nur einmal«, fuhr van Turenhout fort. »Als
Jugendlicher beschloss ich, entweder Verbrecher oder Soldat zu
werden. Ich entschied mich für die Armee. Irgendetwas in mir wollte
einer starken, verschworenen Gemeinschaft angehören, einer Gang von
Kriminellen, der Armee oder eben der Polizei. Ich wollte zum
Militär, fiel aber bei irgendeinem Persönlichkeitstest mit Pauken
und Trompeten durch.
Die Psychologen meinten, ich sei zu gewaltbereit, um in die Armee
aufgenommen zu werden. Also habe ich mit der Schule weitergemacht
und danach sogar angefangen, Psychologie zu studieren, vielleicht,
um herauszufinden, was die Psychologen an mir auszusetzen
hatten.«
Es überraschte Víkingur, wie gesprächig und offenherzig sein
großgewachsener Kollege war. Van Turenhout machte eine Pause,
während der Kellner zwei Halblitergläser Bier auf den Tisch
stellte.
»Ich habe Theologie studiert«, sagte Víkingur, um auch irgendetwas
zu dem Gespräch beizutragen. »Ich war anscheinend auch zu
gewaltbereit, denn schließlich bin ich nicht Pfarrer, sondern
Polizist geworden. Du bist also Psychologe?«
»Nein, von Psychologie verstehe ich nichts«, entgegnete van
Turenhout. »Ich habe viel zu viel geraucht, um mich bei den
Prüfungen an irgendetwas zu erinnern.
Dann wurde mir langsam klar, dass Psychologe für einen Mann wie
mich vielleicht nicht der geeignetste Beruf ist.«
»Warum nicht?«
»Prost«, schob van Turenhout ein und hob sein Glas.
»Wenn du eine empfindsame Seele mit Weltschmerz wärst, würdest du
dann zu einem riesigen Molukken mit Rastazöpfen gehen, um über
deine Existenzangst zu sprechen? Ja, auch wenn ich jetzt eine
Glatze habe, früher hatte ich eine regelrechte Haarpracht. Ich
hätte vielleicht als Medizinmann arbeiten können, aber nicht als
Psychologe. Aber du sagtest, du hättest Theologie studiert. Wie kam
es, dass du bei der Polizei gelandet bist, statt Pfarrer oder Papst
zu werden?« Víkingur lächelte. »Während meines Theologiestudiums
arbeitete ich als Aushilfe bei der Polizei. Vielleicht erschien mir
der Kampf gegen das Verbrechen nicht ganz so aussichtslos wie der
gegen die Sünde.«
»Glaubst du an die Sünde?«, fragte van Turenhout.
»Es gibt nur noch wenig, an das ich glaube«, antwortete Víkingur.
»Nein, ich glaube nicht an die Sünde. Nicht direkt. Es ist schon
lange her, dass ich darüber nachgedacht habe, woran ich in
Wirklichkeit glaube.«
»Aber du glaubst an etwas?«
»Ich weiß es nicht«, sagte Víkingur. »Ich möchte daran glauben,
dass die Wahrheit die stärkste Kraft der Welt ist und dass wir
alle tief in unserem Inneren wissen, was die Wahrheit ist. Und du,
glaubst du an irgendetwas?«
»Ich glaube an Ordnung und kleinbürgerliche Tugenden«, sagte van
Turenhout. »Ich glaube an warme Mahlzeiten, am besten zwei am Tag.
Ich glaube an saubere Unterwäsche, Fleiß, Toleranz und Genügsamkeit
in allen Bereichen außer beim Essen und Trinken.«
*****
Als die Kellner die Speisen auf den Tisch stellten, sah es nicht so
aus, als sei bei dieser Mahlzeit Genügsamkeit
vorgesehen.
