7. KAPITEL

Kathy war einen Moment lang sprachlos. Einerseits war sie total erleichtert, weil Reginald Brown für den Moment kampfunfähig war. Aber andererseits hatte David sie eingeholt – und er würde sie gewiss zum Bus zurückbringen!

Bei der Vorstellung, Pete noch einmal unter die Augen treten zu müssen, krampfte sich Kathys Magen zusammen. Von dem Anführer hatte sie nichts Gutes zu erwarten, das war ihr vollkommen klar.

Einen Moment lang blieb sie unschlüssig stehen. Eigentlich hatte Kathy angenommen, dass David sie sofort entwaffnen würde. Sie hielt schließlich immer noch den Meißel in der Hand. Doch stattdessen beugte der Entführer sich über Reginald Brown und tastete nach dessen Halsschlagader.

„Der Mann ist zum Glück nicht tot, nur k. o. Ich hatte schon befürchtet, zu fest zugeschlagen zu haben“, seufzte David erleichtert.

„Seit wann nimmt ein Verbrecher Rücksicht auf das Leben seiner Opfer?“, stieß Kathy verzweifelt hervor. Eigentlich mochte sie David, aber einer seiner Kumpane hatte schließlich zwei Morde begangen. David steckte mit Pete unter einer Decke, das war nun einmal Tatsache. Deshalb konnte sie nicht über sein Vorleben hinwegsehen.

Doch mit Davids Reaktion auf ihre Worte hätte sie niemals gerechnet. Er schüttelte den Kopf und schaute sie ernst an. „Du wirst es vielleicht nicht glauben, Kathy – aber ich bin kein Krimineller. Im Gegenteil, ich bin ein Cop.“

Kathy fiel aus allen Wolken. Im ersten Moment glaubte sie, dass sich David einen schlechten Scherz auf ihre Kosten erlaubte. Aber er sah nicht so aus, als ob ihm nach Witzen zumute wäre. Er wand dem Bewusstlosen die beiden Messer aus den Händen und schleuderte die Stichwaffen irgendwo in die Finsternis. Danach band er sein Halstuch ab und fesselte damit Reginald Browns Handgelenke.

„Du – ein Cop? Und das soll ich dir glauben, David?“

„Oh, du wirst es mir glauben. Ich werde jetzt nämlich dafür sorgen, dass meine Kollegen dich in Sicherheit bringen. Weißt du zufällig, ob dieser Mann hier ein Handy hat?“ Er sah sie fragend an und nickte dann zu der toten Chinesin. „Und warum ist Li tot? Sie ist doch tot, nicht wahr? Es sieht so aus, als ob ihr Genick gebrochen wurde. Magst du mir erzählen, was geschehen ist?“

Davids Ernsthaftigkeit nahm Kathy den Wind aus den Segeln. Sie hatte eigentlich angenommen, dass er ihr sofort den Meißel entreißen würde. In diesem Moment war er selbst jedenfalls unbewaffnet, während Kathy immer noch das scharfkantige Werkzeug in den Fingern hatte. War das nicht ein schlagender Beweis dafür, dass er es ehrlich meinte?

Ob sie David vertrauen konnte? Vielleicht wollte er sie einlullen oder manipulieren, um sie dann zum Bus zurückzuschleifen. Aber warum hatte David nicht Browns Messer eingesetzt, um sie zu entwaffnen?

Dafür gab es nur eine einleuchtende Erklärung: David arbeitete wirklich für die Polizei. Und doch konnte Kathy es noch nicht richtig glauben.

„Wenn du wirklich ein Cop bist – warum hast du den Geiseln dann nicht geholfen? Wie konntest du überhaupt zulassen, dass der Bus gekidnappt wurde?“

„Du hast recht, das hätte nicht passieren dürfen“, gab David zerknirscht zu. „Ich war im Undercover-Einsatz. Ich wurde im Nevada State Prison eingesetzt, um Petes Vertrauen zu gewinnen. Er ist ein Verbindungsmann zum mexikanischen Norte-Kartell, einer besonders brutalen Organisation der Drogenmafia. Ich war Petes Zellengenosse. Nach und nach erfuhr ich von dem geplanten Ausbruch.“ Er sah Kathy unverwandt an, während er erzählte. Kathy war gespannt darauf, wie die Geschichte weiterging. „Natürlich hoffte ich, dass Pete außerhalb der Gefängnismauern Kontakt zu den Drogengangstern aufnehmen würde. Dann hätten wir das ganze Spinnennetz zerreißen können.“ Er lachte frustriert auf, dann fuhr er fort: „Ich glaube auch immer noch, dass Pete demnächst die Hilfe seiner mexikanischen Kumpane suchen wird. Dass bei dem Knastausbruch zwei Wärter verletzt wurden, war schon schlimm genug. Als ich von der geplanten Busentführung erfuhr, konnte ich nichts dagegen machen. Pete vertraut mir nicht hundertprozentig. Jedenfalls hat er mir bisher noch nie eine der Pistolen überlassen.“ David warf Kathy einen besonders frustrierten Blick zu. „Es ist furchtbar, dass der Busfahrer und die Studentin sterben mussten. Aber in beiden Fällen konnte ich nichts dagegen tun. Wenn ich an eine der Schusswaffen gelangen könnte, sähe die Sache schon anders aus. Aber jetzt kann ich wenigstens dich endgültig aus der Schusslinie bringen.“ Er sah sie fragend an. „Ich hoffe nur, dass dieser seltsame Messerschwinger hier irgendwo ein Handy hat. Wer ist das eigentlich? Weißt du etwas über ihn?“

