Neunzehn


Theódór Albertsson war schon weit über achtzig, sah aber aus, als wäre er fünfzehn oder zwanzig Jahre jünger.


Er interessierte sich für Technik und hatte als Jugendlicher eine Ausbildung zum Funker gemacht und als solcher auf Trawlern gearbeitet. Als für ihn abzusehen war, dass moderne Technik die Arbeit des Seefunkers überflüssig machen würde, hatte er eine Anstellung bei der Polizei gesucht, die damals technisch versierte Mitarbeiter brauchte, um Telefone abhören zu können. Mit Cleverness war er von der Abhörabteilung weggekommen und hatte im Prinzip die technische Abteilung der Polizei selbst ins Leben gerufen. Untersuchungen von Fingerabdrücken waren seine Spezialität, und da niemand im Land über genug Wissen verfügte, um ihn zu ersetzen, arbeitete er als Selbstständiger weiter für die Polizei, nachdem er in Rente gegangen war. Wissen jeglicher Art war sein Ein und Alles, und er behauptete, die einzige Methode, die Verkalkung aufzuhalten, sei es, dem Gehirn ständig neue Aufgaben zu verschaffen. Es war schwer, einem Mann zu widersprechen, der diese Überzeugung vorlebte und vor Lebensfreude und Interesse so strahlte, wie Theódór es tat.


Als Randver die Tür des Versammlungsraumes schloss, um anzudeuten, dass die Pause vorüber sei, hatte Theódór den Laptop schon mit dem Beamer verkabelt. Er kam direkt zur Sache: »Hier zuoberst seht ihr die Zeichen, die Víkingur fotografiert hat, das rechts hat er in Den Haag von der Leiche aus Rotterdam gemacht, das links ist vom Leichenschauhaus auf dem Flughafen Schiphol. 

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In der unteren Reihe als zweites von rechts taucht dasselbe Zeichen zum dritten Mal auf und dieses Mal viel deutlicher als zuvor, denn es ist in die Rinde eines Baumes geritzt und nicht in einen toten Menschen, äh, oder einen lebendigen. Wir haben es von der Polizei in Estland übermittelt bekommen. Dort ist ein Amphetaminlabor mitsamt denen, die dort getötet worden waren, niedergebrannt worden.


Die mögliche Verbindung zu Island steckt in den sich ähnelnden Runen auf den Toten in Holland. Einer von ihnen war Isländer, und bei dem anderen wurden isländische Zeitungen gefunden.


Runen sind jedoch kein speziell isländisches Phänomen, sondern ein uraltes germanisches.


Um wieder auf die Verbindung zu Island zurückzukommen, so muss man berücksichtigen, dass es sein kann, dass das Amphetaminlabor in irgendeiner Form von einem oder mehreren Isländern betrieben wurde.


War dieselbe Hand bei allen Fällen im Spiel? Oder stehen viele dahinter, die eine gemeinsame Idee zum Ausdruck bringen, eine einheitliche Gesinnung? Wobei ich es interessant finde, dass ein Zeichen nur an einem Ort gefunden wurde. In Estland.


Also beginnen wir mit der Ausnahme: Was bedeutet dieses Zeichen?


Es ist offenbar zusammengesetzt, denn es hat einfach niemals eine Rune gegeben, die so aussieht.


Also fragt man sich: Woraus ist es zusammengesetzt?  


Hier ist die Antwort darauf, jedenfalls meine Antwort:

 

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Das Zeichen ist nicht symmetrisch. Also die rechte Seite ist kein Spiegelbild der linken und umgekehrt und das gibt Anlass zur Vermutung, dass es sich um zwei Zeichen handelt, die zu einem zusammengezogen worden sind. Schließlich stellt sich heraus, wenn man jede Seite für sich betrachtet, dass es sich um zwei eigenständige Zeichen handelt, hervorragend lesbar: die Zahl 4 und eine Rune, die offenbar R bedeutet.


Die Antwort ist also 4R.


Die nächste Frage ist dann: Was bedeutet das Zeichen 4R?


Um die Antwort zu finden, muss ich euch bitten, mit mir ein paar Jahre in die Vergangenheit zu reisen. Und zwar zum 6. Juni 1944. Weiß jemand, was an diesem Tag geschehen ist?«


Theódór schaute sich lächelnd um. Im Juni 1944 war er zwölf Jahre alt gewesen, der einzige Anwesende, der zu dem Zeitpunkt schon auf der Welt war.


»Die Invasion in die Normandie«, murmelte Marinó.


»D-Day. Das weiß doch jeder.«


»Sehr gut«, fuhr Theódór fort. »Die genaue Datumsangabe ist vielleicht nicht das Wichtigste, aber im Frühsommer 1944 war den meisten Anführern der Nazis in Deutschland klar, dass der Krieg verloren war, und die Landung der Alliierten in der Normandie war die endgültige Bestätigung der nahenden Niederlage. Es sei denn, es würde ein Wunder geschehen.