»Die armen Touristen rühren normalerweise alles zusammen und machen
aus einer Rijstaffel einen ekelerregenden Reismatsch«, erzählte van
Turenhout. »Der Trick ist, sich oft und dafür wenig auf einmal zu
nehmen und den Geschmack eines jeden einzelnen Gerichts zu
genießen. Hier haben wir von allem etwas: Da ist Sateh Ajam,
Hähnchenspieße mit Erdnusssauce, hier gegrillte King Prawns, Oedang
Madoera und Oedang Piendang, mit Kemiri-Nüssen und auch mit
süßsaurer Zitronengrassauce. Dort gibt es Ikan Goreng, das ist
Rotbarsch, in der Pfanne gebraten in milder Kräutersauce, und
Scholle in Tamarindensauce, genannt Ikan Mangoet. Meine Leibspeise
ist Goalee Kambing, das ist Fleisch vom Zicklein in Kokosmilch mit
einem Hauch von Kräutern. Wenn du die Gewürze zu stark findest,
dann nimm dir vom weißen Reis, um deine Geschmacksnerven zu
beruhigen.
Wir haben hier auch gelben Reis und süßsauren Rohkostsalat,
Gado-Gado-Gemüse mit Nussdressing, und Kroepoek, also Krabbenbrot.
Ich glaube, das ist alles.
Selamat
makan,
guten Appetit!«
»Selamat
makan«,
erwiderte Víkingur.
Unter der umsichtigen Anleitung van Turenhouts probierte Víkingur
von allen Gerichten. Einige Gewürze von den südpazifischen Inseln
waren für die Geschmacksnerven eines Mannes vom Nordpolarmeer fast
zu stark. Beide Polizisten waren hungrig und langten ordentlich
zu.
*****
»Bevor ich es vergesse«, sagte Víkingur. »Was die Leiche am
Flughafen Schiphol betrifft: Ich vermute, der Junge hat keine
Angehörigen in Island gehabt. Dennoch werde ich prüfen, ob eine
Rückführung eingeleitet werden soll.
Sein nächster Angehöriger ist wahrscheinlich der Konsul in
Amsterdam. Oder gar die isländische Botschaft in
London.«
»Wurde er in Island nicht sogar gesucht?«
»Ja, oder so ähnlich. Wir hätten ihn gerne verhört wegen eines
Brandes in Kópavogur, bei dem drei Menschen starben.
Drogensüchtige. Wir haben sehr deutliche Hinweise bekommen, dass er
daran beteiligt war.« »Und die Runenzeichen?«
»Ich wüsste nicht, warum Runen irgendeine besondere Verbindung zu
Island haben sollten. Alle germanischen Völker verwendeten
ursprünglich Runen. Als sie das Christentum annahmen, wurde dann
das lateinische Alphabet eingeführt. Dennoch berichten die
Tageszeitungen von Verbindungen nach Island, sodass wir die Zeichen
natürlich sehr gründlich untersuchen werden.«
Van Turenhout schien kein gesteigertes Interesse an einem Gespräch
über Leichen zu haben, sodass Víkingur entschied, die Unterhaltung
in eine andere Richtung zu lenken. Er wollte gern wissen, wie sein
holländischer Kollege zu der liberalen Drogenpolitik stand, die die
Holländer Ende des vergangenen Jahrhunderts eingeführt
hatten.
»Vorhin sagtest du, dass du unter anderem an Toleranz glaubst«,
sagte Víkingur. »Wer würde dir da widersprechen? Trotzdem wirkt es
manchmal so, als würde die Realität nicht ganz zur Vision
passen.«
»Ich verstehe nicht ganz, worauf du hinauswillst.«
»Ich verstehe es selbst kaum«, fuhr Víkingur fort. »Toleranz als
Lebenseinstellung ist die eine Sache. Toleranz als politische
Richtung ist etwas anderes.«
»Und die holländische Toleranz ist ein merkwürdiges Phänomen«,
sagte van Turenhout, als er verstand, worauf sich Víkingur bezog.
»Beim Einkaufen in einem Geschäft möchte man keine Moralpredigt des
Verkäufers. Eine Nation, die vom Handel lebt, weiß, dass sich
Toleranz auszahlt. Dreißig Jahre lang hat die holländische Toleranz
gegenüber Rauschgift anderen Nationen als Vorbild dienen
sollen.«
»Und was, meinst du, hat es gebracht?«, fragte Víkingur. »Darauf
gibt es im Grunde keine allgemeingültige Antwort«, sagte van
Turenhout. »Willst du nicht noch ein bisschen von der
Ziege?«
»Nein, danke. Es schmeckt alles phantastisch, aber ich mag den
Fisch am liebsten.«
Van Turenhout schüttete den Rest des Ziegengerichts auf seinen
Teller und kratzte die Sauce aus der Schüssel.
