9. KAPITEL

Davids Hände öffneten und schlossen sich. Ob er gerade daran gedacht hatte, sich auf Pete zu stürzen? Kathy hoffte, dass er sich beherrschen konnte. Sowohl der Anführer als auch Jay zielten mit ihren Pistolen auf den Undercover-Cop. Selbst wenn David einen von ihnen entwaffnen konnte – der andere würde ihn garantiert erschießen. Und in dem engen Bus war es praktisch unmöglich, das Ziel zu verfehlen.

Kathy sprang auf, ohne nachzudenken. „David, mach keinen Blödsinn!“

Sie merkte selbst, wie panisch sich ihre Stimme anhörte. Ja, David bedeutete ihr sehr viel. Zuvor hatte Kathy es geschafft, ihre Gefühle unter Kontrolle zu behalten. Doch damit war es jetzt vorbei – in diesem Moment, als Davids Leben unmittelbar bedroht war.

Pete warf ihr einen genervten Seitenblick zu und schnauzte: „Halt deinen Schnabel und setz dich wieder hin, Kathy.“ Dann wandte er sich sofort wieder David zu und befahl ihm: „So, und jetzt leerst du deine Taschen aus, David. Oder brauchst du eine Extraeinladung?“

David hob die Schultern. Sein Gesichtsausdruck wirkte wie versteinert. Dann zog er das Smartphone aus der Jeanstasche.

Pete riss seine Augen auf. „Wo hast du das Telefon her?“

„Es gehört irgendeinem Passagier, ich habe es vorhin eingesammelt.“

Der Anführer warf einen Blick in die Tüte mit den erbeuteten Handys und nickte. Dann sprang er auf David zu und rammte ihm seine linke Faust in die Magengrube. Der junge Polizist wurde durch den unerwarteten Angriff überrascht und ging zu Boden.

„Ich kann es nicht ausstehen, wenn man mich verschaukeln will, David!“, sagte Pete kalt. „Hältst du mich für total dämlich? Ich habe die verdammten Handys natürlich gezählt, nachdem du sie eingesammelt hast. Da fehlt kein einziges.“

„Ich habe es mir schon eingesteckt, als ich die Passagiere gefilzt habe“, rechtfertigte sich David.

„Soso. Und wem gehört es?“

David presste die Lippen aufeinander und schwieg. Wieder einmal wurde Kathy klar, wie clever Pete war. Man konnte diesen Psychopathen wirklich nicht an der Nase herumführen. Sie hoffte nur, dass die Spezialkräfte, die außerhalb des Busses in Bereitschaft lagen, jedes Wort mithörten. Und dass sie rechtzeitig eingreifen würden, bevor es wirklich noch ein Blutbad gab.

„Du hast also vergessen, wem es gehört?“, höhnte Pete. „Na, das lässt sich ja leicht feststellen. Mal sehen, was geschieht, wenn ich auf Wahlwiederholung drücke.“

Kathys Herz blieb beinahe stehen, als Pete seine Ankündigung in die Tat umsetzte. Sie wusste, was er nun herausfinden würde. Seine Augen quollen beinahe aus dem Kopf, als er das Smartphone gegen sein Ohr presste. Dann fluchte er und warf das Telefon mit voller Wucht gegen eine der Busscheiben. Während das Glas standhielt, zersprang das Smartphone in mehrere Teile.

„Da meldet sich die Nevada State Police! Das ist ja sehr interessant, David. Ich glaube, ich will gar nicht mehr wissen, was du mit den Bullen zu bequatschen hattest. Ich will dich nur noch tot sehen!“

Mit diesen Worten drückte Pete seine Pistolenmündung direkt gegen Davids Stirn. Der Undercover-Cop war wie erstarrt. Kathy kam es vor, als würden die Sekunden nur im Zeitlupentempo vergehen. Sie begriff, dass sie jetzt selbst handeln musste. Es gab buchstäblich nichts mehr zu verlieren.

„Stopp, Pete!“, rief sie. Sie war selbst überrascht, wie laut und selbstsicher ihre Stimme plötzlich klang.

Kathy erhob sich erneut von ihrem Sitz, obwohl der Anführer es ihr zuvor verboten hatte. Aber sie durfte keine Angst zeigen, wenn sie David wirklich helfen wollte. Ob die Cops der Spezialeinheit sehen konnten, was im Bus vor sich ging? Kathy wusste nur von den Richtmikrofonen. Also sagte sie, was gerade geschah.

