Als Edda von ihrem Einkauf in Hella zurückkam, rief sie nach ihrem
Sohn, um ihn zu bitten, ihr mit den Einkaufstaschen zu helfen. Sie
war überrascht, dass der Junge nicht im Haus war. Ohne Auto
entfernte er sich gewöhnlich nicht weit. Sie schaute hinter der
Scheune nach.
Der Traktor stand an seinem Platz. Was hatte er sich jetzt
vorgenommen?
Sie musste zweimal gehen, um die Taschen hineinzutragen. Sie
auszuräumen und die Einkäufe in den Kühlschrank und die
Speisekammer zu stellen dauerte nicht lang. Sie hatte diesmal auch
daran gedacht, eine Großpackung Djæf-Eis am Stiel für Karl Viktor
zu kaufen, wie er ihr schon so oft aufgetragen hatte.
Sie schaute auf die Uhr in der Küche. Es war noch Zeit, sich einen
Schluck Tee zu genehmigen und sich kurz an den Computer zu setzen,
bevor sie sich um das Abendessen kümmern musste.
Siedewurst und Kartoffelpüree aus der Packung mit Ketchup und
geschmolzener Margarine. Edda war nicht dazu erzogen worden, ihr
Leben mit dem Zubereiten von Mahlzeiten zu verbringen.
*****
Soweit jemand, der einem Elektroschock von fünfzigtausend Volt
ausgesetzt und an eine Wand genagelt worden ist, sich überhaupt
seiner Lage bewusst werden kann, gelang es Terje langsam, sich zu
orientieren.
»Wo sind wir?«, stöhnte er.
»Du bist ein Gefangener des Schlosses Bran«, antwortete Karl
Viktor. »Wie du hörst, beantworte ich deine Fragen, und jetzt
beantwortest du meine. Ich habe dich gefragt, wer dich geschickt
hat?«
»Ich bin von der Kriminalpolizei«, sagte Terje. »Wir suchen Leute,
die Magnús Brynjarsson kennen.«
»Er ist im Krieg gefallen«, sagte Karl Viktor und fügte zur
Erklärung hinzu: »Im Kampf gegen die Feinde.«
»Welche Feinde?«, fragte Terje. »Du musst mich losmachen, damit ich
sie verhaften kann.«
Sein Bewacher kicherte. »Du hast vor, tausend Millionen Menschen zu
verhaften, wo du dich nicht einmal bewegen kannst?«
»Sind es so verdammt viele?«, fragte Terje. »Dann sollten wir wohl
besser zusammenhalten. Verstehst du nicht, dass ich dir helfen
kann, wenn du mich losmachst?«
Trotz brennender Schmerzen in jedem Nerv seines Körpers und den
Schmerzwellen, die seine Hände mit jedem Herzschlag aussandten,
erkannte Terje, dass sein Quäler vollkommen geistesgestört sein
musste. Die einzige Möglichkeit, zu entkommen, bestand darin, sich
freizureden.
»Weißt du, dass allein in der EU sechzehn Millionen Feinde dabei
sind, uns mit allen verfügbaren Mitteln zu zerstören?«
»Sag mir, welche Leute das sind, damit ich diese Informationen an
Interpol weiterleiten kann. Das ist ein internationaler
Zusammenschluss der Polizei aus fast zweihundert
Ländern.«
Wieder kicherte sein Wärter. »Einhundertsechsundachtzig Ländern.
Glaubst du, ich weiß nicht, was Interpol ist? Glaubst du, ich
wüsste außerdem nicht, dass sich der Feind bei Interpol eingenistet
hat? Was glaubst du, wer ich bin?«
»Sag es mir«, bat Terje. »Wer bist du? Welche Rolle spielst du in
dieser Angelegenheit? Sag mir, wie ich dir helfen kann.«
Karl Viktor musterte seinen Gefangenen einen Moment lang, als ob er
sich darüber klar werden wollte, ob dessen Unterstützungsangebot
von ganzem Herzen käme. Dann sagte er: »Du kannst mir nicht helfen.
