6. KAPITEL

„Mister Brown? Was machen Sie denn hier?“, fragte Kathy verblüfft. Sie war hin und her gerissen. Einerseits hielt sie den skurrilen Buspassagier, der vom Diner aus in die Wüste marschiert war, für ziemlich harmlos. Andererseits hatte er Drohungen gegen sie ausgestoßen, als sie ihm in die Quere gekommen war. Kathy war allerdings nicht sicher, ob sie diesen Mann wirklich für gefährlich halten sollte. Im Vergleich zu Pete kam er ihr nicht besonders Furcht einflößend vor.

Über kriminelle Energie verfügte er sicherlich nicht. Der Spinner schien in seiner eigenen Welt zu leben, jedenfalls war das Kathys Eindruck. Wenn man ihn in Ruhe ließ, hatte man von ihm auch nichts zu befürchten. Das war jedenfalls ihre Hoffnung.

Sicher, Reginald Brown war ziemlich neben der Spur. Für geistig normal konnte Kathy ihn nicht halten. Sie erinnerte sich daran, wie seltsam er sich im Bus benommen hatte. Doch er verfolgte offenbar planvoll seine Ziele. Die Hämmer und Meißel mussten aus seinem Gepäck stammen, er würde sie wohl kaum zufällig hier gefunden haben. Also war Reginald Brown wegen dieser versteinerten Knochen gekommen. Aber was hatte das zu bedeuten?

Bevor Kathy ihn dies fragen konnte, öffnete der Sonderling seinen Mund. Seine Stimme klang rauer als bei ihrer ersten Begegnung. Aber vielleicht lag das auch nur an der Akustik in der weitverzweigten und unübersichtlichen Höhle. Plötzlich kam er Kathy gar nicht mehr so harmlos vor.

„Ich kenne dich, ich kenne euch beide. Ihr wolltet nach Reno reisen, jedenfalls habt ihr das behauptet. Aber ich habe euch schon durchschaut, als ich den Bus verlassen habe. Mir könnt ihr nichts vormachen. Ihr beide verfolgt mich!“

Kathy wusste nicht, wie der Wirrkopf auf diese Unterstellung kam. Für sie stand nun endgültig fest, dass Reginald Brown nicht bei klarem Verstand war. Aber er hatte eine Ausrüstung und vermutlich auch Essen und Trinken dabei. Kathy spürte inzwischen eine schmerzhafte Leere in der Magengegend. Ob dieser Mann ihnen etwas von seinen Vorräten abgeben würde?

„Ich bin Kathy aus England“, sagte sie freundlich lächelnd zu ihm. „Und das ist meine Freundin Li. Sie ist Chinesin. Wir sind Studentinnen der Nevada State University.“

Reginald Brown machte eine ungeduldige Handbewegung. „Na, und wenn schon! Ob nun Engländerin oder Chinesin – letztlich arbeiten doch alle für die finsteren Mächte, die mich verfolgen. Aber mich könnt ihr nicht für dumm verkaufen. Und wie ihr seht, bin ich nicht zu stoppen. Ja, Reginald Brown hat das Geheimnis der Si-Te-Cah gelüftet.“

„Ja, das haben Sie geschafft, Mister Brown. Und das, obwohl wir Sie daran hindern wollten“, sagte Li laut. Leise flüsterte sie Kathy zu: „Es hat keinen Sinn, ihm zu widersprechen. Der Mann ist krank, er hat einen psychotischen Schub. Wir kommen aus dieser Nummer nur raus, indem wir auf seine Fantasiewelt eingehen. Allerdings habe ich von Si-Te-Cah noch niemals gehört.“

Das ging Kathy genauso.

Immerhin schien es Brown zu gefallen, dass Li auf seine Wahnvorstellungen einging. Er grinste selbstgefällig, um dann zu einer weitschweifigen Erklärung anzusetzen. „Ihr Handlanger der Finsternis habt wirklich alles getan, um mich als einen Spinner abzustempeln. Auch die von euch gekauften Wissenschaftler schreiben sich immer noch die Finger wund, um die Existenz der Si-Te-Cah zu leugnen. Ihr behauptet, diese Knochen und Skelettteile würden von großen ausgestorbenen Höhlenbären stammen. Aber sieht so vielleicht ein Bärenkopf aus, he?“ Mit diesen Worten deutete Brown auf einen Totenschädel, der teilweise aus dem Gestein ragte.

