Achtundzwanzig


Als Edda von ihrem Einkauf in Hella zurückkam, rief sie nach ihrem Sohn, um ihn zu bitten, ihr mit den Einkaufstaschen zu helfen. Sie war überrascht, dass der Junge nicht im Haus war. Ohne Auto entfernte er sich gewöhnlich nicht weit. Sie schaute hinter der Scheune nach.


Der Traktor stand an seinem Platz. Was hatte er sich jetzt vorgenommen?


Sie musste zweimal gehen, um die Taschen hineinzutragen. Sie auszuräumen und die Einkäufe in den Kühlschrank und die Speisekammer zu stellen dauerte nicht lang. Sie hatte diesmal auch daran gedacht, eine Großpackung Djæf-Eis am Stiel für Karl Viktor zu kaufen, wie er ihr schon so oft aufgetragen hatte.


Sie schaute auf die Uhr in der Küche. Es war noch Zeit, sich einen Schluck Tee zu genehmigen und sich kurz an den Computer zu setzen, bevor sie sich um das Abendessen kümmern musste.


Siedewurst und Kartoffelpüree aus der Packung mit Ketchup und geschmolzener Margarine. Edda war nicht dazu erzogen worden, ihr Leben mit dem Zubereiten von Mahlzeiten zu verbringen.


*****


Soweit jemand, der einem Elektroschock von fünfzigtausend Volt ausgesetzt und an eine Wand genagelt worden ist, sich überhaupt seiner Lage bewusst werden kann, gelang es Terje langsam, sich zu orientieren.


»Wo sind wir?«, stöhnte er.


»Du bist ein Gefangener des Schlosses Bran«, antwortete Karl Viktor. »Wie du hörst, beantworte ich deine Fragen, und jetzt beantwortest du meine. Ich habe dich gefragt, wer dich geschickt hat?«


»Ich bin von der Kriminalpolizei«, sagte Terje. »Wir suchen Leute, die Magnús Brynjarsson kennen.«


»Er ist im Krieg gefallen«, sagte Karl Viktor und fügte zur Erklärung hinzu: »Im Kampf gegen die Feinde.«


»Welche Feinde?«, fragte Terje. »Du musst mich losmachen, damit ich sie verhaften kann.«


Sein Bewacher kicherte. »Du hast vor, tausend Millionen Menschen zu verhaften, wo du dich nicht einmal bewegen kannst?«


»Sind es so verdammt viele?«, fragte Terje. »Dann sollten wir wohl besser zusammenhalten. Verstehst du nicht, dass ich dir helfen kann, wenn du mich losmachst?«


Trotz brennender Schmerzen in jedem Nerv seines Körpers und den Schmerzwellen, die seine Hände mit jedem Herzschlag aussandten, erkannte Terje, dass sein Quäler vollkommen geistesgestört sein musste. Die einzige Möglichkeit, zu entkommen, bestand darin, sich freizureden.


»Weißt du, dass allein in der EU sechzehn Millionen Feinde dabei sind, uns mit allen verfügbaren Mitteln zu zerstören?«


»Sag mir, welche Leute das sind, damit ich diese Informationen an Interpol weiterleiten kann. Das ist ein internationaler Zusammenschluss der Polizei aus fast zweihundert Ländern.«


Wieder kicherte sein Wärter. »Einhundertsechsundachtzig Ländern. Glaubst du, ich weiß nicht, was Interpol ist? Glaubst du, ich wüsste außerdem nicht, dass sich der Feind bei Interpol eingenistet hat? Was glaubst du, wer ich bin?«


»Sag es mir«, bat Terje. »Wer bist du? Welche Rolle spielst du in dieser Angelegenheit? Sag mir, wie ich dir helfen kann.«