Niemand kann mir helfen. Niemand außer mir versteht den großen
Zusammenhang. Nicht einmal meine Mutter will ihn begreifen. Sie
glaubt, es dreht sich alles nur um Rauschgift. Aber sie ist eben
nur eine Frau, auch wenn sie meine Mutter ist.«
Wäre er nicht an eine Wand genagelt und dem Gutdünken dieses Irren
ausgesetzt, hätte Terje es verlockend gefunden, zu fragen, ob denn
seine Mutter etwas anderes als eine Frau sein könne. Stattdessen
sagte er: »Ich kann nicht ganz einordnen, wo wir uns
befinden.
Du sagst, wir sind im Schloss Bra. Wo sind wir genau?«
»Schloss Bran«, korrigierte Karl Viktor. »Du verstehst gar nichts.
Du weißt gar nichts. Du kannst gar nichts.«
»Hilf mir, zu verstehen«, sagte Terje. »Ich hätte gedacht, dass
jemand wie du, der so viele Feinde hat, es gern annehmen würde,
wenn ihm jemand zur Seite stehen will.«
Diese Argumentation schien eine gewisse Wirkung zu
zeigen.
»Das Schloss ist nach der Festung benannt, die mein Vorfahr
errichtet hat, um Europa vor den Angriffen der Feinde zu schützen.
Er tötete sie zu Tausenden und hat ganze Armeen gepfählt, um andere
abzuschrecken und seine Untertanen zu schützen.«
»Wer war dieser gute Vorfahr von dir?«
»Er hieß Vlad Tepes und war Woiwode über die Wallachei und ein
Ritter aus dem Orden des Drachens. Weißt du, was das für ein Orden
ist?«
»Nein, sag es mir.«
»Der Orden des Drachens wurde gegründet, um den östlichen Teil
Europas und das Heilige Römische Kaiserreich gegen die Invasionen
des türkischen Osmanenreiches zu beschützen. Die Leiter des Ordens
waren Sigismund von Luxemburg, der Kaiser des Heiligen Römischen
Reiches, die Könige von Polen und Serbien und mein Urahn, Vlad
Tepes, der den Titel Draculea von der Societas Draconis
bekam. Das ist der
Orden des Drachens auf Latein.«
Terje stöhnte, weil die Schmerzen ihm zusetzten, aber auch, weil er
nie geahnt hätte, dass er sein Leben in einem Verlies aushauchen
würde, in der Gewalt eines Psychopathen, der sich einbildete, ein
Nachkomme des Grafen Dracula zu sein.
*****
Víkingur stellte voller Verwunderung fest, dass ihm die Schläge,
wenn der BMW auf dem Weg nach Steinkross aufsetzte, durch Mark und
Bein gingen. Dieses Gefühl überraschte ihn, denn in letzter Zeit
hatte er sich vollkommen versteinert gefühlt.
Ist mir vielleicht alles auf der Welt egal, außer meinem Auto?,
dachte er und versuchte, an den größten Steinen auf der Straße
vorbeizusteuern. Dann muss ich ein richtig schlechter Mensch sein.
Auf dem Parkplatz vor dem Hof stand ein ziemlich neuer
Mercedes-Benz-Geländewagen.
»Ich wusste nicht, dass man mit Pferden so viel verdienen kann«,
sagte Randver und machte eine Kopfbewegung in Richtung des
Geländewagens.
Edda hatte die beiden bemerkt und stand in der Haustür, als sie
sich dem Haus näherten. Sie war groß, dunkelhaarig und stark
gebaut. Víkingur musterte sie. Trotz ihrer Größe war etwas Feines
an dieser Frau und sie schien junggeblieben zu sein. Könnte
zwischen vierzig und fünfzig sein, dachte er, obwohl sie eigentlich
eher sechzig sein musste.
Edda lächelte sie an und grüßte mit Neugier im Blick.
»Guten Tag. Von wo kommt ihr?«
Sie sprach makelloses Isländisch, außer dass sie das R nicht
rollte.
Víkingur nannte seinen Namen und Randver tat es ihm
nach.