Kathy lief ein kalter Schauer über den Rücken. Sie hatte noch niemals zuvor einen echten Knochenkopf gesehen, doch dieser erschien ihr wirklich viel größer als ein normaler menschlicher Schädel. Oder sah das im flackernden Licht des Lagerfeuers nur so aus? Es fiel ihr immer schwerer, zwischen Traum und Realität zu unterscheiden, was ganz gewiss auch an der unheimlichen Atmosphäre in dieser Höhle mitten in der Wüste lag.

„Sie haben recht“, stimmte Li schnell zu. „Ihnen macht man nichts vor, Mister Brown.“

„So ist es, Miss Li! Wussten Sie übrigens, dass der Begriff ‚Si-Te-Cah‘ aus der Sprache der Paiute Indianer stammt? Sie waren die unmittelbaren Nachbarn dieses geheimnisvollen Riesenvolkes mit roten Haaren und weißer Hautfarbe.“

Unwillkürlich blickte Kathy wieder auf die Knochenreste, die aus den Felsablagerungen ragten. Ob Reginald Browns wirres Gerede doch einen wahren Kern enthielt? Kathy hatte keine Ahnung von Archäologie. Allerdings fand sie es seltsam, dass es in grauer Vorzeit in Amerika ein Volk von rothaarigen Riesen gegeben haben sollte. Das mochte für schräge Typen wie Reginald Brown total faszinierend sein. Aber Kathy konnte sich dafür nicht wirklich begeistern. Allein schon, weil sie nach wie vor müde, hungrig und vor allem durstig war.

Sie versuchte, das Thema zu wechseln. „Äh, das ist wirklich faszinierend, Mister Brown. Aber Sie werden nicht glauben, was uns passiert ist. Der Bus, in dem auch Sie gesessen haben, wurde gekidnappt. Meine Freundin und ich konnten fliehen, aber wir sind ziemlich erledigt. Hätten Sie vielleicht einen Schluck Wasser und ein Stück Brot für uns?“

Doch so schnell ließ sich der seltsame Höhlenforscher nicht von den Si-Te-Cah abbringen. „Die Paiutes fürchteten sich vor den Si-Te-Cah. Und Angst erzeugt Hass, das werdet ihr auch schon gehört haben. Auch ich werde verabscheut, weil ich die Wahrheit ausspreche.“ Er fuhr sich mit einer Hand durch sein wirres Haar. „Jedenfalls waren die Paiutes zahlenmäßig überlegen. Sie haben die Si-Te-Cah in dieses Höhlensystem getrieben. Dann steckten sie mit ihren Brandpfeilen einige Dornensträucher an den Eingängen in Brand, um die Rothaarigen auszuräuchern. Ob ihnen das gelungen ist – wer weiß? Vielleicht leben Nachfahren der Si-Te-Cah bis heute in diesem unzugänglichen und unübersichtlichen Höhlenlabyrinth? Ich hoffe es sehr, denn ich bin ihr geistiger Bruder. Gemeinsam werden wir der Finsternis die Stirn bieten.“

Reginald Brown schaute Kathy und Li herausfordernd an. Nun gab es keinen Zweifel mehr, dass sie von ihm keine ernsthafte Unterstützung erwarten konnten. Aber Kathy wäre in diesem Moment mit einer Dose Cola und einem Schokoriegel schon mehr als zufrieden gewesen. Ihre Fantasien drehten sich seit einigen Minuten nur noch um Essen und Trinken.