»Ich bin nur ein Schreibtischbulle«, sagte er, »aber mich widert
die Durchseuchung der Gesellschaft an, die der Toleranz folgt. Es
ist übrigens ein weitverbreitetes Missverständnis, dass Rauschgift
bei uns legal sei. Weder Haschisch noch Marihuana sind hier legal.
Persönlich sehe ich Haschisch und Marihuana auch nicht als
>weichen< Stoff. Ich bin vom Kiffen losgekommen, bevor alle
meine Gehirnzellen verschmort waren. Ich hatte Glück. Denn schon
vor vielen Jahren begannen meine Bekannten in den
Leichenschauhäusern des Landes aufzutauchen. Ich will diese
Verseuchten aus meinem Land loswerden, die Gangs loswerden, die
Haie, die Kleinkriminellen und die vielen jungen Leute, die aus
ganz Europa hierherkommen, weil man hier so gemütlich vor die Hunde
gehen kann. Wenn es Toleranz ist, möglichst viele verschiedene
Methoden anzubieten, wie man sein Leben zerstören kann, dann nehme
ich zurück, dass ich an die Toleranz glaube.«
»Ein Rauchverbot für öffentliche Orte dient nicht dazu, Raucher am
Rauchen zu hindern«, sagte Víkingur.
»Es ist dazu da, die Nichtraucher vor dem Passivrauchen zu
schützen. Passiver Drogenkonsum ist viel gefährlicher als passives
Rauchen. Jeder Drogenabhängige zieht Eltern, Kinder, Partner,
Freunde oder nahestehende Angehörige mit sich in den Kummer und die
Dunkelheit.
Jedes Jahr sterben zehntausende junge Menschen in Europa an den
Folgen von Drogenkonsum. Was glaubst du, wie groß die Menge von
Trauernden ist, die diese Jugendlichen hinterlassen?«
»Dieser Junge, den ihr sucht, ist er nicht dein Stiefsohn?«, fragte
van Turenhout. »Ich versuche, mich nach ihm zu
erkundigen.«
»Es ist nicht einmal sicher, ob er hier ist«, entgegnete Víkingur.
»Wir wussten beide vor der Anreise, dass er nicht die Leiche in der
Reisetasche ist. Aber wenn die Verzweiflung einen bestimmten Grad
erreicht ...«
»Der Kaffee hier ist so schlecht, wie das Essen gut ist«, bemerkte
van Turenhout. »Aber schlechter Kaffee ist immer noch besser als
gar keiner.«
»Nicht für mich«, sagte Víkingur.
»Wie wäre es mit einem Schluck Cognac?«
»Nein, danke, auch nicht«, sagte Víkingur.
»Kräutertee?«, fragte van Turenhout. »Abgekochtes
Wasser?«
Víkingur lächelte. »Ich bin kein Asket. Aber in der letzten Zeit
hat mir eine Tasse Kaffee nach dem Abendessen gereicht, um
schlaflos zu sein, und Cognac möchte ich nicht, weil ich mich noch
mit meiner Frau unterhalten will.«
»Und Frauen lehnen Alkohol ab«, sagte van Turenhout. »Besonders,
wenn ihre Männer eine Fahne haben.«
»Ja und nein«, erwiderte Víkingur. »Die Menschen, die nicht
trinken, haben für ihre Ablehnung von Alkohol einen triftigen
Grund: Wenn man mal betrachtet, dass der gesellschaftliche Schaden,
den Alkohol verursacht, in den meisten Ländern ein Vielfaches der
Zerstörung beträgt, die durch Drogen entsteht.«
»Du bist kein Calvinist«, stellte van Turenhout fest.
