Einundzwanzig


Ich küsse dich in alle Ewigkeit. In dem kurzen Moment, den man braucht, um diese Worte zu lesen, brach Víkingurs Welt zusammen. Er blieb allein in der schwarzen Leere stehen. Alles, was er war und hatte, verschwand auf einen Schlag.


Das Blatt Papier in seinen Händen wurde zu einer Lawine, die allen Raum um ihn ausfüllte und ihn erdrückte, sodass er keine Luft mehr bekam.


Er stieß einen erstickten Schrei aus und warf das Blatt von sich, rannte in den Flur und stieß die Tür zum Badezimmer auf. In Gedanken sah er Þórhildur in ihrem Blut in der Badewanne liegen und traute seinen eigenen Augen kaum, als er sah, dass niemand da war. Er taumelte rücklings aus dem Badezimmer, stieß sich den Nacken brutal am Türrahmen und schwankte in Richtung Schlafzimmer.


*****


Sie trug ein weißes Sommerkleid. Das weiße Sommerkleid, von dem Víkingur fand, dass es ihr besser stand als alle anderen Kleidungsstücke.


Sie lag auf der weinroten Decke des Ehebetts auf der Seite. Auf dem Nachttisch standen eine halbleere Rotweinflasche und ein leeres Kristallglas. Neben dem Nachttisch auf dem Boden lag eine Tablettenpackung, und als Víkingur sich danach bückte, sah er, dass auch noch ein Tablettenröhrchen unter den Nachttisch gerollt war.


Das Röhrchen war leer. Auf ihm stand: Stesolid, 5 mg.


Víkingur Gunnarsson. Eine Tablette bei Bedarf.


Auf dem Blisterstreifen stand: Atenolol. Alle Tabletten waren entnommen worden.


Víkingur strich vorsichtig das Haar von der Wange seiner Frau und schrak zurück, als hätte er sich verbrannt. Die Wange fühlte sich kalt und feucht an. In Panik tastete er nach der Halsschlagader. Der Hals fühlte sich wärmer an als die Wange. Víkingur spürte keinen Puls, sodass er an ihrem Handgelenk danach tastete, aber auch da nahm er keinen wahr. Die Finger waren eiskalt.              


Er schaute sich verzweifelt um. Auf dem Nachttisch stand ein gerahmtes Foto. Das Bild zeigte Magnús im Alter von einem Jahr, wie er die ersten Schritte machte.


Víkingur nahm das Bild und hielt es Þórhildur vors Gesicht. Er konnte keine Atmung wahrnehmen, glaubte aber, auf dem Glas einen Anflug von Beschlag zu sehen.


Er tätschelte ihr leicht die Wange und versuchte sie zu wecken. Riss das Telefon aus der Tasche.


112.


Dann setzte er sich neben sie aufs Bett und zog sie vorsichtig zu sich. Nahm sie in die Arme. Hielt sie fest.


Drückte ihr Gesicht an seins. Wiegte sich mit ihr in den Armen vor und zurück. Versuchte, seine Gedanken zu strukturieren. In seinem Geist fasste nichts anderes Fuß als das Entsetzen.


»Nicht«, flüsterte er. »Nicht. Nicht. Nein. Nicht gehen.«


Er legte Þórhildur wieder aufs Bett. Trocknete sich die Augen mit dem Handrücken. Beugte sich nach den Medikamentenpackungen und steckte sie in seine Tasche.


Er wusste weder ein noch aus. Konnte nicht fühlen, ob die Zeit verging oder stillstand.


Wie unter Hypnose ging er ins Fernsehzimmer und hob eine Häkeldecke auf, die zusammengefaltet auf dem Schaukelstuhl lag, den er Þórhildur geschenkt hatte.


Ging wieder ins Schlafzimmer. Hob sie hoch und wickelte die Decke um sie. Dann ging er los, mit seiner Frau auf den Armen, die Treppe hinunter, die so eng war, dass es für die Sanitäter mühsam wäre, dort mit einer Trage zu hantieren.


Er stand mit ihr im Flur, bis er den Krankenwagen nahen hörte. Öffnete dann die Haustür und ging dem Fahrzeug entgegen.


*****


Ärzte erwarteten sie bereits, als Þórhildur auf der Trage in die Notaufnahme gerollt wurde. Eine weißgekleidete Frau sprach mit Víkingur und nahm die Tablettenpackungen entgegen, die er eingesteckt hatte. Die Frau bat ihn zu warten und folgte den Ärzten, kam dann aber wieder zurück und fragte nach dem Namen von Þórhildur und ihrer Versicherungsnummer.