„Haben Sie eigentlich ein Handy, Mister Brown?“, fragte Kathy so beiläufig wie möglich. Sie hatte allmählich die Nase voll von den Fantasien des Verwirrten. Kathy wollte die Cops alarmieren, um die Entführung endlich zu beenden. Sie konnte sich vorstellen, dass die verbliebenen Geiseln keine leichte Zeit hatten. Pete war nach der geglückten Flucht von Kathy und Li gewiss alles andere als gut drauf. Aber ihre Frage an den Verwirrten stellte sich als fataler Fehler heraus.

„Ein Handy, du scheinheilige Schlange?“, fuhr er sie wütend an. „Willst du damit deine Auftraggeber rufen, damit sie meine heilige Mission verhindern können?“

„Nein, ich …“

„Nicht widersprechen, Kathy“, rief Li ihr zu.

Aber es war zu spät. Der Geisteskranke hatte sich zu sehr in seine Wahnwelt hineingesteigert. Brown ließ jetzt die Decke fallen, in die er sich gehüllt hatte. Darunter war er nackt, abgesehen von einem ledernen Lendenschurz. Brown hatte keinen besonders durchtrainierten Body, trotzdem wirkte er gefährlich. Das lag vor allem an den beiden spiegelblanken Dolchen, die mit kurzen Ketten an seinen Handgelenken befestigt waren. Außerdem hatte er Arme, Beine und Brust mit blauer Farbe bemalt.

Kathy lief ein eiskalter Schauer über den Rücken, als sie ihn so sah. Ihr Studium an der Universität von Nevada hatte sie sich irgendwie anders vorgestellt. Auf jeden Fall hatte sie nichts darauf vorbereitet, irgendwann einmal in einer Höhle Auge in Auge einem Verrückten gegenüberzustehen.

Plötzlich musste sie wieder an Pete denken. Diesem Psychopathen war sie entkommen, um einem anderen Geisteskranken direkt in die Arme zu laufen. Das Schicksal hatte wirklich einen seltsamen Sinn für Humor.

Browns Haut war von rätselhaften Symbolen bedeckt, deren Bedeutung wohl nur er selbst kannte. Seine Augen glitzerten, die feuchte Unterlippe zitterte. Li hob den Arm mit dem Meißel. Doch falls Brown davon abgeschreckt wurde, ließ er es sich nicht anmerken. Dieser Mann hatte vermutlich keinen Sinn für den Wert des eigenen Lebens.

„Lauf, Kathy!“, rief Li. „Der Kerl dreht durch!“

Reginald Brown erinnerte in diesem Moment wirklich nicht mehr an einen harmlosen Kauz, sondern an einen unheimlichen Krieger im Blutrausch. Es war, als ob eine fremde Macht die Kontrolle über ihn übernommen hätte. Er stieß einen markerschütternden Schlachtruf aus und sprang wie ein Kastenteufel auf die beiden jungen Frauen zu. In jeder Hand hielt er eines seiner Messer und fuchtelte damit wild herum. Sein Körper warf einen riesigen zuckenden Schatten auf die zerklüftete Höhlenwand.

Li startete einen Gegenangriff, mit dem der Irre nicht gerechnet hatte. Sie trat ihm die Beine weg. Brown stürzte, verlor dabei aber seine Messer nicht. Als er wieder aufstand, schien sich seine Wut noch vervielfacht zu haben.

„Ihr verfluchten Agentinnen des Bösen, jetzt werdet ihr bezahlen!“

Kathy flüchtete, so schnell sie konnte. Sie hatte nach dem Nervenkrieg im Bus nicht mehr die Kraft, sich dem Kampf mit einem Geisteskranken zu stellen. Außerdem war sie im Gegensatz zu ihrer Freundin noch nicht einmal bewaffnet. Sollte sie vielleicht mit bloßen Händen dem verwirrten Messerhelden entgegentreten? Nein, das wäre Selbstmord gewesen. Immerhin hatten Li und sie selbst es geschafft, Pete zu entkommen. Doch momentan kam es Kathy so vor, als ob sie vom Regen in die Traufe geraten wären.

Einen entscheidenden Unterschied gab es allerdings. Kathy war immer noch frei. Sie konnte aus der Grotte entkommen, nach draußen gelangen und das Diner erreichen. Also versuchte sie, so schnell wie möglich zum Höhleneingang zurückzulaufen. Aber – war sie überhaupt auf dem richtigen Weg?