„Es bringt doch nichts, David die Knarre an den Kopf zu halten. Ich weiß, dass du dir nicht gern etwas sagen lässt, Pete. Und doch gibt es eine Sache, die du bisher noch nicht herausgekriegt hast.“

Der Schweiß lief Kathy den Rücken hinunter. Sie überlegte fieberhaft, während sie redete. Immerhin hatte Pete noch nicht abgedrückt. Das war doch schon ein Fortschritt, oder? Aber leider hielt er die Waffenmündung immer noch gegen Davids Kopf gepresst.

Pete drehte den Kopf in ihre Richtung und schaute sie unwillig an. „Inzwischen bereue ich schon, dass ich dich vorhin nicht abgeknallt habe, Kathy. Du fängst an, mir gewaltig auf die Nerven zu gehen.“

„Okay, aber wenn ich tot bin, dann nutze ich dir nichts mehr“, gab Kathy beherzt zurück. „Ihr habt vorhin über eure vier Millionen Dollar Lösegeld geredet – ihr seid ganz schön bescheiden, muss ich sagen. Ich allein bin schon wesentlich mehr wert.“

Pete lachte rau auf. „Arme Kathy, jetzt bist du völlig abgedreht. Oder leidest du unter Selbstüberschätzung? Wieso glaubst du, dass du so viel wert bist?“

„Ganz einfach – ich bin die Tochter des britischen Innenministers.“

Für einen Moment herrschte Totenstille im Bus. Ein besserer Bluff war Kathy in der Eile nicht eingefallen. Sie ließ sich auf ein riskantes Spiel ein – allein schon, weil sie einen ganz anderen Nachnamen hatte als der Innenminister. Sie konnte nur hoffen, dass sich diese amerikanischen Ganoven mit britischen Politikern überhaupt nicht auskannten.

„Das Miststück spinnt“, maulte Henry. „Warum knallst du David nicht endlich ab? Aber vorher soll er uns noch verraten, woher er das Handy hatte.“

„Klappe, ich muss nachdenken.“ Pete zog die Augenbrauen zusammen. „Es könnte etwas dran sein an der Geschichte. Schließlich spricht Kathy mit englischem Akzent. Man hört sofort, dass sie keine Amerikanerin ist.“

„Ja, aber deshalb muss sie noch lange nicht die Tochter des Innenministers sein“, beharrte Henry. „Solche reichen mächtigen Typen schicken doch ihre Kids immer auf teure Eliteunis. Jedenfalls habe ich das mal in der Glotze gesehen.“

„Das stimmt“, sagte Kathy schnell. „Aber mein Vater ist der Meinung, dass ich das wahre Leben kennenlernen soll. Deshalb hat er mich auf eine normale staatliche Hochschule gehen lassen. Aus diesem Grund habe ich auch keine Bodyguards oder so was.“

In Wirklichkeit war ihr leiblicher Vater stellvertretender Filialleiter einer Drogerie gewesen. Und auch ihr verhasster Stiefvater war keine hochrangige Persönlichkeit. Kathy fragte sich, ob sie sich gerade um Kopf und Kragen redete. Aber ihr verzweifelter Plan basierte darauf, dass auch die Cops draußen vor dem Bus etwas von ihrem Trick mitbekamen und sie irgendwie unterstützten. Wie das geschehen sollte, wusste sie allerdings nicht.

Sie suchte Blickkontakt mit David. Sein Gesicht war schweißnass. Auch einen Cop ließ es nicht kalt, wenn er unmittelbar mit dem Tod bedroht wurde. Aber sie glaubte in seinen Augen so etwas wie Respekt oder Anerkennung lesen zu können. Doch das war nicht wichtig, nicht in diesem Moment. Jetzt kam es nur darauf an, dass David und sie und alle anderen Geiseln überlebten.

Immerhin hatte sie Pete mit ihrer Notlüge aus dem Konzept gebracht. Der Anführer nagte an seiner Unterlippe. Kathy war sich sicher, dass er fieberhaft nachdachte. Sie konnte nur hoffen, dass das Ergebnis seiner Überlegungen für sie positiv war.