Das Nächste, was Víkingur wusste, war, dass er in einer kleinen Warteecke der Notaufnahme saß. Ihm gegenüber saß ein Junge in einem Schlafanzug mit Harry-Potter-Motiven.


Als der Junge Víkingurs Blick bemerkte, sagte er: »Mein Bruder ist aus dem Etagenbett gefallen. Mama ist bei ihm drinnen.«


»Aha«, sagte Víkingur und versuchte zu lächeln.


»Er hat geblutet«, sagte der Junge. »Er wollte ausprobieren, wie es ist, im oberen Bett zu schlafen.«


Víkingur versuchte, eine passende Antwort zu finden, aber es fiel ihm nichts anderes ein als: »Aha.«


»Ich bin mal genäht worden«, sagte der Junge.


»Aha«, stöhnte Víkingur.


»Warum sagst du so oft >Aha<?«, fragte der Junge.


Gute Frage.


»Entschuldige«, antwortete Víkingur. »Meine Frau ist krank. Ich habe an sie gedacht.«


»Muss sie genäht werden?«, fragte der Junge.


»Nein, das bezweifle ich«, sagte Víkingur.


»Das ist gut«, sagte der Junge. »Es ist voll fies, wenn man genäht werden muss.«


»Aha«, sagte Víkingur.


Seine Gedanken rasten im Kreis.


Wieder und wieder stand er an der Tür zum Schlafzimmer. Manchmal war Þórhildur gestorben.


Manchmal schlief sie zusammengerollt auf der weinroten Decke und wachte auf, als er hereinkam, reckte sich und fragte: »Wie spät ist es?«


Dann schüttelte sie die Locken aus ihrem Gesicht und er umarmte sie und spürte einen Eisklumpen in seinen Armen.


Als er aufschaute, war der Junge im Schlafanzug fort und ein Mann in einem weißen Kittel war an seine Stelle getreten.


Víkingur registrierte den Namen des Mannes nicht und hörte zuerst nicht, was er sagte. Versuchte, aus seinem Gesichtsausdruck abzulesen, ob die Botschaft gut oder schlecht sei.


Der Arzt hielt die leeren Tablettenpackungen in der Hand und sagte: »Atenolol ist ein Betablocker, das ist also ein Medikament, was den Herzschlag verlangsamt und die Kraft, mit der das Herz schlägt, verringert. Dieses Medikament wird gegen zu hohen Blutdruck verschrieben und kann sehr nützlich sein. Eine zu hohe Dosis, von der wir hier anscheinend ausgehen müssen, birgt andererseits das große Risiko, dass der Herzschlag komplett aussetzen kann. Das zweite Medikament, Stesolid, wird auch Valium oder Diazepam genannt, entspannt die Muskeln und hat eine beruhigende Wirkung; es verträgt sich deswegen nicht gut mit dem anderen.«


»Lebt sie?« Víkingur konnte sich nicht auf den Vortrag des Arztes konzentrieren.


»Ja, sie lebt, aber sie liegt immer noch im Koma«, antwortete der Arzt. »Sie ist auf die Intensivstation gebracht worden.«


»Wann wacht sie auf?« »Ich wünschte, ich könnte das beantworten. Wir haben ihr Atropin gegeben, eine Intubation vorgenommen und den Magen nach Gabe von Kohletabletten ausgepumpt.


Sie wird jetzt beatmet und beobachtet. Wenn sie in den nächsten Stunden nicht zu Bewusstsein kommt, müssen wir eine Dialyse versuchen.«


»Was ist das?«


»Das ist eine Methode, um die Giftstoffe aus dem Blut zu entfernen. Dabei wird der Patient mit einer sogenannten künstlichen Niere verbunden.«


Koma. Beatmung. Künstliche Niere.


»Entschuldige«, sagte Víkingur. »Ich verstehe nicht ganz ... Wann wird sie zu sich kommen?«


»Das kann niemand voraussagen«, antwortete der Arzt. »Sie schwebt immer noch in Lebensgefahr, und Bewusstlosigkeit bzw. Koma kann lange währen.«


»Wie lange?«


»Unmöglich zu sagen.«


»Einige Stunden? Einige Tage? Einige Wochen?«


»Ja. Es ist unüblich, dass das Koma länger als ein paar Tage oder Wochen dauert. Zwei bis fünf Wochen höchstens. Aber es gibt auch Ausnahmen und es gibt Beispiele von Menschen, die jahrelang im Koma lagen.«   

 


»Welche Chancen hat sie zu überleben?«


Die Antwort war so voller medizinischer Vorbehalte, dass Víkingur spürte, wie der Arzt ihm zu sagen versuchte, er solle sich auf das Schlimmste gefasst machen.