Sie wusste es nicht. Sicher, sie entfernte sich wieder von dem Lagerfeuer, das im Hintergrund loderte. Aber war sie wirklich an diesen Steinwänden hier entlanggekommen? Sie sahen alle gleich aus, jedenfalls konnte Kathy keine besonderen Merkmale erkennen. Sogar diese verflixten Knochen schienen überall aus dem Fels zu ragen. Oder war es ihr vorher einfach nicht aufgefallen?

Kathy merkte, dass sie immer panischer wurde. Sie schaute sich nach Li um. Aber sie konnte ihre Freundin nirgendwo entdecken. Stattdessen ertönte ein schauriges Geheul. Für Kathy gab es keinen Zweifel, dass es aus der Kehle von Reginald Brown stammte. Der Mann lief Amok, sie hatte von ihm keine Gnade zu erwarten. Kathy führte sich vor Augen, dass er krank im Kopf war und für seine Taten nicht verantwortlich gemacht werden konnte. Aber das war nicht wirklich ein Trost, jedenfalls nicht in diesem Moment.

Am liebsten hätte sie nach Li gerufen. Doch der Schrei blieb Kathy im Hals stecken. Wenn sie sich jetzt bemerkbar machte, würde Brown garantiert auf sie aufmerksam werden. Und noch befand er sich nicht hinter ihr.

Oder?

Kathy konnte ihren Widersacher nirgendwo entdecken, als ihr Blick suchend durch das Halbdunkel der Grotte glitt. Aber das musste nichts bedeuten. Brown schien sich in dieser verfluchten Höhle ziemlich gut auszukennen. Das war auch kein Wunder, denn nach seinem Aufbruch beim Diner hatte er genug Zeit gehabt, sich hier heimisch einzurichten. Kathy fragte sich, wie weit es vom Diner zu der Höhle war. Allzu groß konnte die Distanz nicht sein, denn der Geisteskranke hatte sie immerhin zu Fuß bewältigen können.

Vielleicht befanden Li und sie selbst sich schon in unmittelbarer Nähe des rettenden Highways. Diese Vorstellung gab Kathy neue Zuversicht. Aber zuerst musste sie diese schreckliche Knochenhöhle verlassen – und zwar nicht allein. Wo war Li? Diese bange Frage spukte ihr die ganze Zeit durch den Kopf. Obwohl Kathy die Chinesin erst seit kurzer Zeit kannte, war sie zu einer guten und zuverlässigen Freundin geworden. Ob Li sich erneut dem Kampf mit Reginald Brown gestellt hatte? Falls ja, dann hatte sie ihn jedenfalls noch nicht ausschalten können. Seine unheimliche Stimme hallte nämlich immer noch durch das weitverzweigte Höhlenlabyrinth.

Reginald Brown war ihr auf den Fersen. Diese Tatsache trug nicht gerade dazu bei, sie zu beruhigen. Sie hielt ihn zwar nicht für einen Mörder, aber er war nicht Herr seiner Sinne. Wenn er seine Messer einsetzte, konnte er dafür nicht verantwortlich gemacht werden. Aber war nützte das, wenn man seinem Blutrausch zum Opfer fiel?

Kathys Panik steigerte sich von Minute zu Minute, obwohl sie sich selbst zur Ruhe mahnte. Aber das war leichter gesagt als getan. Kathy hatte nämlich das Gefühl, sich inzwischen völlig verlaufen zu haben. Sie erinnerte sich an Browns Worte: Vielleicht leben Nachfahren der Si-Te-Cah bis heute in dieser Grotte.

Gewiss, es waren nur die Fantasien eines Geisteskranken. Aber wenn sie nun doch ein Körnchen Wahrheit enthielten? Kathy erinnerte sich plötzlich an eine Dokumentation, die sie auf Discovery Channel gesehen hatte. Vor wenigen Monaten war ein Indianerstamm im brasilianischen Dschungel entdeckt worden, der noch niemals zuvor Kontakt zur Außenwelt gehabt hatte. War es da so abwegig, dass es in der Wüste von Nevada ein unterirdisch lebendes Volk von rothaarigen Riesen gab?