„Angenommen, ich glaube dir, Kathy“, sagte er schließlich. „Warum sollte ich diesen miesen Verräter David nicht umlegen?“

„Weil du deine Position damit schwächst, Pete“, gab sie schlau zurück. „Wenn du schon deine eigenen Leute erschießt, wird man dich für völlig durchgeknallt halten. Dann wird niemand mehr glauben, dass man ernsthaft mit dir verhandeln kann.“ Sie räusperte sich. „Mein Vater hat sehr großen Einfluss. Er kann sogar die amerikanische Regierung unter Druck setzen, dann tanzt alles nach deiner Pfeife.“

Pete nickte langsam. Kathy hoffte, dass sie bei ihm die richtigen Knöpfe gedrückt hatte. Sie hielt ihn für einen machtversessenen Psychopathen. Dass alle auf sein Kommando hörten, fand er richtig gut.

„Sehr großer Einfluss, hm? Ich muss nachdenken. Vorerst werde ich David wirklich nicht umlegen. Aufgeschoben ist ja nicht aufgehoben.“

Der Psychopath lachte, als ob er einen besonders guten Witz gemacht hätte. Kathy verabscheute ihn aus tiefster Seele. Sie versuchte aber, es sich nicht allzu sehr anmerken zu lassen. Mit der erfundenen Story über ihren Vater hatte sie sich weit aus dem Fenster gelehnt. Nun stand sie im Zentrum von Petes Aufmerksamkeit – was sie vorher krampfhaft zu vermeiden versucht hatte. Kathy erkannte, dass sie inzwischen an innerer Stärke gewonnen hatte. Das hoffte sie jedenfalls. Die Frage war nur, ob ihr das etwas nützen würde.

Im Moment war sie einfach nur erleichtert, weil David noch lebte. Er hatte ihr geholfen, nun konnte sie auch etwas für ihn tun. Und das war ein gutes Gefühl. Seit dem Kidnapping lebte Kathy von einem Augenblick zum nächsten. Sie schmiedete keine großen Zukunftspläne mehr. Stattdessen versuchte sie die jeweils nächsten paar Minuten zu überleben.

Pete hockte in sich zusammengesunken auf dem Fahrersitz. Die Beleuchtung des Armaturenbretts warf einen grünlichen Schimmer auf sein Gesicht, wodurch er noch Furcht einflößender wirkte. Kathy hätte einiges darum gegeben, seine Gedanken lesen zu können. Wirklich? Nein, eigentlich grauste es ihr vor der Welt in Petes Kopf. Entscheidender war die Frage, ob sie ihn wirklich austricksen konnte.

Im Bus herrschte angespannte Stille. Die Sekunden verstrichen quälend langsam. Laut der Digitaluhr über dem Fahrersitz waren nur sechs Minuten vergangen, doch der Zeitraum kam Kathy so vor wie eine halbe Ewigkeit.

Nun öffnete Pete wieder den Mund. „Okay, ich rufe jetzt noch mal die Busfritzen an. Mal sehen, was sie zu einer Aufstockung des Lösegelds sagen.“

Kathys Herz raste. Sie hätte sich so gern mit David ausgetauscht, aber das war natürlich unmöglich. Jedes Wort, das zwischen ihnen gesprochen wurde, würde Pete mitbekommen. Noch hatte er nicht kapiert, dass David ein Undercover-Cop war. Ob der Anführer etwas ahnte? Wollte er seine Opfer zappeln lassen, um sich an ihrer Unsicherheit und Ungewissheit hochzuziehen? Kathy traute es ihm jedenfalls zu. Wieso hatte Pete sich nicht noch einmal danach erkundigt, woher Davids Smartphone stammte? Würde er die Story von dem verrückten Höhlenforscher glauben? Kathy konnte nicht verhindern, dass ihr diese Fragen durch den Kopf spukten.

Doch zunächst lauschte sie aufgeregt dem Wortwechsel zwischen Pete und Mr Miller. Der Kidnapper-Boss hatte den Lautsprecher seines Handys wieder eingeschaltet.

„Was machen meine Moneten, Miller?“

„Es ist gut, dass Sie sich noch einmal melden“, tönte es aus dem kleinen Gerät. „Wir haben erst jetzt in Erfahrung bringen können, dass sich die Tochter des britischen Innenministers in Ihrer Gewalt befindet. Es handelt sich um Miss Kathy Ballard. Sie können sich denken, dass dem Vater der jungen Lady ganz besonders an ihrem Wohlergehen gelegen ist. Deshalb bitte ich Sie inständig, Miss Ballard gut zu behandeln, die übrigen Geiseln selbstverständlich auch.“

Kathy senkte ihren Kopf ins Halbdunkel am Busfenster, damit Pete nicht die ungeheure Erleichterung ablesen konnte, die sich auf ihrem Gesicht abzeichnete. Ihr Vorhaben hatte also zumindest teilweise schon funktioniert. Die Polizisten verfolgten mithilfe der Richtmikrofone offenbar wirklich alles, was im Bus vor sich ging. Möglicherweise hatten sie sogar Minikameras draußen an der Karosserie angebracht. Kathy hatte einmal in einem Actionfilm gesehen, wie ein Spezial-Cop im Schutz der Dunkelheit solche Spionagekameras an die Fenster eines Terroristenverstecks geklebt hatte. Gewiss verfügte das Geiselbefreiungsteam auch über eine solche Technologie.