»Aber wo sie doch atmet, muss es doch möglich sein, sie zu retten«, sagte Víkingur und schämte sich zugleich für den fordernden Ton in seiner Stimme.


Er selbst war es, der sie hätte retten müssen.


»Ich kann dir versichern, dass wir alles tun, was uns möglich ist«, sagte der Arzt. Víkingur sah, dass »Þorsteinn« auf dem Plastikschildchen stand, das an der Brusttasche des Arztkittels befestigt war.


Das Leben von Þórhildur lag jetzt in den Händen eines völlig fremden Mannes.


»Darf ich sie sehen?«, fragte Víkingur. »Darf ich bei ihr sein?«


»Selbstverständlich«, sagte Þorsteinn. »Wir kümmern uns gerade darum, dass alles so ist, wie es sein soll. Dann werde ich jemanden bitten, dich abzuholen und zu ihr zu bringen.«


»Bald?«


»Ja. Bald.«


Der Arzt verabschiedete sich von Víkingur mit einem Händedruck und entfernte sich anschließend schnellen Schrittes.


Víkingur blickte ihm nach, aber dann verschwamm das Bild des Arztes und an seine Stelle war Þórhildur getreten. Sie lächelte und nickte ihm zu, wie sie es gewöhnlich tat, wenn sie ihn ermuntern wollte, etwas zu tun, das er eigentlich gern wollte und sich nur nicht zu gestatten traute.


Nicht gehen, bat er in Gedanken, aber das Bild verschwand und er blieb allein zurück in einem kleinen Winkel des Krankenhausflurs.


Gott, der allzeit in der Nähe ist, war nie unsichtbarer gewesen.


*****


Er saß an ihrem Bett auf der Intensivstation und hielt ihre Hand, hielt die Hoffnung fest und das Leben, das immer noch in ihren Adern pulsierte. Mitten in der Nacht spürte er zum ersten Mal eine Bewegung von Þórhildur. Die Finger, die er in seinen Händen hielt, zitterten und zuckten. Er meinte ihre Augenlider sich bewegen zu sehen und schoss auf der Suche nach einem Arzt aus dem Zimmer.


Die Krankenschwester, die ihm auf dem Gang entgegenkam, sagte ihm, dass auch bewusstlose Menschen sich bewegen können, ohne dass es bedeute, dass sie aufwachten.


»Das ist genauso natürlich wie sich im Schlaf zu bewegen«, sagte sie und strich Þórhildurs Bettdecke glatt. »Es gibt sogar Fälle, in denen Wachkomapatienten aufgestanden und umhergegangen sind, als würden sie schlafwandeln. Beruhige dich und versuch, dich ein wenig auszuruhen. Wir beobachten alle Lebenszeichen hier auf den Monitoren im Bereitschaftszimmer. Soll ich dir etwas geben, damit du besser einschlafen kannst?«


Das wollte er nicht. Wusste selbst kaum, ob er wachte oder schlief, wie er so am Bett der Frau saß, die er über alles in der Welt liebte. Die Zeit stand entweder still oder verging sprunghaft. Gedanken kamen und gingen, ohne dass er sie greifen konnte. Manchmal in Gruppen, die randalierten und aufeinander einprügelten, ohne dass er für Ruhe sorgen konnte. Manchmal schossen sie mit Schallgeschwindigkeit durch den Kopf und manchmal bewegten sie sich schneckengleich. Es kam auf dasselbe hinaus. Er gab es auf, seine Gedanken in den Griff bekommen zu wollen, und versuchte, sich vom Chaos in seinem Kopf abzuriegeln.


Seine Gefühle hatten sich zu einem festen Knoten zusammengezogen, der fast zu ertasten war und oberhalb des Herzens lag. Die Angst schnürte die Hoffnung ab.


Der Schmerz war so unerträglich, dass sein Bewusstsein ertaubte. Er war hungrig, durstig, müde, schläfrig ohne essen, trinken, ruhen oder schlafen zu können.