Als Kathy dieser Gedanke kam, musste sie trotz ihrer gefährlichen Lage über sich selbst grinsen. War sie schon so verzweifelt, dass sie auf einen Verrückten wie Brown hereinfiel? In diesem Höhlensystem gab es kein Wasser und kein Essen. Falls es die Si-Te-Cah wirklich jemals gegeben haben sollte, dann wären sie sehr schnell zugrunde gegangen. Kein Mensch konnte auf die Dauer ohne Sonnenlicht leben. Und es war gewiss nicht sehr nahrhaft, sich nur von Fledermäusen zu ernähren.

Kathy brauchte nur an etwas zu essen zu denken, und schon begann ihr Magen laut zu knurren. Aber noch schlimmer war die Trockenheit in ihrem Mund. Sie wusste nicht, wie lange sie den Durst noch ertragen konnte. Dennoch musste sie weiter – aber in welche Richtung?

Kathy hatte nur einen Orientierungspunkt, nämlich Browns Lagerfeuer. Es flackerte irgendwo weit hinter ihr. Je mehr sie sich von der einzigen Lichtquelle entfernte, desto stärker wurde sie von der Finsternis umhüllt. Unwillkürlich wurde Kathy langsamer, um nicht mit dem Kopf gegen die Felswände zu rennen. Inzwischen war Kathy beinahe sicher, dass sie sich in die falsche Richtung bewegte. Aber es gab nichts, was sie dagegen tun konnte. Sollte sie vielleicht zurücklaufen? Nein, das kam nicht infrage. Viel zu groß war die Wahrscheinlichkeit, dass sie auf Reginald Brown treffen könnte.

Außerdem – gab es vielleicht noch andere Ausgänge? Wenn die Grotte wirklich so weitverzweigt war, wie der Geisteskranke behauptet hatte, befand Kathy sich vielleicht doch auf einem richtigen Weg. Aber woran sollte sie das erkennen? Draußen war es nach wie vor Nacht, sodass sie sich nicht nach dem hereinfallenden Tageslicht orientieren konnte. Sie musste sich ganz auf ihre Instinkte verlassen, etwas anderes blieb ihr nicht übrig.

Und was war mit einem Luftzug? Konnte das nicht ein Hinweis auf eine Öffnung zur Außenwelt sein? Kaum war Kathy dieser Einfall gekommen, als sie auch schon einen kalten Hauch ins Gesicht bekam. War sie auf ihr eigenes Wunschdenken hereingefallen? Nein, sie täuschte sich nicht. Der Lufthauch wurde stärker. Kathy blieb einen Moment lang stehen. Was sollte sie jetzt tun?

Auf keinen Fall wollte sie ohne Li die Höhle verlassen. Das wäre wie ein schändlicher Verrat – vor allem, nachdem Li bei der Flucht aus dem Bus die Initiative ergriffen hatte. Hätte Kathy sich getraut, allein abzuhauen? Wahrscheinlich nicht, das musste sie sich eingestehen. Nein, sie musste erst Li finden und dann die Höhle verlassen. Das war die richtige Reihenfolge.

Offenbar war die Chinesin in eine andere Richtung gelaufen. Sie zu suchen wäre in diesem unübersichtlichen Steinlabyrinth aussichtslos. Aber sie musste Li auf sich aufmerksam machen. Immerhin hatte sie einen Weg nach draußen gefunden. Kathy blieb nichts anderes übrig, als zu rufen. Damit riskierte sie natürlich, dass auch Reginald Brown auf sie aufmerksam wurde. Aber sie wusste nicht, was sie sonst tun sollte.

„Li? Ich bin hier. Hörst du mich?“

Kathy erschrak vor ihrer eigenen Stimme. Sie hörte sich ja völlig hysterisch an! Andererseits war das aber auch kein Wunder, denn sie erhielt keine Antwort.