»Du bist Moslem.« »Wohl kaum«, entgegnete Víkingur. »Aber ich
bewundere den Propheten, dass er dieses Verderben schon im achten
Jahrhundert erkannt hat. Er hat sich getraut, Maßnahmen zu
ergreifen in einer Gesellschaft, die vom Alkohol durchtränkt war.
Als die arabische Welt ausgenüchtert wurde, blühten Kultur und
Bildung auf, während Europa besoffen am Boden lag.«
»Interessant«, sagte van Turenhout. »Aber was geschah dann? Sie
sind immer noch abstinent. Wir saufen.
Trotzdem geht es uns besser als ihnen.«
»Von unserer Warte aus betrachtet ja«, sagte Víkingur.
»Wir haben einiges verloren, das sie sich erhalten
haben.
Der Grund dafür, warum ich einen klaren Kopf haben will, wenn ich
meine Frau nachher treffe, ist der, dass sie Alkoholikerin
ist.«
»Alkoholikerin?«, fragte van Turenhout. »Das tut mir
leid.«
»Kein Problem«, sagte Víkingur. »Ihr Konsum ist in unserer
Beziehung kein Problem. Seit ich Þórhildur kenne, habe ich sie nie
angeheitert erlebt. Der Konsum ihres Sohnes ist das eigentliche
Problem. Das meinte ich, als ich von passivem Drogenkonsum als
Pendant zum Passivrauchen sprach. Seine Krankheit hat Einfluss auf
uns. Der Rauschgiftkonsum des Jungen verursacht seiner Mutter
wahrscheinlich mehr Leiden als ihm selbst.«
»Ich verstehe«, sagte van Turenhout.
»Und das Leiden meiner Frau macht wiederum mir Sorgen. So infiziert
man sich mit den Folgen von Drogenkonsum, einer beim anderen. Weil
du so freundlich bist, dich nach dem Jungen umzuhören, möchte ich
dir ein bisschen mehr über unsere Situation erzählen. Þórhildur,
seine Mutter, studierte Medizin. Während des Studiums heiratete sie
einen Ingenieursstudenten. Sie gingen beide gern aus. Er hatte mehr
Durchhaltevermögen als sie und erholte sich nach den Wochenenden
auch schneller. Þórhildur fand heraus, dass sie länger feiern
konnte, wenn sie Amphetamine nahm und den anschließenden Kater mit
Beruhigungsmitteln bekämpfte. Das funktionierte ganz hervorragend.
Dann wurde Þórhildur schwanger, und weil sie den Alkohol- und
Drogenkonsum ohne große Schwierigkeiten während der Schwangerschaft
einstellen konnte, betrachtete sie sich als offensichtlich nicht
süchtig.
Als Þórhildur das Studium beendet hatte, bot man ihr eine Stelle
als Oberärztin einer großen Region in Nordisland an. Das war eine
gute Gelegenheit, viel Erfahrung zu sammeln und in kurzer Zeit viel
Geld zu verdienen.
Aber das junge Ehepaar langweilte sich in dem kleinen Dorf weit
entfernt von den Freunden und Angehörigen in Reykjavík. Er musste
sein Studium unterbrechen und sich um den Haushalt kümmern. Die
einzige Abwechslung war, sich am Wochenende kräftig zu betrinken
und große Partys zu feiern, wenn Besuch aus dem Süden kam.
Þórhildur begann auch wieder Drogen zu nehmen, um sich sowohl den
Gästen als auch der Arbeit gewachsen zu fühlen.
Eines Sonntagmorgens im Dezember wurde die Oberärztin wegen eines
Notfalls auf einen entfernten Hof gerufen.
Þórhildur hatte sich gerade ins Bett gelegt, nach einem Hausfest
für ihre Freunde aus Reykjavík, die über die Weihnachtsfeiertage
bleiben wollten. Um wenigstens ein bisschen Schlaf zu bekommen,
hatte sie eine ordentliche Dosis Beruhigungstabletten genommen. Sie
hatte damit den Effekt ihrer nächtlichen Erfrischung durch
Amphetamin dämpfen wollen. Sie schaffte es, aufzustehen und sich
Amphetamin aus dem Medizinschrank zu holen, um klar im Kopf zu
werden. Dann, noch bei Dunkelheit und Schneefall, brach sie in
ihrem großen Geländewagen auf.«
Víkingur schwieg. Er wunderte sich über sich selbst.