Jedenfalls hatten die Cops Kathys Notlüge offenbar sofort an den Mann von der Busgesellschaft weitergegeben. Das war gut, das war sogar sehr gut. Pete musste nun glauben, dass er wirklich die Tochter eines hochrangigen Politikers in seiner Gewalt hatte. Und dadurch wurde sein Ego gewiss noch stärker aufgebläht. Wenn Pete zu siegessicher wurde, machte er wahrscheinlich einen Fehler. Jedenfalls hoffte Kathy das.

„Ja, der kleinen Kathy Ballard geht es gut“, informierte er Miller gerade. „Sie wollte zwischendurch mal abhauen, aber jetzt ist sie lammfromm. Ich habe ihr noch nicht einmal ein Haar gekrümmt. Ob das weiterhin so bleibt, hängt ganz von Ihnen ab, Miller.“

„Wie gesagt, ihr Vater ist sehr besorgt um sie. Wäre es vielleicht möglich, dass er einmal kurz mit ihr sprechen dürfte? Ich habe ihn in der anderen Leitung. Der Innenminister hat eine Kabinettssitzung abgesagt. Wir haben gehofft, dass Sie noch einmal anrufen würden.“

Kathy beobachtete Pete genau, während Miller sprach. Der Kriminelle sonnte sich förmlich in der Macht, die er über andere Menschen zu haben glaubte. Er kam sich in diesem Moment garantiert sehr wichtig vor.

Ob die Polizei und die Busgesellschaft Kathys Onkel Larry oder einen anderen männlichen Verwandten für die Aktion gewonnen hatten? Das konnte sie sich nicht vorstellen. Zu groß war die Gefahr, dass der Schwindel aufflog. Wahrscheinlich hatte die Nevada State Police die Angehörigen aller Geiseln verständigt, mehr aber auch nicht. Bevor Kathy sich weiterhin über diese Frage den Kopf zerbrechen konnte, winkte Pete sie zu sich.

Ihre Knie waren butterweich. Aber es blieb ihr nichts anderes übrig, als zu dem Verbrecher zu gehen. Inzwischen drehte sich ihr regelmäßig der Magen um, wenn sie auch nur in seine Nähe kam. Doch da sich außer ein paar Erdnüssen nichts in ihrem Bauch befand, bestand keine große Gefahr, dass sie sich wirklich übergeben musste.

Pete packte sie und presste sie mit seinem linken Arm an sich. Dann drückte er ihr das Telefon in die Hand. „Du darfst kurz deinen Daddy begrüßen, Kleine. Wenn du einen miesen Trick versuchst, dann geht es dir schlecht!“

Kathy nickte. Der kalte Schweiß stand ihr auf der Stirn. Sie hatte hoch gepokert. Pete durfte sie einfach nicht durchschauen.

„Hier spricht Kathy Ballard“, sagte sie. Ihre Stimme zitterte nur leicht.

„Einen Moment, ich verbinde Sie mit Ihrem Vater“, gab Miller zurück.

Es klickte, gleich darauf ertönte der tiefe Bass eines älteren Mannes. „Kathy, bist du das, Darling?“

Sie wusste nicht, mit wem sie in diesem Moment sprach – es war jedenfalls nicht ihr echter Dad. Aber die Polizei hatte sich Mühe gegeben. Der Mann am anderen Ende der Leitung sprach mit einem leichten britischen Akzent, genau wie sie selbst.

„Ja, Daddy.“ Kathy brach in Tränen aus, die Anspannung war einfach zu viel für sie. „Es geht mir gut, du musst dir keine Sorgen machen. Bitte tut alles, was die Entführer sagen. Diese Männer sind sehr gefährlich.“

Kathy hoffte, mit diesen Worten Pete schmeicheln zu können. Einen Mann wie ihn machte es mit Sicherheit stolz, als bedrohlich angesehen zu werden. Und je mehr Pete in seiner Selbstüberschätzung bestärkt wurde, desto eher würde er hoffentlich einen entscheidenden Fehler machen.