Karl Viktor musterte seinen Gefangenen einen Moment lang, als ob er sich darüber klar werden wollte, ob dessen Unterstützungsangebot von ganzem Herzen käme. Dann sagte er: »Du kannst mir nicht helfen. Niemand kann mir helfen. Niemand außer mir versteht den großen Zusammenhang. Nicht einmal meine Mutter will ihn begreifen. Sie glaubt, es dreht sich alles nur um Rauschgift. Aber sie ist eben nur eine Frau, auch wenn sie meine Mutter ist.«


Wäre er nicht an eine Wand genagelt und dem Gutdünken dieses Irren ausgesetzt, hätte Terje es verlockend gefunden, zu fragen, ob denn seine Mutter etwas anderes als eine Frau sein könne. Stattdessen sagte er: »Ich kann nicht ganz einordnen, wo wir uns befinden.


Du sagst, wir sind im Schloss Bra. Wo sind wir genau?«


»Schloss Bran«, korrigierte Karl Viktor. »Du verstehst gar nichts. Du weißt gar nichts. Du kannst gar nichts.«


»Hilf mir, zu verstehen«, sagte Terje. »Ich hätte gedacht, dass jemand wie du, der so viele Feinde hat, es gern annehmen würde, wenn ihm jemand zur Seite stehen will.«


Diese Argumentation schien eine gewisse Wirkung zu zeigen.


»Das Schloss ist nach der Festung benannt, die mein Vorfahr errichtet hat, um Europa vor den Angriffen der Feinde zu schützen. Er tötete sie zu Tausenden und hat ganze Armeen gepfählt, um andere abzuschrecken und seine Untertanen zu schützen.«


»Wer war dieser gute Vorfahr von dir?«


»Er hieß Vlad Tepes und war Woiwode über die Wallachei und ein Ritter aus dem Orden des Drachens. Weißt du, was das für ein Orden ist?«


»Nein, sag es mir.«


»Der Orden des Drachens wurde gegründet, um den östlichen Teil Europas und das Heilige Römische Kaiserreich gegen die Invasionen des türkischen Osmanenreiches zu beschützen. Die Leiter des Ordens waren Sigismund von Luxemburg, der Kaiser des Heiligen Römischen Reiches, die Könige von Polen und Serbien und mein Urahn, Vlad Tepes, der den Titel Draculea von der
Societas Draconis bekam. Das ist der Orden des Drachens auf Latein.«   

 


Terje stöhnte, weil die Schmerzen ihm zusetzten, aber auch, weil er nie geahnt hätte, dass er sein Leben in einem Verlies aushauchen würde, in der Gewalt eines Psychopathen, der sich einbildete, ein Nachkomme des Grafen Dracula zu sein.


*****


Víkingur stellte voller Verwunderung fest, dass ihm die Schläge, wenn der BMW auf dem Weg nach Steinkross aufsetzte, durch Mark und Bein gingen. Dieses Gefühl überraschte ihn, denn in letzter Zeit hatte er sich vollkommen versteinert gefühlt.


Ist mir vielleicht alles auf der Welt egal, außer meinem Auto?, dachte er und versuchte, an den größten Steinen auf der Straße vorbeizusteuern. Dann muss ich ein richtig schlechter Mensch sein. Auf dem Parkplatz vor dem Hof stand ein ziemlich neuer Mercedes-Benz-Geländewagen.


»Ich wusste nicht, dass man mit Pferden so viel verdienen kann«, sagte Randver und machte eine Kopfbewegung in Richtung des Geländewagens.


Edda hatte die beiden bemerkt und stand in der Haustür, als sie sich dem Haus näherten. Sie war groß, dunkelhaarig und stark gebaut. Víkingur musterte sie. Trotz ihrer Größe war etwas Feines an dieser Frau und sie schien junggeblieben zu sein. Könnte zwischen vierzig und fünfzig sein, dachte er, obwohl sie eigentlich eher sechzig sein musste.


Edda lächelte sie an und grüßte mit Neugier im Blick.


»Guten Tag. Von wo kommt ihr?«


Sie sprach makelloses Isländisch, außer dass sie das R nicht rollte.