Sogar die beängstigenden Laute, die Reginald Brown ausgestoßen hatte, waren inzwischen verklungen. Es herrschte Totenstille in der kühlen Felsengruft irgendwo in der Nevada-Wüste. Und das war beunruhigender als jede andere Reaktion, die Kathy sich vorstellen konnte.

Warum machte Li sich nicht bemerkbar? War sie so weit entfernt, dass sie Kathy nicht gehört hatte? Das konnte sie sich kaum vorstellen. Oder war die Höhle wirklich so unvorstellbar groß? Kathy hatte vor Kurzem im Internet etwas über eine riesige Grotte in Vietnam gelesen, die fast sieben Meilen lang und so hoch war, dass ein Flugzeug darin hätte fliegen können. Und diese Höhle gehörte zu einem Netz von insgesamt fast hundertfünfzig unterirdischen Kavernen.

Trotzdem – in so kurzer Zeit konnte Li nicht außer Hörweite geraten sein. Es musste einen anderen Grund dafür geben, dass sie nicht antwortete. Ob ihr etwas zugestoßen war?

Dieser Gedanke war für Kathy eine absolute Horrorvorstellung. Die Stille um sie herum ließ sie beinahe durchdrehen. Sie musste jetzt etwas unternehmen, sonst würde sie am Ende noch genauso wahnsinnig werden wie der selbst ernannte Si-Te-Cah-Forscher.

Kathy setzte sich wieder in Bewegung. Schweren Herzens, weil sie allein unterwegs war, folgte sie dem Luftstrom, der nun immer stärker wurde. Die kalte Zugluft wehte ihr ins Gesicht. Und dann sah sie plötzlich das Licht. Zuerst glaubte sie an eine Illusion. Aber je weiter sie sich vorwärts tastete, desto stärker wurde die Hoffnung zur Gewissheit.

Vor ihr blinkten die Sterne am tintenschwarzen Himmel.

Es waren nur wenige Himmelskörper, die sie sehen konnte, aber das störte sie nicht. Kathy beschleunigte ihre Schritte und stieß sich in der Aufregung das Knie an einem Felsvorsprung. Aber sie spürte den Schmerz kaum. Der Ausgang lag unmittelbar vor ihr.

Doch die Öffnung ins Freie war nicht größer als ein Volleyball. Es war auf keinen Fall derselbe Eingang, durch den sie vorhin hereingekommen waren. Der andere Höhlenzugang war so groß gewesen, dass sie beide problemlos nebeneinander hindurchgepasst hatten.

Sicher, Kathy konnte ihren Arm hindurchstecken. Aber was nützte das? Sie war schlank und nicht gerade hochgewachsen, trotzdem konnte sie sich nicht zwischen den scharfkantigen Steinen hindurch ins Freie zwängen. Es ging einfach nicht.

Kathy brach weinend zusammen.

Normalerweise war sie nicht so nah am Wasser gebaut. Gerade in den dunklen Jahren unter der Knute ihres Stiefvaters hatte sie gelernt, ihre Trauer und Verzweiflung zu verbergen. Richards Quälereien waren nämlich stets noch schlimmer geworden, wenn er gemerkt hatte, dass er sie damit treffen konnte. Wenn sie hingegen ein Pokerface aufgesetzt hatte, war sie ziemlich schnell von ihm in Ruhe gelassen worden. Dann hatte es keine weiteren Ohrfeigen gegeben.

Aber jetzt, in diesem Moment, ließ Kathy ihren Tränen freien Lauf. Es war nicht nur die Enttäuschung, die sie zum Weinen brachte. Durst, Hunger, Einsamkeit und Todesangst vermischten sich in ihr zu einem düsteren Cocktail der Hoffnungslosigkeit.

Es war ihr auch egal, dass Reginald Brown ihr Schluchzen möglicherweise hörte. In diesen Momenten konnte sie nicht mehr klar denken. Kathy wurde von Weinkrämpfen geschüttelt, als plötzlich ein markerschütternder Schrei ertönte. Und er kam nicht aus Kathys Kehle!

