4. KAPITEL
Lizas Tod war ein großer Schock für die Entführten.
Jeder von ihnen hatte sich Hoffnungen auf eine baldige Beendigung des Nervenkriegs gemacht. Als Liza die erbeutete Waffe auf Pete richtete, war die Freiheit zum Greifen nahe gewesen. Doch nun war die Zuversicht gestorben und wurde gemeinsam mit der blonden Studentin begraben.
Die Tote konnte nicht älter als Anfang zwanzig gewesen sein. Sie hatte geglaubt, die brandgefährliche Situation auf eigene Faust auflösen zu können. Das war ihr zum Verhängnis geworden. Ob sie sich vorher mit ihren Freundinnen abgesprochen hatte? Kathy wusste es nicht. Aber auf jeden Fall waren die jungen Frauen auf dem Rücksitz diejenigen, die am meisten um Liza trauerten. Sie alle schluchzten unterdrückt vor sich hin.
Kathy konnte nicht sehen, was Henry und David mit der Leiche machten. Sie hörte nur scharrende Geräusche durch die offen stehende Bustür. Pete ließ die Passagiere nicht mehr aus den Augen. Er übergab die zweite Waffe an Jay.
„Hier, die Bleispritze ist für dich. Henry hat ja bewiesen, was für ein Versager er ist. Und David ist mir zu weich. Der hat für meinen Geschmack zu viel Mitleid mit den Geiseln. Außerdem hat er mir schon mal widersprochen, und das kann ich gar nicht ab. Du bist anders, du machst, was man dir sagt.“
„Ja, Pete“, entgegnete der hünenhafte Schwarze mit rauer Stimme. Er war wirklich derjenige Entführer, auf den sich ihr Anführer am besten verlassen konnte.
„Jay ist ein Befehlsempfänger, wie ihn sich jeder Vorgesetzte nur wünschen kann“, sagte Li leise zu Kathy. „Er hat Pete als seinen Boss akzeptiert und macht alles, was der von ihm verlangt. Er würde für ihn auch durch einen brennenden Reifen springen, schätze ich. Vielleicht war er ja bei der Army, bevor er kriminell geworden ist. Dort lernt man, über die Befehle der Offiziere nicht zu diskutieren, sondern sie ohne Wenn und Aber auszuführen.“
„Meinst du wirklich?“
„Klar. Was glaubst du wohl, Kathy? Ich habe selbst meinen Militärdienst abgeleistet, bevor ich mit dem Studium begonnen habe. Ich war beim dreiundzwanzigsten Luftlanderegiment in Nanchang, wenn du es genau wissen willst. Und die chinesische Armee ist alles andere als eine Wellness-Oase, da lernt man was fürs Leben.“
Kathy musste wohl besonders ungläubig geschaut haben, denn Li fuhr fort: „Was? Wusstest du nicht, dass in China Wehrpflicht herrscht, auch für Frauen? Zum Auslandsstudium wird man nur zugelassen, wenn man vorher seine Dienstzeit abgeleistet hat. Die Grundausbildung war nicht gerade wie ein Ausflug in den Freizeitpark, das kannst du mir glauben. Aber ich bin heute dankbar für den brutalen Drill, denn die Armee hat mich abgehärtet.“
Kathy atmete tief durch. „Jetzt wird mir so einiges klar.“
„Wie meinst du das, Kathy?“
„Ich habe mich gefragt, warum du die ganze Zeit so ruhig geblieben bist – sogar in dem Moment, als dieser widerliche Henry in deinem Gesicht herumgefummelt hat. Praktisch jeder hier im Bus hat schon mehr oder weniger die Nerven verloren, außer Buck und dir. Du rastest nicht aus, weil du bei der Armee Selbstbeherrschung gelernt hast.“
„Kann schon sein“, gab Li zurück. „Aber was ist mit dir? Du reißt dich auch hervorragend zusammen, finde ich. Sogar in dem Moment, als Pete unmittelbar neben dir auf Liza geschossen hat. Bei dir kann es doch nicht am Militärdienst liegen, oder?“
„Nein, in England haben wir eine Berufsarmee. Und da bin ich nie gewesen.“ Kathy seufzte tief, bevor sie weitersprach. „Aber Überlebenstechniken habe ich auch gelernt.“
„Das klingt so, als ob es dir ziemlich dreckig gegangen wäre.“
„Ja, kann man sagen. Ich habe bisher noch mit niemandem darüber gesprochen. Aber da war etwas mit … meinem Stiefvater.“
Li schien zu spüren, wie schwer es Kathy fiel, über ihre Erlebnisse zu sprechen. Die Chinesin legte ihre Hand auf Kathys Unterarm. „Du musst nicht darüber reden, okay?“
„Ich will es aber, Li. Sollen wir hier vielleicht nur die ganze Zeit darauf warten, was Pete als Nächstes vorhat? Das kann ich nicht. Wenn ich das tue, dann drehe ich wirklich durch. Ich erzähle dir lieber von Richard. So hieß mein Stiefvater nämlich. Pete erinnert mich übrigens total an Richard, er ist genauso aufbrausend und unberechenbar.“
„Dann war deine Kindheit wohl nicht gerade glücklich?“, fragte Li mitfühlend.