Víkingur nannte seinen Namen und Randver tat es ihm nach.


»Wollt ihr noch weit?«, fragte Edda. »Mit dem Auto kommt ihr auf diesem Weg nicht mehr weiter.«


»Nein, wir wollten nicht weiter als bis hierhin«, sagte Víkingur, nachdem er aufgegeben hatte, darauf zu warten, dass Randver das Wort ergreifen möge. Schließlich war Randver dienstlich unterwegs. Víkingur war nur als Begleiter mitgekommen.


»Ich habe momentan keine Pferde im Stall, die ich euch zeigen könnte. Wenn ihr angerufen hättet, hättet ihr euch die Fahrt sparen können.«


»Wir hatten gar nicht vor, Pferde anzusehen«, sagte Víkingur. »Wir suchen eigentlich unseren Kollegen, dessen Mobiltelefon aus ist.«


»Wenn er hier langgefahren ist, ist es kein Wunder, dass er nicht antwortet. Hier hat man so gut wie keinen Netzempfang, außer manchmal an einem Punkt im Wohnzimmer, exakt wenn man am Kamin steht.«


»Du hast ihn also nicht gesehen?«, fragte Randver. »Er heißt Terje Joensen.«


»Kriminalpolizist«, fügte Víkingur an.


»Seid ihr also von der Kriminalpolizei?«


»Er fährt einen weißen Toyota, einen alten«, sagte Randver.


»Wollte er hierher zu uns?«


»Ja, das dachten wir«, sagte Víkingur.


»Ich habe niemanden gesehen«, sagte Edda. »Aber das heißt nichts, weil ich gerade erst aus der Stadt nach Hause gekommen bin.«


»Reykjavík?«, fragte Randver.


»Nein, unsere Stadt zum Einkaufen ist Hella«, sagte Edda. »Aber ich kaufe auch manchmal in Hvolsvöllur ein. Nein, ich habe ihn nicht gesehen und auf dem Weg hierher auch niemanden getroffen. Seid ihr sicher, dass er den Weg hierher gefunden hat?«


»Nein, eigentlich nicht«, sagte Randver. »Aber er geht nicht ans Telefon, also haben wir beschlossen, uns nach ihm umzusehen.«


»Er ist jedenfalls nicht hier, wie ihr seht«, sagte Edda.


»Kommt doch trotzdem einen Augenblick herein und trinkt einen Kaffee, bevor ihr zurückfahrt.«


»Das können wir unmöglich annehmen, danke. Es ist fast schon Abendessenszeit«, sagte Randver.


»Ich würde eine Tasse Kaffee nicht ausschlagen«, sagte Víkingur. »Wenn es nicht zu viel Umstände macht?«


»Das macht überhaupt keine Umstände«, sagte Edda.


»Bitte, kommt herein.«


Nach isländischer Gewohnheit wollten sie im Eingangsbereich ihre Schuhe ausziehen, aber die Dame des Hauses forderte sie mit Nachdruck auf, sich damit nicht weiter abzugeben.


»Es ist natürlich ein guter Brauch, die Häuser nicht in Schuhen zu betreten, aber ich habe mich daran nie gewöhnen können. Ich finde Menschen auf Socken nicht komplett angezogen. Auch wenn ich schon lange in Island lebe.«


»Wie lange lebst du schon hier?«, fragte Randver.


»Wir sind '69 hierhergekommen. Ausrechnen musst du es selbst. Ich zähle meine Jahre nicht.«


»Woher kommst du, wenn ich fragen darf?«


»Natürlich wissen alle Isländer, woher jeder kommt.


Aus dem Westen, dem Osten oder dem Norden des Landes. Ich sage immer, ich komme aus dem Süden, also aus dem Süden von Europa.«


»Und woher?«


»Woher meine Familie stammt?«, sagte Edda. »Das ist auch eine nette Sitte, die Familien der Menschen Jahrhunderte zurückzuverfolgen. Ich bin in Wien geboren, aber meine Familie stammt aus Ungarn und Rumänien.