Daher war guter Rat teuer. Adolf Hitler und sein engster Mitarbeiter, Martin Bormann, sahen das Ende kommen und dass es anders ausfallen würde, als sie angestrebt hatten. Deswegen griffen sie zu dem, was wir heute Plan B nennen würden.


Plan B, der das bestgehütete Geheimnis Hitlers war, bekam den Decknamen
Aktion Feuerland.


Das persönliche Testament Hitlers bestätigt, dass es Martin Bormanns Aufgabe war, die Aktion Feuerland durchzuführen. Die Aufgabe war dreigeteilt: Erstens unvorstellbare Mengen Vermögen anzusammeln.


Zweitens hochrangigen Nazis nach Ende des Krieges aus dem Land zu helfen.


Und drittens das, was vom Vermögen übrig blieb, darauf zu verwenden, die Gründung des Vierten Reiches vorzubereiten.   

 


Das Vierte Reich. Deswegen 4R.


Mit anderen Worten: Es handelt sich um ein Nazi-Symbol, das vom Führer Adolf Hitler selbst kommt.«


»Ich glaube, du verlierst den Faden, Theódór«, meinte Randver.


»Da ist nur eins, was ich nicht verstehe«, sagte Terje.


»Und was?«, fragte Theódór.


»Ihr müsst entschuldigen, dass ich so schwer von Kapee bin«, sagte Terje. »Das ist alles in allem sehr interessant und bedeutsam, aber ich verstehe trotzdem nicht, warum es plötzlich superwichtig war, Elli vom Octopussy hier in Island zu töten, um das Vierte Reich in Estland zu gründen?«


»Jetzt dreh mir nicht die Worte im Mund herum, Kollege«, brummte Theódór. »Wenn ich vielleicht meine Erklärung, was diese Zeichen bedeuten, beenden dürfte, bevor wir zu den Fragen kommen. Ich bin noch nicht fertig.«


»Wir lassen Theódór unbedingt seine Rede beenden, ohne ihn zu unterbrechen«, sagte Randver. »Er hat sich unheimlich viel Mühe damit gegeben.«


»Es hat mir halt Spaß gemacht«, sagte Theódór. »Wir haben noch einige Zeichen zu besprechen.


Nehmen wir zuerst die Runen. bedeutet einfach L und bedeutet T. LT scheint irgendeine Form von Abkürzung zu sein.


Vielleicht die Initialen von jemandem. Vielleicht auch nicht. LT auf Nummernschildern ist das Kennzeichen für Litauen. Lt kann eine Abkürzung für Leutnant sein. Die Kombination kann im Prinzip in allen Sprachen der Welt irgendetwas heißen. In Runenschrift wird nicht zwischen Groß- und Kleinbuchstaben unterschieden. Da diese Runen im Zusammenhang mit Zeichen für das Vierte Reich aufgetaucht sind, liegt es am nächsten, sie mit der germanischen Symbolik der Nazis oder besser gesagt der Neonazis in Verbindung zu bringen. Was mir diese These zu untermauern scheint, sind diese beiden seltsamen Vögel«, sagte Theódór und zeigte das nächste Bild.  

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»Links ist der, der in Estland gefunden wurde, rechts der aus dem Sommerhaus am Þingvallavatn. Die Bilder sind erstaunlich ähnlich. Auf beiden Bildern sieht es aus, als stünde der Vogel mit ausgebreiteten Flügeln da. Auf beiden Bildern ragen die Flügel in Relation zum Kopf gleich hoch. Die Frage ist: Was ist das für ein Vogel?  

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Könnte es dieser Vogel sein?«, fragte Theódór. »Das ist der Bundesadler aus dem Wappen Deutschlands. Der Adler ist seit Langem ein deutsches Wappentier.

 

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Hier ist der Reichsadler in einem älteren Wappen zu sehen, das alle kennen und über das ich nichts weiter sage.


Der Reichsadler hat eine längere Geschichte. Er ist auf einer Silbermünze zu sehen, die irgendwann in den Jahren 1170 bis 1190 geprägt wurde, also zu der Zeit, als Snorri Sturluson aufwuchs. Diese Münze wurde vom Heiligen Römischen Reich Deutscher Nation herausgegeben, dessen Kaiser zu der Zeit Friedrich Barbarossa war. Er regierte von 1155 bis 1190 und war Deutscher mit Haut und Haar. Barbarossa, der Rotbart, stammte von einem der berühmtesten Adelsgeschlechter Deutschlands ab, nämlich den Staufern. Dieses Geschlecht führte damals einen schwarzen Adler auf goldenem Grund im Wappen. So sah es aus.  

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Kommt euch der Vogel nicht bekannt vor? Das ist der Staufer-Adler, wie er seine Flügel über die Ländereien der Staufer ausbreitet.


Übrigens war es Karl der Große, der sein Reich als eine Fortführung des antiken Römerreichs betrachtete.