„Unsere Regierung wird alle Hebel in Bewegung setzen, um dich in Sicherheit zu bringen, Darling. Ich bin sicher, dass du das T-Shirt von der Nevada State University trägst, das ich dir geschenkt habe. Es sollte dir doch Glück bringen.“

„Ja, ich trage es gerade, Dad. Ich liebe dich.“

Kathys Augen füllten sich mit Tränen. Sie weinte vor Erleichterung, denn die Polizei musste heimlich Minikameras installiert haben. Wie hätten die Beamten sonst wissen können, was für ein T-Shirt sie trug?

„Ich liebe dich auch, Kathy“, sagte der Fremde mit der tiefen Stimme.

Bevor Kathy etwas darauf erwidern könnte, riss Pete ihr das Handy wieder aus den Fingern. „Wirklich rührend, Herr Minister!“, bellte er. „Wissen Sie, wer hier spricht? Ich bin Ihr schlimmster Albtraum. Es hängt ganz von Ihnen ab, ob Sie Ihren kleinen Liebling lebendig wiedersehen.“

„Wie lauten Ihre Forderungen?“

„Ich erhöhe das Lösegeld auf zehn Millionen Dollar. So viel sollte Ihnen Ihre Tochter schon wert sein. Die übrigen Passagiere bekommen Sie dann sozusagen als Zugabe. Ein echtes Sonderangebot, nicht wahr?“

Pete lachte sich schlapp über seinen blöden Witz. Bevor der andere Mann etwas erwidern konnte, fuhr er fort: „Die Lösegeldübergabe findet in zwei Stunden statt, kapiert? Ich schicke einen Mann zum Highway 95, drei Meilen südlich von Silverpeak. Wenn ich mich nicht irre, wird um diese Zeit die Sonne gerade aufgegangen sein. Dort steht eine große Reklametafel für Buffalo Chewinggum. Ihre Leute sollen die zehn Millionen in eine Reisetasche packen und hinter das Werbeschild stellen, kapiert? So, Herr Minister, jetzt wiederholen Sie brav meine Anweisungen.“

Nachdem der Unbekannte es getan hatte, machte Pete einen hochzufriedenen Eindruck. „Ich bin nicht dämlich, Herr Minister“, sagte er mit einem verschlagenen Grinsen. „Sie werden vermutlich die amerikanischen Bullen und Ihren eigenen Geheimdienst aufgescheucht haben. Aber die Cops sollen die Füße stillhalten, verstanden? Wenn ich in der Nähe auch nur einen Zipfel von einer Polizeiuniform sehe, werde ich meine Wut an den Geiseln auslassen. Und Ihre Tochter muss als Erste dran glauben.“

„Nein, tun Sie das nicht“, kam es vom anderen Ende der Verbindung. „Ich werde dafür sorgen, dass Ihre Forderung erfüllt wird. Ein Angehöriger unserer Botschaft wird das Lösegeld an den Ort schaffen, den Sie mir genannt haben.“

„So ist es recht“, sagte Pete zufrieden. „Es ist wirklich ein Vergnügen, mit der britischen Regierung Geschäfte zu machen. Sobald ich das Lösegeld in Händen halte, rufe ich Sie wieder an. Dann erfahren Sie, wo Sie den Bus mit den Geiseln finden.“

Pete schaltete das Handy aus und steckte es in die Tasche. „Dein Daddy scheint ja lammfromm zu sein, Kathy“, meinte er an Kathy gewandt. „Ich hoffe nur für dich, dass er nicht noch irgendwelche schmutzigen Tricks in der Hinterhand hat.“

„N…nein. Er wird nichts tun, was uns gefährdet“, beschwor sie ihn.

„Ich lasse mich überraschen. So, und du gehst jetzt wieder auf deinen Platz zurück, Kathy. Ich habe noch etwas zu erledigen.“

Gehorsam setzte Kathy sich hin. Sie beobachtete, wie Pete ein anderes Handy nahm, es einschaltete und zu simsen begann. Zu gern hätte sie gewusst, an wen die Botschaft ging. Aber natürlich traute sie sich nicht, ihn zu fragen. Das Handydisplay war wahrscheinlich zu klein, um von den Polizeikameras gescannt zu werden. Ob es eine Möglichkeit gab, die SMS abzufangen? Kathy wusste es nicht. Vielleicht hätte sie doch lieber weniger Science-Fiction und mehr Thriller lesen sollen.