»Wollt ihr noch weit?«, fragte Edda. »Mit dem Auto kommt ihr auf
diesem Weg nicht mehr weiter.«
»Nein, wir wollten nicht weiter als bis hierhin«, sagte Víkingur,
nachdem er aufgegeben hatte, darauf zu warten, dass Randver das
Wort ergreifen möge. Schließlich war Randver dienstlich unterwegs.
Víkingur war nur als Begleiter mitgekommen.
»Ich habe momentan keine Pferde im Stall, die ich euch zeigen
könnte. Wenn ihr angerufen hättet, hättet ihr euch die Fahrt sparen
können.«
»Wir hatten gar nicht vor, Pferde anzusehen«, sagte Víkingur. »Wir
suchen eigentlich unseren Kollegen, dessen Mobiltelefon aus
ist.«
»Wenn er hier langgefahren ist, ist es kein Wunder, dass er nicht
antwortet. Hier hat man so gut wie keinen Netzempfang, außer
manchmal an einem Punkt im Wohnzimmer, exakt wenn man am Kamin
steht.«
»Du hast ihn also nicht gesehen?«, fragte Randver. »Er heißt Terje
Joensen.«
»Kriminalpolizist«, fügte Víkingur an.
»Seid ihr also von der Kriminalpolizei?«
»Er fährt einen weißen Toyota, einen alten«, sagte
Randver.
»Wollte er hierher zu uns?«
»Ja, das dachten wir«, sagte Víkingur.
»Ich habe niemanden gesehen«, sagte Edda. »Aber das heißt nichts,
weil ich gerade erst aus der Stadt nach Hause gekommen
bin.«
»Reykjavík?«, fragte Randver.
»Nein, unsere Stadt zum Einkaufen ist Hella«, sagte Edda. »Aber ich
kaufe auch manchmal in Hvolsvöllur ein. Nein, ich habe ihn nicht
gesehen und auf dem Weg hierher auch niemanden getroffen. Seid ihr
sicher, dass er den Weg hierher gefunden hat?«
»Nein, eigentlich nicht«, sagte Randver. »Aber er geht nicht ans
Telefon, also haben wir beschlossen, uns nach ihm
umzusehen.«
»Er ist jedenfalls nicht hier, wie ihr seht«, sagte
Edda.
»Kommt doch trotzdem einen Augenblick herein und trinkt einen
Kaffee, bevor ihr zurückfahrt.«
»Das können wir unmöglich annehmen, danke. Es ist fast schon
Abendessenszeit«, sagte Randver.
»Ich würde eine Tasse Kaffee nicht ausschlagen«, sagte Víkingur.
»Wenn es nicht zu viel Umstände macht?«
»Das macht überhaupt keine Umstände«, sagte Edda.
»Bitte, kommt herein.«
Nach isländischer Gewohnheit wollten sie im Eingangsbereich ihre
Schuhe ausziehen, aber die Dame des Hauses forderte sie mit
Nachdruck auf, sich damit nicht weiter abzugeben.
»Es ist natürlich ein guter Brauch, die Häuser nicht in Schuhen zu
betreten, aber ich habe mich daran nie gewöhnen können. Ich finde
Menschen auf Socken nicht komplett angezogen. Auch wenn ich schon
lange in Island lebe.«
»Wie lange lebst du schon hier?«, fragte Randver.
»Wir sind '69 hierhergekommen. Ausrechnen musst du es selbst. Ich
zähle meine Jahre nicht.«
»Woher kommst du, wenn ich fragen darf?«
»Natürlich wissen alle Isländer, woher jeder kommt.
Aus dem Westen, dem Osten oder dem Norden des Landes. Ich sage
immer, ich komme aus dem Süden, also aus dem Süden von
Europa.«
»Und woher?«
»Woher meine Familie stammt?«, sagte Edda. »Das ist auch eine nette
Sitte, die Familien der Menschen Jahrhunderte zurückzuverfolgen.
Ich bin in Wien geboren, aber meine Familie stammt aus Ungarn und
Rumänien.