„Nicht wirklich. In meinen ersten Lebensjahren war ich noch mit meiner Mom allein. Mein Vater hat uns verlassen und niemals Unterhalt für mich gezahlt, soweit ich weiß. Aber als ich sechs Jahre alt war, lernte meine Mutter Richard kennen. Und damit nahm das Unglück seinen Lauf.“
„Wie meinst du das?“
„Anfangs war Richard total nett, auch mir gegenüber. Er brachte mir Geschenke mit und spielte mit mir. Der Dreckskerl hatte kapiert, dass der Weg zu Moms Herz über mich führte. Es funktionierte auch. Ich wurde ein totaler Fan von Richard. Ich war begeistert davon, dass meine Mutter nach einem halben Jahr mit ihm zusammenziehen wollte. Aber dann zeigte er sein wahres Gesicht.“
Kathy begriff plötzlich, wie absurd ihre momentane Lage war. Sie saß als Geisel in einem Bus irgendwo in der Wüste und legte bei einem anderen Entführungsopfer flüsternd ihre Lebensbeichte ab. Aber es tat gut, sich diese Dinge einmal von der Seele reden zu können. Bisher hatte sie nämlich immer nur geschwiegen. Aber jetzt mussten diese Dinge einfach mal heraus. Wer konnte schon sagen, ob sie den nächsten Morgen noch erleben würden? Kathy wollte ihr Geständnis jedenfalls nicht mit ins Grab nehmen.
Li sagte nichts, schaute sie aber fragend an. Also sprach Kathy weiter.
„Ich habe lange die Augen vor der Wahrheit verschlossen. Ich wollte einfach nicht begreifen, dass Richard meine Mutter schlug. So etwas ist für ein Kind entsetzlich, das kannst du mir glauben. Nach außen hin schuf dieser Heuchler eine perfekte Fassade. Er spielte den treusorgenden Ehemann. Es gab niemanden, dem ich mich anvertrauen konnte. Wer hätte mir denn geglaubt? Ich war ein kleines Mädchen.“
„Was war denn mit deiner Mom? Hat sie nicht versucht, von ihm loszukommen?“
Kathy schüttelte den Kopf. „Nein, das kann man nicht behaupten. Ich glaube, sie hatte einfach totale Panik. Wie gesagt, Richard war zu allem fähig. Er kannte auch kein Mitleid.“
„Das ist übrigens typisch für Psychopathen, Kathy. Das habe ich im Studium gelernt. In den Gehirnteilen, wo bei normalen Menschen solche Empfindungen wie Mitgefühl angesiedelt sind, herrscht bei ihnen gähnende Leere. Darum können sie auch töten, ohne jemals Reue zu empfinden.“
„Ist das so? Nun, das wundert mich nicht. Jedenfalls habe ich damals gelernt, mich unter allen Umständen zusammenzureißen. Wenn Richard ausrastete, bin ich äußerlich ganz ruhig geblieben. Zwar habe ich mir auch die eine oder andere Ohrfeige eingefangen, aber es hätte noch viel schlimmer kommen können. Es gab ja keinen Ausweg. Oft habe ich davon geträumt, einfach wegzulaufen. Aber ich konnte meine Mutter doch nicht mit dem Dreckskerl allein lassen.“
Li druckste herum. „Dieser Richard – hat er dich mal angefasst? Ich meine …“
„Ich weiß, was du meinst. Aber das hat er zum Glück niemals getan, obwohl er bestimmt keine Skrupel gehabt hätte. Ich glaube, er stand einfach nicht auf kleine Kinder. Und als ich zwölf wurde, hat es das Schicksal dann endlich gut mit uns gemeint.“
„Wieso?“