Diese Geschichte hatte er lange in seinem Inneren verwahrt und nie
in Betracht gezogen, sie mit jemandem zu teilen. Und jetzt saß er
in einem Restaurant in Amsterdam und vertraute sich einem
vollkommen fremden Mann an.
»Dunkelheit und Schneefall«, sagte van Turenhout mit einem
verträumten Ausdruck im Gesicht. »Island.«
»Als es schon fast Mittag war, kam ein zweiter Anruf von dem
Bauernhof mit der erneuten Bitte um ärztliche Hilfe. Da
kontaktierte Þórhildurs Mann den örtlichen Rettungsdienst, der
einen Motorschlitten zu dem Kranken schickte. Nach ihrer Rückkehr
berichteten die Mitglieder der Rettungsmannschaft, die Ärztin
unterwegs nirgendwo gesehen zu haben. Dunkelheit hatte sich
breitgemacht und der Schneefall war zu einem schweren Schneesturm
geworden, also waren die Bedingungen für eine Suchaktion miserabel.
Als der Suchtrupp kurz vor dem Abmarsch stand, kam ein
Lastwagenfahrer an und berichtete, dass das Auto der Landärztin
umgestürzt in einer Felsschlucht etwa zehn Minuten von dem
Bauernhof entfernt läge aber an einer völlig anderen Route als
der, die man normalerweise dorthin gewählt hätte. Þórhildur war im
Auto eingeklemmt. Sie war bei Bewusstsein und kam mit ein paar
Knochenbrüchen und kleineren Wunden erstaunlich glimpflich
davon.
Damit war der Aufenthalt der beiden an dem Ort beendet. Sie verlor
ihre Zulassung als Ärztin. Die Ehe, die wohl auch nicht mehr
besonders glücklich war, endete mit einer Scheidung, und in
Anbetracht der Vorgeschichte bekam der Vater das Sorgerecht für den
Sohn.
Island ist ein kleines Land, und über diesen Vorfall wurde ziemlich
viel geredet. Þórhildur beschloss, unterzutauchen, und ging nach
Australien. Sie arbeitete als Reinigungskraft in einem Krankenhaus
und setzte alles daran, trocken zu werden. So verbrachte sie einige
Jahre in Australien, wo sie die Anonymen Alkoholiker kennenlernte,
und Mut fasste, eine Fortbildung in forensischer Medizin zu
beginnen. Auf diese Art und Weise konnte sie ihr vorhandenes Wissen
nutzen, ohne wieder Verantwortung für lebende Patienten tragen zu
müssen.
Als schließlich ein Gerichtsmediziner in Island gesucht wurde, bewarb sie sich und bekam die Stelle. So haben wir uns kennengelernt.
Magnús, der Junge, von dem wir sprachen, wuchs bei seinem Vater
auf, der ein unsolides, ausschweifendes Leben führte. Nachdem sie
zurückgekehrt war, versuchte Þórhildur, ihrem Sohn wieder
näherzukommen, aber er war voller Zorn, denn er fühlte sich von ihr
verstoßen, als sie das Land verlassen hatte. Schon jung begann er
mit dem Trinken, flog von der Schule und hat sich mehr oder weniger
selbst versorgt, seit er dreizehn war.
Er hat sich bei seiner Mutter immer nur gemeldet, wenn er Geld
brauchte. Sie hatte immer das Gefühl, ihm etwas schuldig zu sein,
wobei sie bis heute nicht weiß, wie sie es wiedergutmachen soll,
und das hat er ganz geschickt auszunutzen gewusst. Bis jetzt. Vor
einigen Wochen rief er an und sagte, er sei in Holland. Seitdem
haben wir nichts mehr von ihm gehört.«
»Wie alt ist er?«
»Siebenundzwanzig. Wird achtundzwanzig diesen Sommer.« »Wovon hat
er gelebt abgesehen von seiner Mutter?«
»Von diesem und jenem, genau wie alle anderen Kleinkriminellen. Er
war Geldeintreiber und Dealer. Und er hat sich mit Geschäften wie
dem Import von Autos befasst. Er sagte, er sei Mitbesitzer eines
Nachtclubs, der sogenannte Revuetänzerinnen aus dem Baltikum holt.