Mein Mann war Deutscher. Er hat mich ein kleines bisschen zu spät erwischt, denn als wir uns kennenlernten, war ich bereits anderweitig verliebt.«


»Du bist also mit einem Isländer hierhergezogen?«


»Nein, das verstehst du falsch. Ich drücke mich auf Isländisch vielleicht nicht ganz klar aus. Ich meinte, dass ich schon verliebt ins Islandpferd war, als ich meinen Mann kennenlernte. Deswegen sind wir nach Island ausgewandert. Glücklicherweise hat sich nämlich auch mein Mann in ... in das Pferd der Götter verliebt. Es hat uns hierhin getragen.«              


Im Auftreten dieser Frau lag etwas Bezauberndes, sodass sie ihren Erzählungen aufmerksam folgten. Sie sah die Romantik in ihren Augen, lachte auf und sagte: »Pfui, was schwätze ich. Jetzt geh ich aber und hole den Kaffee.«


Sie drehte auf dem Absatz um und ließ die beiden allein im Wohnzimmer zurück.


»Großartige Frau«, sagte Randver leise.


Víkingur nickte. Ohne jeden Zweifel war die Frau etwas Besonderes. Sie hatte eine enorme Präsenz. Er war sicher, sie schon einmal irgendwo gesehen zu haben, konnte sich aber nicht erinnern, wo.


Randver nahm sein Mobiltelefon und versuchte erneut, Terje anzurufen.


»Jetzt klingelt es immerhin«, sagte er und wartete mit dem Hörer am Ohr. »Aber er antwortet nicht. Was denkt sich der Kerl eigentlich? Was sollen wir jetzt machen?«


»Wir können wenig anderes machen als das, was wir gerade tun«, sagte Víkingur. »Wir schauen uns nach ihm um.«


Edda kam mit dem Kaffee in der Hand wieder und goss ihn in ihre Tassen. Dann schaute sie sie abwechselnd an und sagte: »Ja, was ich noch fragen wollte, welches Anliegen hatte euer Kollege denn hier?«


Randver schaute Víkingur in der Hoffnung an, irgendeinen Hinweis zu bekommen, wie er antworten sollte, aber Víkingurs Gesicht zeigte keine Regung.


»Wir untersuchen, wie es zum Tod eines jungen Mannes kam, und wir wissen, dass Karl Viktor, dein Sohn, und er vor nicht allzu langer Zeit gemeinsam eine Auslandsreise gemacht haben.«


»Magnús?« Sie nannte den Namen mit leiser Stimme und nahm einen ernsten Ausdruck an. »Ja, Magnús Brynjarsson.«


Plötzlich fiel Víkingur ein, wo er die Frau schon einmal gesehen hatte. Auf der Beerdigung. Auf der Beerdigung von Þórhildur und Magnús hatte er sie kurz gesehen, ohne ihr besondere Aufmerksamkeit zu schenken. Er kannte ohnehin nur einen Bruchteil der Anwesenden.


»Ich habe dich auf seiner Beerdigung gesehen«, sagte Víkingur. »Meine Frau war seine Mutter.«


»Mein ganz herzliches Beileid«, sagte Edda mit Anteilnahme in der Stimme. »Ich habe dich natürlich auch gesehen, aber ich wollte es nicht ansprechen, als ihr ankamt. Man will keine Wunden aufreißen, die begonnen haben, zu heilen.«


»Wie hast du mit Magnús Bekanntschaft geschlossen?«, fragte Víkingur.


»Ich habe ihn erst diesen Frühling kennengelernt.