Kathy hielt den Atem an. Sie lauschte in die Finsternis hinein. Im ersten Augenblick glaubte sie sich getäuscht zu haben. Denn nun war es wieder so still wie zuvor. Aber es war eindeutig Lis Stimme gewesen, da war sie sich hundertprozentig sicher.

Außerdem – welche andere Frau hätte in dieser Grotte schreien sollen? Kathy ging jedenfalls davon aus, dass sich außer Li und ihr selbst niemand in der Höhle befand, von dem durchgeknallten Reginald Brown einmal abgesehen.

Kathy wischte sich die Tränen weg. Ihr Selbstmitleid war schlagartig wie weggeblasen. Li brauchte ihre Hilfe, daran gab es keinen Zweifel. Kathy hatte nach wie vor keine Waffe, aber das war ihr in diesem Moment egal. Sie drehte sich um und eilte so schnell wie möglich in die Richtung, aus der der Schrei gekommen war. Sie musste unbedingt ihrer Freundin beistehen. Kathy hatte schon viel zu viel Zeit damit verschwendet, sich selbst zu bedauern. In diesen Momenten hätte Li sie vielleicht gebraucht. Und dieser Gedanke trug nicht gerade dazu bei, dass sie sich besser fühlte.

Kathy hörte ihr eigenes Herz in der unnatürlichen Stille der Höhle rasend schnell schlagen. Das Blut rauschte in ihren Ohren. Sie stolperte über eine Felsnase, fiel hin und schlug sich das Knie auf. Doch sie spürte die Schmerzen kaum. Sofort kam sie wieder auf die Beine und hetzte weiter. Nun war sie wieder so nahe an dem immer noch brennenden Lagerfeuer, dass sie die Wärme aus der Entfernung schon spüren konnte.

Außerdem spendeten die lodernden Flammen Licht. Deshalb konnte Kathy nur allzu deutlich das grauenhafte Bild in sich aufnehmen, das sich ihr bot. Li lag leblos auf dem Steinboden, den Kopf unnatürlich verdreht. Kathy fühlte sich, als ob eine eiskalte Klaue nach ihrem Herzen greifen würde. Sie kniff die Augen zu und wünschte sich, sie würde einen Albtraum erleben. Aber das hier war leider die harte Realität.

Doch noch wollte sie sich mit den Tatsachen nicht abfinden. Kathy eilte zu ihrer Freundin und fiel neben ihr auf die Knie.

„Li, sag doch etwas!“

Der Kopf der Chinesin stand in einem seltsamen Winkel vom Oberkörper ab. Sie lag halb auf der Seite, ihre erstarrten Augen waren offen. Ihr Gesichtsauszug zeigte keinen Schmerz, nur grenzenlose Überraschung. Sie musste sofort gestorben sein, nachdem sie diesen grauenvollen Schrei ausgestoßen hatte. Wahrscheinlich war ihr längeres Leiden erspart geblieben. Doch das war für Kathy auch kein Trost.

Kathy berührte vorsichtig Lis Gesicht. Noch nie zuvor hatte sie eine Leiche angefasst. Aber jetzt tat sie es. Und nun wusste Kathy ohne Zweifel, dass kein Leben mehr im Körper ihrer Freundin war: In der Halsschlagader war kein Puls mehr zu fühlen.

Kathy fühlte sich entsetzlich. Sie wurde von einer gewaltigen Welle der Trauer überrollt. Li und sie selbst hatten sich erst vor Kurzem kennengelernt, sie hätten beste Freundinnen werden können. Doch damit war schon wieder Schluss, und zwar für immer. Li hatte es nicht verdient, in dieser düsteren Höhle mitten im Nirgendwo zu sterben. So ein Ende hätte Kathy ihrer schlimmsten Feindin nicht gewünscht.

Allmählich begriff sie, was für Folgen Lis Tod für sie selbst hatte. Sie war jetzt allein mit einem geisteskranken Gewalttäter in einem völlig unübersichtlichen Grottenlabyrinth! Und dieses Grauen war beinahe noch stärker als die Trauer über das plötzliche Ende ihrer Freundin.