„Richard starb bei einem Autounfall. So ein Typ wie er war natürlich auch ein begeisterter Raser. Dadurch hat er sich sein eigenes Grab geschaufelt. Seine Karre hat sich auf der Autobahn dreimal überschlagen, bevor sie in Flammen aufging. Die Rettungskräfte hatten keine Chance. Als sie das Feuer endlich gelöscht hatten, war mein Stiefvater schon tot. Das war der bisher glücklichste Tag in meinem Leben.“
Li ließ langsam die Luft aus den Lungen. „Wow – das klingt ganz schön hart. Aber ich kann dich verstehen. Dieser Mann hat dir einige Jahre deines Lebens gründlich vermiest. Und wie ging es danach weiter?“
Kathy zuckte mit den Schultern. „Wie soll es weitergegangen sein? Meine Mom ist nach den Erfahrungen mit Richard erst einmal von den Männern kuriert. Sie hat seitdem keinen neuen Freund mehr gehabt. Und ich? Ich war schon öfter verliebt. Aber ich frage mich bei jedem Typen, ob nicht so ein Richard in ihm stecken könnte.“
„Ja, man muss die Menschen durchschauen lernen. Ich glaube zum Beispiel, dass dieser David ganz anders ist als Pete, Jay und Henry. Und zwar nicht nur, weil du dich für ihn interessierst.“
Kathy fühlte sich ertappt. Andererseits war sie froh, dass Li nach dieser harten Lebensbeichte das Thema wechseln wollte. Warum hatte sie überhaupt von ihrem Stiefvater erzählt? Vielleicht weil Petes gemeine Art sie so stark an ihn erinnert hatte. Doch jetzt dachte sie nicht mehr daran, weil Lis Bemerkung sie neugierig gemacht hatte.
„Wie kommst du denn darauf?“
„David hat eine ganz andere Körpersprache als die anderen Ganoven.“
„Aha! Du beobachtest ihn also auch.“
„Ja, aber ich fahre nicht auf ihn ab. Ich habe dir ja schon gesagt, dass ich mich während meines Gastsemesters nicht verlieben will. Und schon gar nicht in einen Kriminellen. Obwohl ich mir bei David wirklich vorstellen könnte, dass er nur zufällig auf die schiefe Bahn geraten ist.“
Kathy horchte auf. Darüber hatte sie sich noch keine Gedanken gemacht. Sie wollte unbedingt wissen, was Li über David zu sagen hatte. „Da musst du schon etwas genauer werden.“
„Es fängt schon mit Äußerlichkeiten an. Die anderen drei Ganoven haben alle tätowierte Unterarme. Ich weiß nicht, was diese Zeichen symbolisieren sollen. Aber in China ist es so, dass Knast-Tattoos etwas über ihren Träger aussagen. Beispielsweise kann man daran ablesen, was ein Gefangener verbrochen hat und wo er in der Hackordnung hinter Gittern steht. Das wird in Amerika nicht anders sein.“
„Vielleicht hat ja David noch nicht so lange gesessen und sich deshalb noch kein Bildmotiv stechen lassen.“
„Okay, das könnte sein. Aber David bewegt sich auch ganz anders als die anderen Kerle. Er wirkt auf mich total fit und durchtrainiert. Sicher, Jay hat auch dicke Muskeln. Aber er ist ein grober Klotz, der mit seiner Kraft nicht viel anfangen kann.“
Bevor Kathy und Li noch intensiver über David reden konnten, wurden sie durch einen verzweifelten Ruf abgelenkt.
„Hilfe, meinem Mann geht es schlecht!“, rief Wilma Hayes.
Pete ging mit schussbereiter Waffe nach hinten zu dem älteren Ehepaar. Kathy warf einen Blick in die Richtung. Der alte Mann war wirklich sehr bleich. Carl Hayes hatte seine Augen weit aufgerissen, er atmete mit offenem Mund. Man musste keine medizinische Ausbildung haben, um seinen Zustand erkennen zu können. Carl Hayes war offenbar akut sehr krank.