Nachdem meine Tochter starb. Sie waren Freunde. Er kam zur Beerdigung hier runter und war ein paar Wochen bei uns. Er und Karl Viktor, mein Sohn, verstanden sich gut. Magnús ist sogar diesen Sommer mit uns nach Dänemark gefahren. Nach unserer Rückkehr blieb er in Reykjavík, und einige Tage später erfuhren wir hier, dass er gestorben sei.«


»Du sagst, dass deine Tochter und Magnús Freunde gewesen seien. Meinst du damit, dass sie eine Beziehung hatten?«


»Sie waren sehr eng befreundet und mit der Zeit habe ich zu hoffen begonnen, dass sie ein Liebespaar werden könnten. Ich glaube, sie waren verliebt.«


»Dein Sohn, Karl Viktor, wo befindet er sich zurzeit?«, fragte Randver.


»Er wohnt hier. Aber im Moment ist er nicht zu Hause.


Er muss rausgegangen sein.« »Du sagst, ihr seid diesen Sommer nach Dänemark gefahren. War das das Ziel eurer Reise, oder seid ihr von da aus noch weitergefahren?«, fragte Víkingur.


»Nein, wir waren nur in Dänemark die ganze Zeit. Wir haben einen Leihwagen genommen und in kleinen Dörfern übernachtet. Es war wunderschön dort und ganz toll, dass Magnús mitgekommen ist. Ich sollte vielleicht dazusagen, dass Karl Viktor nicht ganz so ist wie die meisten anderen. Er lebt in seiner eigenen Welt und geht seinen Interessen nach.«


»Was sind denn seine Interessen?«


»Er sitzt viel am Computer. Und dann interessiert er sich für Geschichte und Ahnenforschung. Er stöbert gern herum.«


»Ist er schon immer so gewesen?«


Edda musterte die beiden Männer. Vielleicht schätzte sie ab, wie viel Vertrauen sie ihnen schenken sollte. Dann seufzte sie und sagte: »Nein, er ist nicht immer so gewesen. Als Kind und Jugendlicher war er ausgesprochen lebhaft und munter, aber er hat sich verändert, so wie es alle tun, die mit Rauschgift zu tun haben. Als er neunzehn Jahre alt war, hat er eine Psychose bekommen, wurde in die Psychiatrie gebracht und hat einen Entzug gemacht. Seitdem hat er keine Drogen mehr genommen, aber die Persönlichkeitsveränderung ist geblieben und es besteht wenig Hoffnung auf Besserung. Eigentlich überhaupt keine Hoffnung. Die Ärzte haben viele Erklärungen. Vielleicht ist es Schizophrenie und hat mit Drogen gar nichts zu tun.


Vielleicht haben die Drogen die Veränderung hervorgerufen. Vielleicht rührt sie auch ausschließlich vom Drogenkonsum her. Vielleicht hat er zu viel Haschisch geraucht. Vielleicht hat er sein Hirn mit LSD durcheinandergebracht. Niemand weiß es genau. Aber ich weiß, dass es die Schuld des Rauschgifts ist. Ich habe das schon einmal gesehen.«


Edda verstummte. Sie war allem Anschein nach sehr betroffen und gab sich größte Mühe, ihre Empfindungen im Griff zu behalten. Dann bekam sie sich selbst unter Kontrolle und sagte kühl: »Schutzlos habe ich zusehen müssen, wie die Drogen meinen Mann und meine Tochter getötet und meinen Sohn in einen Zombie oder Schlafwandler verwandelt haben. Ich, die ich mich für Tiere und die Natur, für ein friedliches und schönes Leben interessiere, bin inzwischen Spezialistin in Sachen Horror, Verbrechen und Erniedrigung. Ich wähle Politiker, die das Land regieren sollen, und bezahle Steuern, damit die Polizei für die Einhaltung der Gesetze sorgen kann. Ich dachte, dass irgendjemand meine Kinder vor den Kriminellen aus dem Drogenmilieu schützt, aber so ist es nicht. Niemand beschützt mich oder meine Kinder.«   

 


»Leider scheint es so, dass man Verbrechen nicht ausrotten kann«, sagte Randver. »So ist die menschliche Natur halt.«