Mein Mann war Deutscher. Er hat mich ein kleines bisschen zu spät
erwischt, denn als wir uns kennenlernten, war ich bereits
anderweitig verliebt.«
»Du bist also mit einem Isländer hierhergezogen?«
»Nein, das verstehst du falsch. Ich drücke mich auf Isländisch
vielleicht nicht ganz klar aus. Ich meinte, dass ich schon verliebt
ins Islandpferd war, als ich meinen Mann kennenlernte. Deswegen
sind wir nach Island ausgewandert. Glücklicherweise hat sich
nämlich auch mein Mann in ... in das Pferd der Götter verliebt. Es
hat uns hierhin getragen.«
Im Auftreten dieser Frau lag etwas Bezauberndes, sodass sie ihren
Erzählungen aufmerksam folgten. Sie sah die Romantik in ihren
Augen, lachte auf und sagte: »Pfui, was schwätze ich. Jetzt geh ich
aber und hole den Kaffee.«
Sie drehte auf dem Absatz um und ließ die beiden allein im
Wohnzimmer zurück.
»Großartige Frau«, sagte Randver leise.
Víkingur nickte. Ohne jeden Zweifel war die Frau etwas Besonderes.
Sie hatte eine enorme Präsenz. Er war sicher, sie schon einmal
irgendwo gesehen zu haben, konnte sich aber nicht erinnern,
wo.
Randver nahm sein Mobiltelefon und versuchte erneut, Terje
anzurufen.
»Jetzt klingelt es immerhin«, sagte er und wartete mit dem Hörer am
Ohr. »Aber er antwortet nicht. Was denkt sich der Kerl eigentlich?
Was sollen wir jetzt machen?«
»Wir können wenig anderes machen als das, was wir gerade tun«,
sagte Víkingur. »Wir schauen uns nach ihm um.«
Edda kam mit dem Kaffee in der Hand wieder und goss ihn in ihre
Tassen. Dann schaute sie sie abwechselnd an und sagte: »Ja, was ich
noch fragen wollte, welches Anliegen hatte euer Kollege denn
hier?«
Randver schaute Víkingur in der Hoffnung an, irgendeinen Hinweis zu
bekommen, wie er antworten sollte, aber Víkingurs Gesicht zeigte
keine Regung.
»Wir untersuchen, wie es zum Tod eines jungen Mannes kam, und wir
wissen, dass Karl Viktor, dein Sohn, und er vor nicht allzu langer
Zeit gemeinsam eine Auslandsreise gemacht haben.«
»Magnús?« Sie nannte den Namen mit leiser Stimme und nahm einen
ernsten Ausdruck an. »Ja, Magnús Brynjarsson.«
Plötzlich fiel Víkingur ein, wo er die Frau schon einmal gesehen
hatte. Auf der Beerdigung. Auf der Beerdigung von Þórhildur und
Magnús hatte er sie kurz gesehen, ohne ihr besondere Aufmerksamkeit
zu schenken. Er kannte ohnehin nur einen Bruchteil der
Anwesenden.
»Ich habe dich auf seiner Beerdigung gesehen«, sagte Víkingur.
»Meine Frau war seine Mutter.«
»Mein ganz herzliches Beileid«, sagte Edda mit Anteilnahme in der
Stimme. »Ich habe dich natürlich auch gesehen, aber ich wollte es
nicht ansprechen, als ihr ankamt. Man will keine Wunden aufreißen,
die begonnen haben, zu heilen.«
»Wie hast du mit Magnús Bekanntschaft geschlossen?«, fragte
Víkingur.
»Ich habe ihn erst diesen Frühling kennengelernt.
Nachdem meine Tochter starb. Sie waren Freunde. Er kam zur
Beerdigung hier runter und war ein paar Wochen bei uns. Er und Karl
Viktor, mein Sohn, verstanden sich gut. Magnús ist sogar diesen
Sommer mit uns nach Dänemark gefahren. Nach unserer Rückkehr blieb
er in Reykjavík, und einige Tage später erfuhren wir hier, dass er
gestorben sei.«
»Du sagst, dass deine Tochter und Magnús Freunde gewesen seien.