Statt zu antworten, überlegte Kathy, ob David den durchgeknallten Reginald Brown nicht kennen müsste. Doch dann fiel ihr ein, dass der merkwürdige Heilige aus dem Bus ausgestiegen war, bevor Pete und die anderen Ausbrecher das Fahrzeug gekidnappt hatten.

David begann damit, das Gepäck von Reginald Brown zu durchsuchen. Als Erstes fand er eine Wasserflasche. Von diesem Moment hatte Kathy in den vergangenen Stunden schon mehrfach geträumt – Wasser. Und nun wurde die Fantasie Wirklichkeit. Noch nie zuvor in ihrem jungen Leben hatte Kathy sich so sehr nach etwas Trinkbarem gesehnt.

„Hier, du hast nach eurer anstrengenden Flucht bestimmt Durst.“ David warf das Plastikbehältnis zu Kathy hinüber.

Sie schraubte die Flasche mit zitternden Fingern auf und trank gierig. Noch nie hatte ihr etwas Flüssiges so gut geschmeckt wie dieses schale Wasser. Nachdem sie ihren schlimmsten Durst gestillt hatte, berichtete sie David von ihrem Marsch durch die Wüste und von der Begegnung mit Reginald Brown. Sie erwähnte auch die geheimnisumwitterten Si-Te-Cah.

David nickte stirnrunzelnd. „Ja, davon habe ich schon gehört. Hier in Nevada gibt es einen Ort namens Lovelock, wo man Überreste von diesem sagenhaften Riesenvolk gefunden hat. Aber die Knochen stammen wahrscheinlich von ausgestorbenen Bären, und die Haarreste haben durch chemische Prozesse diese rötliche Färbung angenommen. Es hat also kein Riesenvolk gegeben, das ist ein Märchen. Aber dieser Brown scheint sowieso nicht ganz fit im Kopf zu sein.“

„Das kann man wohl sagen“, seufzte Kathy. „Hey, sind das Erdnüsse?“

David, der Browns Rucksack durchwühlte, hatte soeben eine Blechdose zutage gefördert. Er nickte und gab die Büchse an Kathy weiter. Kathy schämte sich, weil sie essen und trinken konnte, während ihre tote Freundin nur einen Steinwurf von ihr entfernt lag. Aber Hunger und Durst waren schon beinahe übermächtig geworden. Li wurde nicht wieder lebendig, wenn Kathy ebenfalls zugrunde ging. Sie musste Nahrung und Flüssigkeit zu sich nehmen, denn ihr war schon schwindlig vor lauter Schwäche und Erschöpfung.

Allmählich erwachten ihre Lebensgeister wieder, obwohl der Schock wegen Lis plötzlichem Tod ihr immer noch in den Knochen steckte.

David beschäftigte sich weiter mit Browns Rucksack. Plötzlich hielt er ein Smartphone in der Hand. Kathy war immer noch skeptisch, obwohl sie ihm von ihrem Gefühl her wirklich gern glauben wollte.

„Warum nimmst du nicht eines von den Handys, die ihr uns im Bus abgenommen habt?“

„Pete hat sich die eingesammelten Handys unter den Nagel gerissen“, informierte David sie. „Er will der Einzige sein, der mit der Buszentrale und überhaupt mit der Außenwelt im Kontakt bleibt. Er ist ein Psychopath, der sich nur wohlfühlt, wenn er seine Mitmenschen absolut unter Kontrolle hat und terrorisieren kann.“

Kathy nickte düster. Davids Ansicht passte zu dem, was Li und sie selbst über Pete gedacht hatten. Dieser Mann war zweifellos der gefährlichste von den Ausbrechern. Und er war gerissen. Aber wenn David nun mit gezinkten Karten spielte? Vielleicht gab er sich ja nur Kathy gegenüber als Cop aus, damit sie ohne Widerstand gemeinsam mit ihm zum Bus zurückkehrte? Sie konnte die letzten Zweifel nicht aus ihrer Seele verbannen.