„Was ist mit deinem Alten, gibt er den Löffel ab?“, fragte Pete gefühllos.
„Mein Mann – er hat ein schwaches Herz. Es hat ihn sehr aufgeregt, dass Sie … dass die junge Frau vorhin sterben musste. Können Sie nicht einen Arzt rufen, bitte?“
Der Anführer lachte, als wenn die besorgte alte Frau einen Witz gemacht hätte. Doch davon konnte keine Rede sein. In Wilma Hayes’ Augen glitzerten Tränen.
„Einen Doc? Warum nicht gleich die Nationalgarde?“, höhnte Pete. „Nein, das kannst du komplett vergessen, Grandma. Der alte Knochen ist zäh, für so was habe ich ein Gespür. Er wird sich schon noch wieder einkriegen. Wir sind schließlich alle nicht zu unserem Vergnügen hier.“
Pete wollte schon wieder nach vorn gehen, aber die alte Frau hielt ihn zurück.
„Bitte, haben Sie doch Mitleid. Es bringt Ihnen doch auch nichts, wenn noch eine weitere Geisel stirbt!“
Kathy konnte sich nicht vorstellen, dass die flehenden Worte von Wilma Hayes Pete berührten. Doch sie schienen ihn nachdenklich zu machen.
Er senkte den Kopf und schwieg einen Moment. Dann drehte er sich abrupt um. „Du da! Komm her!“
Kathy wurde es innerlich eiskalt, als der Anführer mit dem Pistolenlauf auf Li zeigte. Was plante dieser Psychopath als Nächstes?
Die Chinesin folgte dem Befehl jedenfalls im Handumdrehen und bewegte sich auf Pete zu. Kathy fand es bewundernswert, dass Li noch nicht einmal zitterte. Schließlich hatte Pete vor Kurzem erst Liza erschossen. Kathy glaubte den scharfen Pulvergestank noch in der Luft wahrnehmen zu können. Aber vielleicht war das auch nur Einbildung.
Li blieb unmittelbar vor Pete stehen. Der Verbrecher blinzelte neugierig. Die Chinesin hatte ihre Hände vor dem Bauch gefaltet wie eine Musterschülerin. Kathy fand, dass sie bewundernswert entspannt wirkte. Ob Li bei der Armee auch Nahkampftechniken gelernt hatte? Ob sie versuchen würde, Pete zu entwaffnen? Kathy hoffte nicht, dass sie eine Dummheit machen würde.
„Du bist doch Studentin, oder? Welches Fach?“
„Psychologie.“
„Eine Gehirnklempnerin!“, höhnte Pete. „Na ja, immer noch besser als gar nichts. Irgendwie hat das doch auch was mit Medizin zu tun, oder? Schau dir den Alten mal an, vielleicht kannst du ja was machen. Jedenfalls werde ich keinen Doc holen, das könnt ihr komplett vergessen.“
Von ihrem Sitzplatz aus konnte Kathy sehen, wie Li sich neben Mr Hayes kniete.
„Können Sie mich verstehen, Sir?“, fragte sie ihn.
„Ja, Miss.“
„Hatten Sie schon früher ähnliche Beschwerden?“
„Ich bin öfter etwas matt“, gab der alte Mann zurück. „Mein Hausarzt sagt, ich hätte eine altersbedingte Herzschwäche. Ich darf mich nicht aufregen. Ich habe auch ein Medikament verschrieben bekommen, aber das habe ich dummerweise nicht bei mir.“
„Ich werde jetzt Ihren Puls messen.“ Mit diesen Worten griff Li nach dem Handgelenk des Rentners. Nachdem sie einen Moment den Puls gefühlt hatte, sagte sie: „Ich denke, Sie haben einen leichten Kreislaufkollaps erlitten. Aber dagegen können wir etwas tun. Haben wir Wasser an Bord?“, fragte sie an Pete gewandt.