Pete hatte seine Nachricht offenbar abgeschickt. Es dauerte nicht lange, bis er eine Antwort bekam. Der Kidnapper-Boss simste mit seinem unbekannten Partner noch eine Zeit lang hin und her.

Auch Jay und Henry fragten ihn nicht, was das sollte. Ob sie in sein Vorhaben eingeweiht waren? Und David hielt ebenfalls den Mund. Kathy konnte sich nicht vorstellen, dass er Petes Zukunftspläne kannte. Außerdem sah der Psychopath in ihm immer noch einen Verräter. Umso erschrockener war Kathy, als Pete sich nun wieder vom Fahrersitz erhob und auf David zuging.

„So, du hast also die Bullen angerufen. Hast du geglaubt, dass deine Reststrafe zur Bewährung ausgesetzt wird, wenn du uns verpfeifst?“

„Pete, ich …“

„Halt die Klappe. Du bist ein Weichei, das habe ich schon im Knast bemerkt. Und wie du mit den Geiseln umgegangen bist – wir sind hier nicht bei der Heilsarmee, kapiert? Aber du kannst jetzt deinen Fehler wiedergutmachen. Du wirst das Lösegeld holen, okay?!“

„Du lässt diesen Dreckskerl die Kohle einstreichen?“, regte sich Henry auf. Und auch Jay zog unwillig die Augenbrauen zusammen, sagte aber nichts.

Pete machte eine wegwerfende Handbewegung. „Natürlich wird David das Lösegeld holen, Henry. Und weißt du auch, warum? Ich glaube, er ist bis über beide Ohren in unsere süße Kathy verknallt. Deshalb wird er brav mit der Kohle hierher zurückkommen. Denn wenn er es nicht tut – peng!“

Pete zielte mit Daumen und Zeigefinger auf Kathy und tat so, als ob er eine Pistole abdrücken würde. Aber Henry ließ nicht locker. Ob er vergessen hatte, wie er zuvor von Pete zusammengefaltet worden war? Oder litt der Entführer allmählich ebenfalls unter der bedrückenden Atmosphäre in dem Bus? Kathy wusste es nicht. Aber es gefiel ihr gar nicht, dass Henry jetzt wieder so aufmüpfig war. Dabei konnte nichts Gutes herauskommen.

„Und warum schickst du nicht Jay, um das Lösegeld zu holen, Pete?“, hakte Henry nach.

„Weil Jay mir hier im Bus den Rücken freihalten muss. Dir kann man ja keine Knarre anvertrauen, Henry. Das hast du uns ja schon bewiesen.“

Henry gefiel es überhaupt nicht, mit der Nase auf seinen Fehler gestoßen zu werden. Und dann sagte er etwas, wovor sich Kathy schon die ganze Zeit gefürchtet hatte.

„Ich traue dem Braten einfach nicht, von wegen Ministertochter und so. Geh doch mal mit dem Smartphone ins Internet, Pete. Ich wette, dass die Kleine noch nicht mal denselben Nachnamen hat wie dieser Ministertyp.“

„Bist du jetzt neuerdings auch noch Politikexperte?“, höhnte Pete. „Daran habe ich auch schon gedacht, stell dir vor. Aber schließlich habe ich selbst mit dem Innenminister telefoniert und nicht du. Der Kerl war echt, so was spüre ich. Und die Sache mit dem Namen – ist doch klar, dass Kathy den Mädchennamen ihrer Mutter oder sonst was trägt. Wenn jeder mitkriegen würde, was für eine große Nummer ihr Dad ist, hätte sie doch auf der Uni niemals ihre Ruhe.“ Er warf Henry einen vernichtenden Blick zu. „Daran kann man sehen, dass du ein richtiger Nullchecker bist, Henry. Und nun halt endlich die Klappe, bevor ich noch richtig sauer werde.“

Kathy ließ vor Erleichterung langsam die Luft aus den Lungen. Sie konnte es kaum glauben, dass ausgerechnet Pete für sie Partei ergriffen hatte. War es ihr wirklich gelungen, ihn einzuwickeln? Jedenfalls hatte er vorerst Abstand davon genommen, David umbringen zu wollen.

Aber mit wem stand der Anführer in SMS-Kontakt? Kathy hatte das üble Gefühl, dass Pete irgendetwas im Schilde führte. Aber momentan fiel ihr nichts ein, was er noch in der Hinterhand haben konnte.