Inzwischen wählte David mit dem Smartphone eine Nummer. Er schaltete den Lautsprecher ein, damit sie den folgenden Wortwechsel mithören konnte.

Zunächst meldete sich eine weibliche Stimme. „Nevada State Police Reno.“

„Hier spricht Officer David Lorne“, antwortete David. „Ich bin Nevada State Trooper und muss sofort mit dem zuständigen Einsatzleiter sprechen. Es geht um die Busentführung am Interstate Highway 95.“

„Einen Moment, Officer. Ich verbinde Sie mit Captain Frederick Tucker.“

Ein Knacken und Rauschen war zu hören, dann ertönte eine tiefe männliche Bassstimme. Obwohl sich Kathy und David in einer Höhle befanden, war die Verbindung gut. Es gab in Nevada offenbar ein starkes Mobilfunknetz.

„Ich bin Captain Tucker. Identifizieren Sie sich, Officer. Wer ist Ihr Vorgesetzter?“

„Lieutenant Hanley, Sir. Meine Dienstnummer lautet eins, zwei, neun, neun, fünf, sechs. Ich war im Undercover-Einsatz im Nevada State Prison und bin zusammen mit drei Häftlingen geflohen.“

„Ich werde eine Konferenzschaltung einrichten“, gab der Einsatzleiter zurück. „Ich kenne Ihre Stimme nicht, Sie könnten auch einer der Straftäter sein.“

Kathy hörte atemlos zu.

Wenig später meldete sich eine andere Männerstimme zu Wort. „David? Wir hatten schon befürchtet, dass Sie nicht mehr leben würden, nachdem Kollegen von der Highway Patrol den Leichnam des Busfahrers gefunden haben. Geben Sie mir einen Lagebericht.“

„Jawohl, Lieutenant Hanley.“ David berichtete von den Ereignissen im Bus, von Lizas Tod und von Kathys und Lis geglückter Flucht. Dann fügte er hinzu: „Sir, die Geisel Kathy Ballard ist noch wohlauf, während Li Wong durch einen Unfall ums Leben gekommen ist. Sie wurden von einem Geisteskranken angegriffen, den ich aber überwältigen konnte.“ Er warf Kathy einen aufmunternden Blick zu, ehe er fortfuhr: „Kathy Ballard muss umgehend in Sicherheit gebracht und der Gefangene verhaftet werden. Wir sind in einem Höhlenlabyrinth irgendwo östlich vom Highway 95. Leider kenne ich unsere Position nicht.“

„Aber wir, Officer“, drang die sonore Männerstimme aus dem Smartphone. „Nachdem einer der Geiselnehmer – Pete Flanagan – die Buszentrale angerufen und seine Lösegeldforderung gestellt hat, wurden wir eingeschaltet. Wir haben das südwestliche Nevada mit Helikoptern überflogen. Mit den Wärmebildkameras war der Bus zu lokalisieren. Die Höhlen, in denen Sie sich befinden, gehören wahrscheinlich zur Silver Peak Range. Der Bus steht ungefähr zwei Meilen westlich von Ihnen. Ein Geiselbefreiungsteam ist vor Ort.“

„Wurde der Bus bereits gestürmt, Sir?“, fragte David.

„Negativ, Officer Lorne. Die Kollegen haben außerhalb der Sichtweite von Pete und dessen Leuten Stellung bezogen. Das Leben der Geiseln hat absoluten Vorrang, wie Sie wissen. Die Spezialeinheit kann nicht eingreifen, solange beide Schusswaffen in den Händen der Ausbrecher sind. Wenn wenigstens der Anführer entwaffnet wäre, könnten wir Blendgranaten werfen und die Männer ausschalten. Aber Pete Flanagan ist mit Abstand der brutalste von den drei Kriminellen.“

„Ja, er hat den Busfahrer und die Studentin erschossen“, bestätigte David. „Ich habe mehrfach überlegt, ob ich ihn entwaffnen soll. Aber bisher war ich auf mich allein gestellt, Sir. Wenn natürlich ein Spezialteam in der Nähe ist, sieht die Sache schon anders aus.“

„Ich vertraue auf Sie, Officer Lorne. Die Eingreiftruppe ist mit Hochleistungs-Richtmikrofonen ausgestattet. Jedes Wort, das im Bus gesprochen wird, hören sie mit. Ich kann Ihnen sagen, dass die Situation dort schon sehr angespannt ist. Zum Glück hat sich der Zustand des älteren Mannes mit den Herzproblemen stabilisiert. Aber das ist auch die einzige gute Nachricht. Der Soldat hat offenbar eine Platzwunde davongetragen, aber der Anführer hat ihn nicht erschossen – noch nicht. Mit ziemlicher Sicherheit weiß Pete, dass seine Verhandlungsposition schwächer wird, wenn immer mehr Geiseln sterben. Deshalb will er ja auch unbedingt, dass die beiden weiblichen Geiseln wieder eingefangen werden.“