Der Verbrecher nickte bestätigend. „Ja, in dem Bordkühlschrank ist nicht nur Cola, sondern auch Mineralwasser.“
„Dann mache ich dem alten Mann einen kalten Umschlag.“
Diesmal hatte es Pete auf Kathy abgesehen. Er forderte sie auf, Li eine Dose Mineralwasser zu bringen. Sie tat es, wobei sie viel weniger aufgeregt war als noch vor wenigen Minuten. Momentan führte Pete offenbar nichts Böses im Schilde. Und sie war froh, endlich etwas Sinnvolles tun zu können. Die stundenlange Warterei und die Ungewissheit hatten ihre Nerven doch ziemlich zermürbt. Das wurde ihr erst jetzt so richtig bewusst.
Li nahm die Büchse aus Kathys Hand entgegen. Die Chinesin tränkte ein Halstuch mit Wasser und legte den nassen Stoff auf Mr Hayes’ Nacken. Außerdem brachte sie den alten Mann dazu, sich flach auf den Boden zu legen und seine Beine auf einer Sitzbank zu lagern.
„Es geht mir schon besser, mir ist nicht mehr so schwindlig“, sagte der Rentner nach einigen Minuten.
„Na wunderbar. Dann habt ihr ja ein gutes Werk getan“, sagte Pete zynisch zu Li und Kathy. Er fügte hinzu: „Zurück auf eure Plätze.“
Die beiden taten, was der Anführer von ihnen verlangte. Wenig später kamen David und Henry wieder herein. Der junge braunhaarige Kidnapper merkte sofort, dass etwas nicht stimmte. Stirnrunzelnd ging er zu dem Anführer hinüber.
„Was war hier los, Pete?“
„Es geht dich zwar nichts an, aber der Alte hatte einen Herzkasper. Unsere junge schlitzäugige Gehirnklempnerin hat ihn dann aber wieder auf die Spur gebracht. Und – habt ihr die Leiche gut verscharrt?“
„Ja, der Körper ist jetzt mit Geröll bedeckt“, gab David gehorsam zurück. Doch er konnte sich nicht verkneifen zu fragen: „Warum musstest du die Frau gleich abknallen, Pete? Du hättest sie auch so überwältigen können.“
„Willst du mir schon wieder vorschreiben, was ich zu tun habe?“ Mit diesen Worten stürzte sich Pete auf David und rammte ihm die Faust in den Magen.
Für Kathy sah es nicht so aus, als ob David der Treffer besonders geschmerzt hätte. Trotzdem wich er zurück, denn Pete hatte immer noch eine Pistole in der Hand. Doch der Anführer setzte nicht nach. Es schien ihm für den Moment zu reichen, dass er seine Wut spontan abreagieren konnte.
„Du gehst mir auf die Nerven, David. Ich warne dich, überspann den Bogen nicht. Aber am schlimmsten ist immer noch dieser Versager Henry“, sagte er mehr zu sich selbst. Dann wandte er sich Henry direkt zu. „Dir haben wir den Schlamassel zu verdanken. Wenn dir das Gehirn nicht in die Hose gerutscht wäre, hätte diese bescheuerte Studentin mich niemals mit einer Bleispritze bedrohen können.“
Er unterstrich seine Worte mit einigen kräftigen Boxhieben. Henry brach jaulend zusammen und schützte sein Gesicht mit seinen Unterarmen. Pete ließ schwer atmend von ihm ab, nachdem er noch ein wenig weiter geprügelt hatte.
„Dein Glück, dass ich allmählich müde werde. Ich will mich ein paar Stunden aufs Ohr hauen, damit ich morgen früh fit für die Lösegeldverhandlungen bin.“ Pete reckte sich, um nach vorn blicken zu können. „Jay, du hältst Wache. Wenn es Ärger gibt, weckst du mich sofort, kapiert?“
Der bullige Schwarze nickte. Er drehte sich auf dem Fahrersitz halb nach hinten, sodass er den ganzen Bus im Blickfeld hatte. Pete schnappte sich eine Decke und rollte sich auf der ersten Sitzbank direkt hinter dem Fahrersitz zusammen.
Henry wischte sich leise fluchend das Blut aus dem Gesicht. Kathy merkte, dass er innerlich vor Wut kochte. Erst hatte er sich von Liza hereinlegen lassen, dann wurde er auch noch von seinem eigenen Anführer beschimpft und aufgemischt. Henry war nicht so dominant wie Pete. Aber er hatte trotzdem seinen eigenen Kopf, während Jay ausschließlich auf Petes Anweisungen hörte. Andererseits war er zu feige und zu wenig durchsetzungsfähig, um Pete seine Führerrolle streitig zu machen. Kathy glaubte trotzdem, dass es zwischen Pete und Henry auch weiterhin Ärger geben würde.