Er hatte den Satz kaum beendet, als Edda ihn scharf anblickte und langsam und deutlich sagte: »Ich habe nicht davon gesprochen, Verbrechen auszurotten oder die Natur der Menschen zu ändern. Das erwarte ich nicht. Ich erwarte von der Gesellschaft, dass sie mich und meine Kinder und alle Kinder und Jugendlichen in diesem Land davor beschützt, lebensgefährliche Stoffe zu konsumieren, die mehr junge Menschen in der Welt umbringen als alle Unfälle und Krankheiten zusammen. Ihr wisst vielleicht nicht, dass alle Schulkinder und Jugendlichen, eigentlich bis sie verheiratet sind, unter einem enormen Druck stehen, Drogen zu nehmen.


Achtzig Prozent derjenigen, die sie ausprobieren, überstehen es, ohne abhängig zu werden. Dann haben wir noch zwanzig Prozent, die Entzug um Entzug machen, arbeitsunfähig werden oder sterben. Kann man sich damit abfinden, dass jedes fünfte Kind geopfert wird? Ist das nicht ein zu großes Opfer?«


Sie starrte sie anklagend an.


»Ich weiß, was ihr denkt«, fuhr sie fort. »Ihr denkt, dass es nicht eure Schuld ist. Ihr tut euer Bestes und mehr könne man nicht erwarten. Die Politiker taugen nichts.


Der Zoll taugt nichts. Die Polizei taugt nichts. Ärzte und Therapien taugen nichts. Unsere Gesellschaft hat aufgegeben. Nach dem Aufgeben kommt dann das Stockholm-Syndrom. Das Volk beginnt die Drogen zu lieben, die seine Kinder töten. Es ist modern, mit ihnen zu liebäugeln. Die Neoliberalen sagen, dass jedes Individuum die Freiheit haben soll, sich selbst zu quälen. Das ist eine Lüge. Jeder von uns trägt Verantwortung für den anderen. Es gibt nichts, das Freiheit heißt, außer der Freiheit, gute Taten zu vollbringen.«


Wenngleich sie scharfe Worte wählte und entschlossen sprach, schien sie nicht erregt oder hysterisch zu sein.


Víkingur und Randver schwiegen.


Edda beendete ihre Rede mit der Frage: »Wenn nichts funktioniert, um uns vor der Gefahr zu schützen, was bleibt dann noch?«


Keiner der beiden Polizisten machte sich für eine Antwort bereit.


»Notwehr«, sagte Edda. »Notrecht. Wenn man angegriffen wird, hat man das Recht, sich mit allen möglichen Mitteln zur Wehr zu setzen, bis die Polizei an den Tatort kommt, um einen zu retten.« »Wie würdest du dich schützen?«, fragte Víkingur.


Die Frau lächelte.


»Ich muss mich nicht mehr schützen. Ich habe alles verloren, was ich hatte, außer meinem eigenen Leben, das allen egal ist ­ und mir selbst auch. Draußen ist Sommer, aber ich bewege mich in schwarzer Finsternis. Das einzige Licht, das hell genug ist, für mich zu leuchten, ist das Licht der Gerechtigkeit. Wer soll es entzünden? Will es etwa niemand tun?«


Víkingur schaute die Frau an und verstand ihre Trauer und ihren ohnmächtigen Zorn. Ihm war nicht bewusst gewesen, wie wütend er selbst war. Das hatte er erst jetzt gespürt. Seine Trauer hatte wie eine Bürde auf ihm gelastet. In seiner Ohnmacht und Resignation hatte er nicht gemerkt, wie der Zorn in seinem Inneren brannte.


Wut auf sich selbst, Wut über Leere, Tatenlosigkeit, Resignation.


»Was ist deiner Tochter zugestoßen?«, fragte er.


»Ihr ist nichts weiter zugestoßen, als dass sie umgebracht worden ist. Durch Drogen.«


»Weißt du, wer es getan hat?`«


Edda schaute ihn an und dachte nach, bevor sie antwortete: »Sie haben ... ihre wohlverdiente Strafe bekommen.«