In seinem polizeilichen Führungszeugnis findet sich nichts außer
einem Führerscheinentzug. Er ist ein intelligenter und gut
aussehender Junge. Aber das hilft ihm auch nichts, im Gegenteil,
ich glaube, dass seine Intelligenz ihn eher hemmt.«
»Er ist zu intelligent, um aufzugeben und aufzuhören?«
»Ja, genau. Mir scheinen die Menschen ihren Mist immer
weiterzumachen, solange sie sich nicht in eine existenzielle Krise
bringen. Wenn sie die Familie verloren haben oder im Job gekündigt
worden sind, dann geben sie auf. Magnús hat keine Familie und auch
keinen Beruf.
Er hat nur durch seine Cleverness überlebt und kann sonst nichts.
Für ihn gibt es keinen Grund, aufzuhören.«
*****
»Dunkelheit und Schneefall«, sagte van Turenhout. »In dieser
Geschichte kommen Dunkelheit und Schneefall vor, und sie spielt in
Island. Ansonsten ist sie haargenau so wie viele andere
Geschichten. Sogar der Junge gleicht dem Sohn meines Bruders aufs
Haar, auch wenn der bei seiner Mutter aufwuchs und nicht beim
Vater.«
»Und er ist auch in der Drogenszene?«
»Nein, er liegt auf dem Friedhof. Er wurde vorletztes Jahr in einer
Diskothek erschossen«, antwortete van Turenhout. »Wegen einer
Meinungsverschiedenheit über ein paar Gramm Kokain. Du kannst dich
darauf verlassen, dass ich versuche, herauszufinden, ob euer Junge
in Holland ist. Dann werde ich schon einen Grund finden, ihn
einsperren zu lassen, sodass er Zeit hat, über die Dinge
nachzudenken. Unser Frank wäre vielleicht noch am Leben, wenn ich
nicht gezögert hätte, meine Stellung zu missbrauchen, um ihn aus
dem Verkehr zu ziehen.«
*****
Víkingur verabschiedete sich vor dem Restaurant von seinem
Gastgeber und lehnte das Angebot, zum Hotel gebracht zu werden,
ab.
»Ich möchte einfach gerne noch einen Spaziergang
machen.«
In den Straßen pulsierte das Leben und die Menschenmenge war so
dicht, dass der Abendspaziergang zum Hotel länger dauerte, als er
gedacht hatte.
Es war exakt 22:56 Uhr, als er das Foyer des Hotels betrat, und
22:58 Uhr, als er die Zimmertür öffnete.
Vor elf wieder zu Hause, dachte er.
Drinnen war es dunkel und er zögerte, das Licht einzuschalten.
Þórhildur schlief sicherlich. Er schloss die Tür hinter sich und
trat in die Dunkelheit.
Er scheiterte mit seinem Vorhaben, leise zu sein, als er sich den
Fuß an einem Stuhl stieß, strauchelte und aufs Bett
stürzte.
»Entschuldige, das bin nur ich«, sagte er, damit Þórhildur nicht
glaubte, ein ungebetener Gast sei zu Besuch gekommen. »Ich habe
mich an einem Stuhl gestoßen«, fügte er hinzu. Nicht dass sie
dachte, er sei betrunken und könne sich nicht mehr auf den Beinen
halten.
Keine Antwort. Niemand lag im Bett. Im Dunkeln tastete er nach der
Nachttischlampe am Kopfende, fand die Schnur und machte das Licht
an.
Es war niemand im Raum außer ihm selbst.
Þórhildur war verschwunden.
Zuerst erschrak er.
Dann sah er wieder auf die Uhr. 23:00 Uhr.
Þórhildur musste irgendwann aufgewacht sein, nachdem er gegangen
war. Vermutlich war sie hungrig geworden und etwas essen
gegangen.
Sie ist gleich wieder da ...