Leise schnarchende Geräusche zeugten davon, dass Pete im Handumdrehen eingeschlafen war. Aber Henry hatte sich noch nicht wieder beruhigt. Er schaute sich suchend um. Dann stand er auf.
„Was hast du vor?“, fragte David.
„Lass mich!“, fauchte Henry. „Warum lasst ihr mich nicht einfach alle in Ruhe?“
„Der sucht jemanden, an dem er seinen Frust abreagieren kann“, wisperte Li in Kathys Ohr. „Und dafür kommt eigentlich nur einer infrage. Nicht Mr Hayes, der ist wegen seines Alters kein richtiger Gegner. Auch nicht eine von uns Frauen, nicht nach Henrys Erfahrungen mit Liza. Und auch keiner von den anderen Entführern, auf die ist Henry schließlich angewiesen. Da bleibt nur noch einer übrig.“
Es zeigte sich, dass Li mit ihrer Vermutung richtiglag. Henry steuerte nämlich zielsicher auf Buck zu. Der junge Soldat schlief nicht. Er hatte wieder die Ohrstöpsel seines MP3-Players angelegt und die Arme vor der Uniformbrust verschränkt. Henry kniete sich auf die Polster in der Sitzreihe unmittelbar vor Buck und starrte den jungen Soldaten herausfordernd an.
„Was gibt es denn da zu glotzen?“, knurrte der Verbrecher. Es war klar, dass er Buck provozieren wollte.
Jay gab nach wie vor keinen Ton von sich, doch er behielt das Geschehen im Auge. Der Schwarze redete offenbar nur, wenn es unbedingt sein musste.
Doch David versuchte abermals zu schlichten. „Henry, hör doch auf. Es war eine elende Plackerei, Liza unter die Erde zu kriegen. Ich bin völlig erledigt. Lass uns etwas essen, ich habe mächtigen Hunger nach unserem Einsatz als Totengräber.“
„Ich auch, aber erst will ich mir noch unseren Freund Buck vorknöpfen“, gab Henry dreckig lachend zurück. „Hey, Soldat, ich rede mit dir!“
Mit diesen Worten riss der Verbrecher dem Uniformierten die Ohrstöpsel heraus. Buck war offenbar stinksauer, das konnte Kathy sogar auf die Entfernung erkennen. Aber noch blieb er äußerlich ruhig. Er hatte Disziplin gelernt, aber irgendwann würde auch ihm der Kragen platzen.
„Lass mich einfach in Ruhe, dann passiert dir auch nichts“, gab er Henry drohend zu verstehen.
„Was soll mir denn passieren, he?“, fragte dieser herausfordernd. „Willst du mich vielleicht anmachen? Ihr Soldaten seid doch echt das Letzte. Unsereiner muss hinter Gittern parieren, weil es dort eben nicht anders läuft. Aber ihr geht freiwillig zur Army und lasst euch dort drillen und herumkommandieren. Du glaubst wohl, weil du deine blöde Uniform trägst, bist du ein richtig harter Kerl? Ich sage dir, was du bist – ein Schwächling!“
David griff in den Konflikt ein. Er bewegte sich auf Henry zu. Kathy vermutete, dass er seinen Kumpan irgendwie von dem Soldaten trennen wollte. Von Jay konnte er keine Unterstützung erwarten. Der athletische Farbige hielt zwar seine Pistole schussbereit, blieb aber ansonsten wie angewachsen ganz vorn im Bus sitzen.
Und Pete musste einen festen Schlaf haben. Jedenfalls bekam er von der vergifteten Atmosphäre nichts mit. Aus seiner Richtung ertönte nach wie vor ein gleichförmiges Schnarchen. Bisher hatte er im Bus das Zepter geschwungen. Doch nun gab es keinen eindeutigen Anführer. Und Henry glaubte offenbar, zumindest zeitweise in diese Rolle schlüpfen zu können.