Wissenschaftler haben darüber schon viel diskutiert und auch gesagt, dass sein Kaiserreich weder heilig noch römisch gewesen ist, aber wie dem auch sei, es existiert jedenfalls nicht mehr. Sein letzter Kaiser war Franz II. von Habsburg-Lothringen, das Reich wurde 1806 offiziell aufgelöst. Soweit ich weiß, leben in Europa trotzdem noch Angehörige der alten Adelsgeschlechter, die Anspruch auf dieses Amt erheben. Einer von ihnen nennt sich Karl II. und behauptet, >de jure< Kaiser des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation zu sein. >De jure< bedeutet, wie ihr wisst, >entsprechend den Gesetzen< oder >gesetzesgemäß<. Wie ich hörte, sitzt er in irgendeinem Schloss, erforscht den lieben langen Tag seine noble Herkunft und kommt wenig unter die Leute, denn er ist schließlich schon über neunzig.


Das Vierte Reich, von dem ich sprach, ist nicht nur der Traum von der Wiederauferstehung des >Dritten Reiches<, sondern auch der Fortführung des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation.


Ich kann euch allerdings nicht sagen, was diese Zeichen für denjenigen oder diejenigen bedeuten, die sie hinterlassen haben ­ nur, was sie eventuell bedeuten könnten.«


Theódór schaltete den Beamer aus. Die Vorlesung war beendet.


Niemand sagte etwas. Randver blickte verzweifelt auf Víkingur, der seit Beginn der Besprechung kein Wort von sich gegeben hatte und auch jetzt nicht so aussah, als würde er etwas sagen wollen.


»Wir danken Theódór für diese Zusammenfassung«, sagte er zögernd. »Naturgemäß haben wir gehofft, dass diese Kritzeleien uns einen Hinweis in irgendeine bestimmte Richtung gäben. Vielleicht tun sie das ja auch.              


Das Schwierige ist nur, zu sehen, wo die Fäden, die Theódór gesponnen hat, hinführen. Trotz allem, muss ich sagen, fällt es mir schwer, mir vorzustellen, dass eine Etappe auf dem Weg zur Gründung des Vierten Reiches darin bestehen soll, Elli vom Octopussy zu foltern und zu töten und ein Amphetaminlabor in Estland niederzubrennen.«


»Ich sehe das genauso«, sagte Dagný. »Ich finde es auch wichtig, zu erwähnen, dass die Kritzeleien möglicherweise völlig bedeutungslos und nur dafür gedacht sind, unsere Untersuchung zu erschweren.«


»Gut möglich, dass ich diese Zeichen falsch interpretiere«, sagte Theódór. »Das, von dem ich glaube, es sei ein L und ein T, kann was auch immer bedeuten. Wenn man nach LT bei Google sucht, taucht nichts auf, was einen klaren Hinweis liefern würde. Die einzige Verbindung, die ich gefunden habe, ist ziemlich weit hergeholt. LT ist eine Abkürzung bei einem schottischen Ritterorden, der sich Orden von der Distel nennt, und zwar für die >Lady of the Order of the Thistle<. Der weit hergeholte Zusammenhang liegt darin, dass einige die Gründung dieses Ordens in die Zeit Karls des Großen zurückführen ­ der wiederum der erste Kaiser des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation war, und damit wären wir wieder bei der germanischen Geschichte angelangt.


Es ist wie gesagt sehr schwer, Runen und Symbole zu deuten. Wir müssen schließlich auch beachten, dass ein jeder, dem danach ist, Symbole verwenden kann, ohne dass er eine Vorstellung davon haben muss, was sie bedeuten, oder Runen einritzen kann, wobei man Hellseher sein müsste, um zu erraten, was er damit ausdrücken möchte.


Unsere Symbole sind unzweifelhaft mit der Nazizeit und dem Dritten bzw. Vierten Reich verbunden, aber wir können nicht sagen, welche Bedeutung ihr Urheber ihnen beimisst.« »Wissen wir also genauso wenig wie zuvor?«, fragte Terje.


»Nein«, sagte Theódór. »Solange wir heute etwas mehr wissen als gestern, sind wir auf dem richtigen Weg.«


»Es gibt vieles, das wir nicht wissen«, sagte Randver.


»Hat dieselbe Hand alle Symbole geritzt? In Rotterdam, auf dem Flughafen Schiphol, in Estland und dann am Þingvallavatn? Oder sind es verschiedene Personen, die vielleicht auf eine bestimmte Art verbunden sind? Sind es Isländer, die sich auf einen Wikingerraubzug begeben haben? Oder sind es Ausländer, die nur nach Island gekommen sind, um zu ihrem Vergnügen jemanden umzubringen, und längst wieder in ihre Heimat zurückgekehrt sind?«


In diesem Augenblick begann das Mobiltelefon von Víkingur zu klingeln. Er schaute auf die Nummernanzeige, bevor er antwortete. Das Gespräch war kurz. Víkingur legte das Telefon auf den Tisch und sagte: »Der Kritzler scheint uns nicht verlassen zu haben. Es wurde gerade eine weitere Leiche gefunden.«


»Und ich wollte heute Abend grillen«, sagte Terje. »Ich habe den ganzen Tag nichts anderes gegessen als Kaninchenfutter.«