Pete wandte sich nun an David. „Okay, du kennst deinen Job. Du wirst jetzt losmarschieren und das Lösegeld holen.“ Pete deutete mit dem Arm nach links. „In der Richtung müsste Westen sein. Du wirst die Scheinwerfer der Autos auf dem Highway sehen, wenn du ein Stück gelatscht bist. Lass dir nicht einfallen, mich verladen zu wollen. Du weißt ja, was dann mit deiner kleinen Freundin Kathy geschieht … oder?“

Kathy konnte Davids Gesicht ansehen, dass er sich nur noch mit Mühe zusammenreißen konnte. „Ich werde dir das Lösegeld beschaffen, Pete“, stieß er mit zusammengebissenen Zähnen hervor. „Hauptsache, du hältst die Füße still, bis ich zurück bin.“

Der Anführer runzelte die Stirn, doch dann erschien ein breites hämisches Grinsen auf seinem Gesicht. „Aber natürlich, David. Alles wird gut. Und nun beweg dich!“

Pete nickte Jay zu, der für David die vordere Bustür von Hand öffnete. David zögerte einen Moment. Er schaute Kathy an, und in diesem kurzen Blick lag sehr viel Gefühl. Ihr wurde warm ums Herz. Sie war sicher, dass er sie gern in den Arm genommen hätte, aber das ging jetzt natürlich nicht.

Sie drückte ihm ganz fest die Daumen. Dort draußen warteten im Schutz der Dunkelheit seine Polizeikollegen. Die Cops würden gewiss dafür sorgen, dass David zum Highway gelangte und auch die Millionen in Empfang nehmen konnte. Aber wie sollte es dann weitergehen? Würde Pete sein Versprechen halten?

Das war der Knackpunkt bei der ganzen Sache.

Kathy vertraute dem gerissenen Ganoven nicht. Doch momentan gab es nichts, was sie tun konnte. Und dieses Gefühl zermürbte sie mehr und mehr. Sie hatte sich auf ihrem Sitz zusammengekauert. Obwohl sie todmüde war, war an Schlaf nicht zu denken. Aus dem Augenwinkel heraus beobachtete sie den Anführer.

Pete wurde immer nervöser, auch wenn er es zu verbergen versuchte. Kathy fürchtete sich vor dem Moment, wenn er endgültig die Kontrolle über sich selbst verlieren würde. Noch konnte sich der Verbrecher beherrschen. Aber was geschah, wenn Pete seiner Gewalttätigkeit wirklich freien Lauf ließ? Er konnte im Handumdrehen mehrere Menschen töten, bevor die Polizei ihn überwältigen würde. Daran hatte Kathy keine Zweifel.

Sie musste jetzt dringend an etwas Schönes denken, sonst würde sie noch durchdrehen. Sie machte es sich in ihrem Bussitz so bequem wie nur möglich. Mit einem Seufzer zog sie die Knie an den Oberkörper, rollte sich zusammen und schloss die Augen. Ihre Gedanken wanderten zurück zu dem kurzen Moment, als sie in Davids Armen gelegen hatte. Seine Lippen hatten sich herrlich angefühlt, die Berührung war ein süßes Versprechen auf mehr gewesen. Doch würde sie das jemals erleben? David hatte den Bus verlassen. Sie konnte nur hoffen, dass die Einsatzleitung der Polizei keine Fehler machte. Die Cops würden schon dafür sorgen, dass David das Lösegeld bekam. Aber ob sie es auch riskierten, ihren jungen Kollegen wieder in den Bus zurückzuschicken? War es nicht viel wahrscheinlicher, dass an Davids Stelle ein schwer bewaffneter SWAT-Trupp anrücken würde, um dem Kidnapping endgültig ein Ende zu bereiten? Wie würde Pete dann reagieren?

Kathy verabscheute den Anführer aus tiefster Seele. Er war noch viel schlimmer als ihr Stiefvater, das hatte sie inzwischen erkannt. Der zweite Mann ihrer Mutter hatte wenigstens niemanden umgebracht, sondern sich immer nur an seiner jämmerlichen kleinen Macht berauscht, die er über Kathy und ihre Mom hatte. Doch Pete betrachtete Menschen nur als Figuren eines irrsinnigen Schachspiels, bei dem er um jeden Preis gewinnen wollte. Kathy hoffte nur, dass Pete sie weiterhin für die Tochter des Innenministers hielt. Ein so hochkarätiger Gegenspieler würde den größenwahnsinnigen Verbrecher vielleicht unvorsichtig machen.