Er wünschte sich von ganzem Herzen, dass es sich um einen Albtraum handele und er erwachen würde, indem Þórhildur ihm ins Ohr flüsterte: »Wenn du vorhast, weiterzuschnarchen, musst du auf den Balkon umziehen.«


Er schrak auf und erblickte Þórhildur, die allein in einem fremden Bett ruhte und einen tiefen Schlaf schlief.


Er selbst war komplett bekleidet und saß in einem halbdüsteren Krankenzimmer in einem unbequemen Sessel an ihrer Seite, und der Angstknoten schwoll und füllte seine Brust aus, sodass er kaum Luft bekam.


Er wartete am Rande des Bewusstseins darauf, dass seine Frau wieder erscheinen und aus dem schwarzen Nebel jenseits der Grenze, die ihm verschlossen war, den Weg nach Hause finden möge.


So vergingen Tage und Nächte.


*****


Er starrte auf die Uhr an der Wand, ohne sie zu bemerken, als ihn plötzlich drei weißgekleidete Frauen umringten. Sie stammten nicht aus dem Nebel, sondern aus derselben Richtung wie er, und zwar von dort, wo ihm sein Bewusstsein abhandengekommen war.


»So, mein Lieber«, sagte eine von ihnen. »Keine Veränderung heute Nacht. Das bedeutet einfach, dass sie sich ausruht.«              


»Das musst du auch tun«, sagte eine andere. »Du machst dich nur kaputt, wenn du hier so sitzt. Du kannst nichts für sie tun, wenn du nicht auch an dich denkst.«


»Jetzt wollen wir Þórhildur baden und hier aufräumen«, sagte die dritte. »Du nimmst dir ein paar Stunden Pause und fährst nach Hause, nimmst ein Bad, rasierst dich und machst dich frisch. Wir werden uns um Þórhildur kümmern. Sie wird solange in guten Händen sein.«


*****


Er fühlte sich zu Hause in der Mjóstræti überflüssig.


Da gab es einen Stuhl und einen Tisch und da gab es einen Fernseher. Er hatte keinen Bezug zu den Möbeln. Es war, als befände er sich im Zuhause fremder Menschen, die jederzeit heimkommen konnten.


Die Zeitungen, die sich hinter dem Briefschlitz angesammelt hatten, stapelte er ungelesen und nahm sich vor, sie in den Mülleimer zu werfen, sobald er wieder ins Krankenhaus fuhr. Einige Briefumschläge legte er auf der Küchenbank ab, bevor er zum Fenster ging und sah, dass die Frau im nächsten Haus ihre Bettdecken zum Lüften auf den Balkon hängte, als sei nichts geschehen.


Er zwang sich, die Briefe zu öffnen. Lotteriescheine.


Als hätte er einen Grund, an unverhofftes Glück zu glauben. Eine Benachrichtigung vom Zoll für Þórhildur, dass sie eine Sendung bekommen hatte. Eine Zahlungserinnerung für einen Kredit, mit dem er nichts anfangen konnte, obwohl Þórhildurs Name auf dem Schein stand.


Immobilienkredit? Zahlung Nummer 4 von 170. Soll 11 441 820. Tilgung 19 562. Zins 49 581. Gebühren 195.


Gesamtzahlung 69 338 Kronen.


Was war das für ein Unfug? Ein Kredit über elf Millionen Kronen, von dem er nichts wusste.


Er schüttelte den Kopf und konzentrierte sich auf den Zahlschein.


Plötzlich erinnerte er sich an das Gespräch.


Wo wir von Drogenschulden sprechen, da gibt es noch etwas, was ich dir noch nicht gesagt habe. Ich habe einen kleinen Kredit aufgenommen, um eine Sache wieder hin zubiegen. Du musstest einen Kredit für die Drogen aufnehmen?


Nein, du verstehst mich falsch. Ich habe den Kredit für Magnús aufgenommen. Ihm waren irgendwelche Übeltäter auf den Fersen. Ich habe nur getan, was jede andere Mutter auch tun würde. Sie hätten ihn umgebracht, wenn er nicht bezahlt hätte.
Wie viel Geld hast du ihm gegeben?


Ach, daran erinnere ich mich jetzt nicht. Können wir nicht später darüber sprechen? Manchmal ist es echt ganz schön schwierig, offen und ehrlich zu dir zu sein.
So schwierig, dass sie aufgegeben hatte.