Es war, als ob Kathy durch ihre Gedanken Reginald Brown magnetisch angezogen hätte. Jedenfalls hörte sie plötzlich ein raues Keuchen hinter sich. Alarmiert drehte Kathy sich um.

Der selbst ernannte Si-Te-Cah-Forscher stand ungefähr zwei, drei Meter von ihr entfernt. Brown musste sich in einem der Höhlenteile versteckt haben, die in völliger Finsternis lagen. Auf jeden Fall hielt er immer noch die beiden Messer in seinen Fäusten.

In Kathy war plötzlich eine unbändige Wut, sie war stärker als die Trauer und die Furcht zusammen. Und das war ein gutes Gefühl.

„Du verdammter Mörder!“, schrie sie Brown an.

Nun geschah etwas, das Kathy nicht für möglich gehalten hätte. Browns Gesichtsausdruck veränderte sich. Er sah richtig schockiert und betroffen aus. Er wirkte verwirrt, aber nicht gefährlich.

„Mörder? Nein, ich war das nicht! Die junge Frau – sie muss von dort oben herabgestürzt sein. Dort geht es steil hoch zu einem sehr schmalen Felspfad. Man kann auf den Steinen sehr leicht ausrutschen.“

Brown deutete nach oben. Unwillkürlich folgte Kathys Blick seinem Hinweis. Es stimmte, im Schein des Lagerfeuers war ein Felsvorsprung zu erkennen, der sich weit über dem Höhlenboden befand. Wenn Li von diesem Punkt aus herabgefallen war, konnte sie sich wirklich den Hals gebrochen haben. Aber in Kathys Augen machte das kaum einen Unterschied. Letztlich war Brown für Lis Tod verantwortlich. Wäre sie nicht vor ihm davongelaufen, hätte es diesen Unfall nicht gegeben. Das war jedenfalls Kathys Meinung.

Ihr fiel auf, dass Brown soeben recht vernünftig mit ihr geredet hatte. Ob es bei ihm immer mal wieder lichte Momente gab? Verlassen wollte sie sich nicht darauf. Trotzdem unternahm sie einen Versuch.

„Leg deine Messer weg, dann können wir besser miteinander sprechen.“

Doch kaum hatte Kathy ihren Satz beendet, veränderte sich Browns Miene auch schon wieder. Sie zeigte nun erneut grenzenloses Misstrauen, und sein Blick flackerte verdächtig. Das konnte Kathy trotz der Distanz zwischen ihnen eindeutig erkennen.

„Du willst mich einwickeln, verfluchte Dienerin der dunklen Mächte! Aber das wird dir noch leidtun!“

Reginald Brown bewegte sich auf Kathy zu, die beiden Messer hoch erhoben. Die seltsame Gestalt mit den aufgemalten magischen Symbolen und dem ledernen Lendenschurz wirkte in diesem Moment Furcht einflößender als je zuvor.

Kathy erkannte, dass sie nicht mehr fliehen konnte. Dafür war Brown schon zu nahe an sie herangekommen. Sie würde kämpfen müssen – aber wie? Ihr Blick fiel auf Lis Hand. Ihre tote Freundin hielt immer noch den Meißel umklammert. Kathy versuchte, das stählerne Werkzeug aus den erstarrten Fingern zu winden. Aber das klappte nicht. Gleich würde ihr mörderischer Widersacher sie erreicht haben. Kathy war vor Entsetzen wie gelähmt. Sie wollte nicht in dieser dunklen Wüstenhölle sterben.

Reginald Brown hob seine beiden Messer, bereit zum Zustechen. Doch in diesem Moment tauchte hinter ihm eine schemenhafte Gestalt auf. Und dann ging alles ganz schnell.

Der Wahnsinnige wurde mit einem faustgroßen Stein niedergeschlagen. Er sackte bewusstlos in sich zusammen. Kathy riss die Augen auf und schaute auf die Person, der sie ihre Rettung in letzter Sekunde zu verdanken hatte.

Es war David.