Meinst du damit, dass sie eine Beziehung hatten?«
»Sie waren sehr eng befreundet und mit der Zeit habe ich zu hoffen
begonnen, dass sie ein Liebespaar werden könnten. Ich glaube, sie
waren verliebt.«
»Dein Sohn, Karl Viktor, wo befindet er sich zurzeit?«, fragte
Randver.
»Er wohnt hier. Aber im Moment ist er nicht zu Hause.
Er muss rausgegangen sein.« »Du sagst, ihr seid diesen Sommer nach
Dänemark gefahren. War das das Ziel eurer Reise, oder seid ihr von
da aus noch weitergefahren?«, fragte Víkingur.
»Nein, wir waren nur in Dänemark die ganze Zeit. Wir haben einen
Leihwagen genommen und in kleinen Dörfern übernachtet. Es war
wunderschön dort und ganz toll, dass Magnús mitgekommen ist. Ich
sollte vielleicht dazusagen, dass Karl Viktor nicht ganz so ist wie
die meisten anderen. Er lebt in seiner eigenen Welt und geht seinen
Interessen nach.«
»Was sind denn seine Interessen?«
»Er sitzt viel am Computer. Und dann interessiert er sich für
Geschichte und Ahnenforschung. Er stöbert gern herum.«
»Ist er schon immer so gewesen?«
Edda musterte die beiden Männer. Vielleicht schätzte sie ab, wie
viel Vertrauen sie ihnen schenken sollte. Dann seufzte sie und
sagte: »Nein, er ist nicht immer so gewesen. Als Kind und
Jugendlicher war er ausgesprochen lebhaft und munter, aber er hat
sich verändert, so wie es alle tun, die mit Rauschgift zu tun
haben. Als er neunzehn Jahre alt war, hat er eine Psychose
bekommen, wurde in die Psychiatrie gebracht und hat einen Entzug
gemacht. Seitdem hat er keine Drogen mehr genommen, aber die
Persönlichkeitsveränderung ist geblieben und es besteht wenig
Hoffnung auf Besserung. Eigentlich überhaupt keine Hoffnung. Die
Ärzte haben viele Erklärungen. Vielleicht ist es Schizophrenie und
hat mit Drogen gar nichts zu tun.
Vielleicht haben die Drogen die Veränderung hervorgerufen.
Vielleicht rührt sie auch ausschließlich vom Drogenkonsum her.
Vielleicht hat er zu viel Haschisch geraucht. Vielleicht hat er
sein Hirn mit LSD durcheinandergebracht. Niemand weiß es genau.
Aber ich weiß, dass es die Schuld des Rauschgifts ist. Ich habe das
schon einmal gesehen.«
Edda verstummte. Sie war allem Anschein nach sehr betroffen und gab
sich größte Mühe, ihre Empfindungen im Griff zu behalten. Dann
bekam sie sich selbst unter Kontrolle und sagte kühl: »Schutzlos
habe ich zusehen müssen, wie die Drogen meinen Mann und meine
Tochter getötet und meinen Sohn in einen Zombie oder Schlafwandler
verwandelt haben. Ich, die ich mich für Tiere und die Natur, für
ein friedliches und schönes Leben interessiere, bin inzwischen
Spezialistin in Sachen Horror, Verbrechen und Erniedrigung. Ich
wähle Politiker, die das Land regieren sollen, und bezahle Steuern,
damit die Polizei für die Einhaltung der Gesetze sorgen kann. Ich
dachte, dass irgendjemand meine Kinder vor den Kriminellen aus dem
Drogenmilieu schützt, aber so ist es nicht. Niemand beschützt mich
oder meine Kinder.«
»Leider scheint es so, dass man Verbrechen nicht ausrotten kann«,
sagte Randver. »So ist die menschliche Natur halt.«
Er hatte den Satz kaum beendet, als Edda ihn scharf anblickte und
langsam und deutlich sagte: »Ich habe nicht davon gesprochen,
Verbrechen auszurotten oder die Natur der Menschen zu ändern. Das
erwarte ich nicht. Ich erwarte von der Gesellschaft, dass sie mich
und meine Kinder und alle Kinder und Jugendlichen in diesem Land
davor beschützt, lebensgefährliche Stoffe zu konsumieren, die mehr
junge Menschen in der Welt umbringen als alle Unfälle und
Krankheiten zusammen. Ihr wisst vielleicht nicht, dass alle
Schulkinder und Jugendlichen, eigentlich bis sie verheiratet sind,
unter einem enormen Druck stehen, Drogen zu nehmen.