Buck gab Henry keine Antwort, aber damit erreichte er auch nichts. Henry war auf Krawall gebürstet. Kathy erinnerte sich sehr gut an dieses Verhalten, sie hatte es oft genug bei ihrem Stiefvater beobachtet. Sie träumte dann und wann immer noch nachts davon. Wenn Richard ausgerastet war, wurde er früher oder später auch gewalttätig. Es gab dann nichts mehr, was ihn noch stoppen konnte. Richard war vorwärtsgestürmt wie ein Bulldozer, ohne Rücksicht auf Verluste.
Genauso war es auch bei Henry.
„Du redest wohl nicht mit jedem, wie?“, stieß er hervor und verpasste dem Soldaten gleichzeitig einen Fausthieb oder vielmehr, er versuchte es.
Buck hatte den Schlag kommen sehen und wich blitzschnell aus. Gleichzeitig schnellte er aus seinem Sitz hoch und verpasste Henry einen gewaltigen Schwinger. Es knallte laut.
Der Verbrecher schrie auf und wurde gegen das Busfenster geschleudert. Doch schon im nächsten Moment griff er Buck wieder an.
Inzwischen hatte sich David den beiden Kämpfenden genähert. Er versuchte, sie zu trennen. Doch es stellte sich heraus, dass das keine besonders gute Idee von David war, denn nun wurde er sowohl von Buck als auch von Henry attackiert.
Die Studentinnen auf dem Rücksitz begannen angesichts der wüsten Schlägerei zu kreischen. Jay starrte einen Moment lang unschlüssig vor sich hin. Schießen konnte er nicht. Zu groß war die Gefahr, dass er versehentlich entweder Henry oder David traf.
„Hört doch auf“, rief er lahm und eilte durch den Mittelgang auf die Kämpfenden zu.
Nun erwachte auch Pete. „Was ist denn jetzt schon wieder los?“, grollte er. „Kann man hier denn keine fünf Minuten seine Ruhe haben?“
Auch Pete eilte dorthin, wo Buck, Henry und David immer noch ineinander verkeilt waren. Gemeinsam mit dem starken Jay versuchte er, die Streitenden auseinanderzubringen.
Es war niemand mehr vorn im Bus.
„Das ist unsere einzige Chance!“, raunte Li Kathy zu. Und bevor Letztere etwas erwidern konnte, stand die Chinesin auf. Schnell und lautlos rannte sie zum Buscockpit. Kathys Herz schlug bis zum Hals. Sollte sie es wirklich riskieren, ihrer Begleiterin zu folgen? Wenn sie erwischt wurden, konnten sie ihr Testament machen. Pete kannte keine Gnade, das hatte er nun schon öfter bewiesen. Doch falls sie im Bus blieben, gab es ebenfalls keine Überlebensgarantie für sie. Liza war einen sinnlosen Tod gestorben, das sollte ihnen nicht auch passieren.
Sie mussten es riskieren.
Als Kathys Stiefvater noch gelebt hatte, war das Fortlaufen für Kathy nur ein Traum gewesen. In vielen tränenfeuchten Nächten hatte sie sich vorgestellt, nicht mehr unter seiner Fuchtel leben zu müssen. Damals war das eine Fantasie gewesen, die sie niemals verwirklichen konnte. Jetzt aber hatte sie die einmalige Möglichkeit, diesen Wunsch in die Tat umzusetzen – wenn auch unter Lebensgefahr.
Im mittleren Teil des Busses herrschte völliges Chaos. Die Schlägerei war immer noch in vollem Gang, wütende Rufe und Flüche ertönten. Noch war die Situation nicht geklärt. Kathy fasste sich ein Herz und sprang auf. Sie lief hinter Li her. Die Bustür war selbstverständlich verschlossen. Aber darüber hatte sich die Chinesin offenbar schon Gedanken gemacht. Jedenfalls griff Li zielsicher ins Cockpit und betätigte einen Hebel. Nun ließ sich die Tür manuell öffnen. Und genau das tat Li jetzt.
Kalte Nachtluft strömte ihnen entgegen.
Die beiden jungen Frauen sprangen in die Finsternis.
In diesem Moment ertönte Petes Stimme. Ihr Klang ließ beinahe das Blut in Kathys Adern gefrieren.
„Bleibt hier, ihr verfluchten Kröten! Ihr werdet noch um den Tod betteln, bevor ich mit euch fertig bin!“