Kathy schrak zusammen. Sie war tatsächlich eingeschlafen, obwohl sie das bei der nervlichen Anspannung niemals für möglich gehalten hätte. Ihre Augen waren verklebt. Sie musste mehrmals blinzeln, um einigermaßen klar sehen zu können. Gähnend fuhr sie sich durch ihr schweißnasses Haar. Laut der Digitaluhr im Bus musste über eine Stunde vergangen sein, seit David weg war. Benötigte er wirklich so lange Zeit für die Strecke? Kathy hatte keine Vorstellung davon, wie schnell man sich in der Finsternis zu Fuß fortbewegen konnte. Sie selbst und Li waren mit ganzer Kraft gerannt, aber sie hatten ja auch kein bestimmtes Ziel gehabt.

Auch Pete schien noch nervöser, sofern das überhaupt möglich war. Er kaute ununterbrochen an seiner Unterlippe und spähte durch die Frontscheibe des Busses in die Nacht hinaus. Auf dem Geröll waren leise Schritte zu hören. Kathy presste die Lippen aufeinander. Ob die Polizei einen Überraschungsangriff startete? Kathy konnte nicht sagen, ob die Schritte von einer oder mehreren Personen stammten. Auch Pete hatte mitgekriegt, dass sich etwas tat. Er richtete die Pistolenmündung auf die Bustür, die nun langsam von außen aufgedrückt wurde. Kathy hielt die Luft an. Sie hätte schwören können, dass Pete schießen würde.

Aber dann hörte sie eine vertraute Stimme. „Nimm die Kanone zur Seite, ich bin es. Ich habe den Zaster.“

Kathy hätte am liebsten laut gejubelt. Sie war einfach nur froh, dass David wieder bei ihr war. Er war der einzige Mensch im Bus, zu dem sie sich wirklich hingezogen fühlte. Die anderen Geiseln taten ihr einfach nur leid, aber sie waren keine Hilfe. David hingegen strahlte Zuversicht aus, obwohl er genauso von Pete terrorisiert wurde wie alle anderen.

Er hatte eine große Reisetasche dabei, die er in den Mittelgang wuchtete. Henry riss sofort den Reißverschluss auf. Der Kriminelle keuchte, als er die gebündelten Geldscheine erblickte. Auch Jay hatte nur noch Augen für das Lösegeld.

„Und das sind echt zehn Millionen?“, fragte Henry heiser. „Hast du durchgezählt, David?“

„Natürlich nicht“, gab David genervt zurück. „Hast du eine Ahnung, wie lange das gedauert hätte? Aber es wird schon stimmen, da sind ausschließlich große Banknoten drin.“

Henry und Jay begannen gierig in den Geldscheinen zu wühlen. Kathy merkte sofort, dass Pete die Begeisterung seiner beiden Kumpane nicht teilte. Er hielt sich zurück, ein böses kleines Grinsen wollte nicht aus seinem Gesicht weichen. David drängte sich auf dem Mittelgang an Henry und Jay vorbei; er suchte Kathys Nähe. Falls Pete etwas dagegen hatte, sagte er jedenfalls nichts. Der Anführer schien zu lauschen. Und dann hörte auch Kathy ein Motorengeräusch.

Es stammte von einem näher kommenden Helikopter. Im ersten Moment war sich Kathy sicher, dass die Cops einen Sturmangriff versuchen würden. Doch Pete schien nicht daran zu denken. Jedenfalls zeigte er keine Anzeichen von Panik. Stattdessen tat er etwas, mit dem niemand gerechnet hatte.

Pete hob den Pistolengriff und schlug den athletischen Schwarzen von hinten nieder. Jay sackte in sich zusammen. Bevor David oder Henry etwas dagegen unternehmen konnten, hatte sich Pete auch die zweite Waffe gegriffen. Er verfügte nun über beide Pistolen und schob eine davon in seinen Hosenbund.

Die Geiseln wurden unruhig. Trotz ihrer Erschöpfung merkten sie, dass etwas Ungewöhnliches vor sich ging.

„Was ist los, Pete? Warum hast du das getan?“, fragte David alarmiert.

Pete antwortete prompt. Und was er sagte, gefiel Kathy gar nicht.

„Es gibt eine kleine Planänderung, von der du nichts weißt, David. Hörst du den Helikopter? Das sind meine mexikanischen Freunde. Sie holen mich ab. Ich verschwinde allein mit den zehn Millionen Mäusen – und deine kleine Freundin Kathy nehme ich als Lebensversicherung mit!“