Achtzig Prozent derjenigen, die sie ausprobieren, überstehen es,
ohne abhängig zu werden. Dann haben wir noch zwanzig Prozent, die
Entzug um Entzug machen, arbeitsunfähig werden oder sterben. Kann
man sich damit abfinden, dass jedes fünfte Kind geopfert wird? Ist
das nicht ein zu großes Opfer?«
Sie starrte sie anklagend an.
»Ich weiß, was ihr denkt«, fuhr sie fort. »Ihr denkt, dass es nicht
eure Schuld ist. Ihr tut euer Bestes und mehr könne man nicht
erwarten. Die Politiker taugen nichts.
Der Zoll taugt nichts. Die Polizei taugt nichts. Ärzte und
Therapien taugen nichts. Unsere Gesellschaft hat aufgegeben. Nach
dem Aufgeben kommt dann das Stockholm-Syndrom. Das Volk beginnt die
Drogen zu lieben, die seine Kinder töten. Es ist modern, mit ihnen
zu liebäugeln. Die Neoliberalen sagen, dass jedes Individuum die
Freiheit haben soll, sich selbst zu quälen. Das ist eine Lüge.
Jeder von uns trägt Verantwortung für den anderen. Es gibt nichts,
das Freiheit heißt, außer der Freiheit, gute Taten zu
vollbringen.«
Wenngleich sie scharfe Worte wählte und entschlossen sprach, schien
sie nicht erregt oder hysterisch zu sein.
Víkingur und Randver schwiegen.
Edda beendete ihre Rede mit der Frage: »Wenn nichts funktioniert,
um uns vor der Gefahr zu schützen, was bleibt dann
noch?«
Keiner der beiden Polizisten machte sich für eine Antwort
bereit.
»Notwehr«, sagte Edda. »Notrecht. Wenn man angegriffen wird, hat
man das Recht, sich mit allen möglichen Mitteln zur Wehr zu setzen,
bis die Polizei an den Tatort kommt, um einen zu retten.« »Wie
würdest du dich schützen?«, fragte Víkingur.
Die Frau lächelte.
»Ich muss mich nicht mehr schützen. Ich habe alles verloren, was
ich hatte, außer meinem eigenen Leben, das allen egal ist und mir
selbst auch. Draußen ist Sommer, aber ich bewege mich in schwarzer
Finsternis. Das einzige Licht, das hell genug ist, für mich zu
leuchten, ist das Licht der Gerechtigkeit. Wer soll es entzünden?
Will es etwa niemand tun?«
Víkingur schaute die Frau an und verstand ihre Trauer und ihren
ohnmächtigen Zorn. Ihm war nicht bewusst gewesen, wie wütend er
selbst war. Das hatte er erst jetzt gespürt. Seine Trauer hatte wie
eine Bürde auf ihm gelastet. In seiner Ohnmacht und Resignation
hatte er nicht gemerkt, wie der Zorn in seinem Inneren
brannte.
Wut auf sich selbst, Wut über Leere, Tatenlosigkeit,
Resignation.
»Was ist deiner Tochter zugestoßen?«, fragte er.
»Ihr ist nichts weiter zugestoßen, als dass sie umgebracht worden
ist. Durch Drogen.«
»Weißt du, wer es getan hat?`«
Edda schaute ihn an und dachte nach, bevor sie antwortete: »Sie
haben ... ihre wohlverdiente Strafe bekommen.«