„Das wird nicht geschehen, Sir“, sagte David mit Bestimmtheit. „Können unsere Kollegen Kathy Ballard möglichst bald in Sicherheit bringen? Sie ist erschöpft, hat sich aber bisher sehr tapfer gehalten.“

Kathy wurde von einem warmen Glücksgefühl durchflutet, als David diese lobenden Worte für sie fand. Gewiss, sie war immer noch am Boden zerstört wegen Lis plötzlichem Tod. Aber gerade weil sie in den letzten Stunden so viel Negatives erlebt hatte, sehnte sie sich nach etwas Schönem und Aufbauendem. Deshalb tat ihr Davids Anerkennung unendlich gut.

David – Officer David Lorne von der Nevada State Police – hatte Kathys Herz im Sturm erobert. Ihre Bedenken wegen seiner verbrecherischen Vergangenheit waren wie weggeblasen, denn er hatte ja im Undercover-Einsatz den Kriminellen nur gespielt. Die Aussicht, bald diese Horrorhöhle verlassen zu können, verbesserte ihre Laune noch weiter. Außerdem konnte sie den Anblick von Lis Leiche nicht gut ertragen.

Die Stimme des Einsatzleiters Captain Tucker riss sie aus ihren Gedanken. „Ich habe gerade auf einer anderen Leitung mit dem Teamchef gesprochen, Officer. Ein Fahrzeug ist soeben losgefahren, um die Geisel abzuholen und den Wahnsinnigen abzutransportieren. Die Kollegen müssen einen weiten Bogen schlagen, damit die Entführer im Bus das Motorengeräusch nicht hören. Schätzungsweise in zehn Minuten werden sie bei Ihnen sein.“

„Verstanden, Sir. Ich werde abwarten, bis Kathy Ballard sicher in der Obhut der Kollegen ist. Dann kehre ich zum Bus zurück und behaupte, die Geiseln nicht gefunden zu haben.“

„Pete wird nicht erfreut darüber sein“, prophezeite Tucker.

„Nein, aber er braucht mich“, beschwichtigte ihn David. „Deshalb wird mir nichts geschehen.“

„Sie haben bisher gute Arbeit geleistet, Officer. Denken Sie daran – Sie sind nun nicht mehr allein. Das Geiselbefreiungsteam liegt in Bereitschaft und hört jedes Wort, das im Bus gesprochen wird.“

David verabschiedete sich von seinen Vorgesetzten und steckte das Smartphone wieder ein. Dann lächelte er Kathy aufmunternd zu. „Sie müssen nicht mehr lange ausharren, Miss Ballard.“

„Willst du mich nicht lieber weiter Kathy nennen? Wir müssen doch jetzt nicht so förmlich werden, nachdem wir so viel gemeinsam ausgestanden haben, oder?“

„Nein, wahrscheinlich nicht“, gab David zu. „Du hast eine unglaubliche Nervenstärke bewiesen, Kathy. So etwas bewundere ich an Frauen. Euer Fluchtversuch war sehr riskant, das hätte auch schiefgehen können. Aber wenn ihr nicht abgehauen wärt, hätte ich dieses Smartphone nicht finden und im Hauptquartier anrufen können.“

„Ja, ich weiß jetzt, dass du ein echter Cop bist“, sagte Kathy. „Und das ist gut.“

„Warum?“

„Weil …“, sie zögerte, „es schlecht wäre, wenn ich mich für einen Knastausbrecher interessiere.“

David ließ langsam die Luft aus seinen Lungen. „Wow. Das heißt also, du … ich meine …“

Der zuvor so selbstsichere junge Officer stammelte, was Kathy total süß fand. Sie mochte es nicht, wenn ein Mann zu perfekt war. Und Davids plötzliche Unbeholfenheit machte ihn in ihren Augen nur noch sympathischer.

Doch die bedrückende Stimmung in der finsteren Grotte wurde immer unerträglicher. Kathy wollte nur noch an die frische Luft. Außerdem brannte das Lagerfeuer langsam nieder, wodurch die Sichtverhältnisse in der Höhle nicht besser wurden.

„Bringst du mich nach draußen?“, fragte Kathy und beendete damit vorerst das Gespräch über ihre gegenseitige Sympathie.

„Ja, natürlich“, beeilte sich David zu sagen.

Kaum hatte er eine konkrete Aufgabe, wurde er wieder selbstsicherer. Er nahm Kathy bei der Hand und bewegte sich zielstrebig durch die dunkle Höhle. Kathy fand es einfach nur schön, seine warmen und festen Finger zu spüren. Trotz der angespannten Situation lächelte sie glücklich. Sie und David hielten Händchen, wie ein richtiges Liebespaar. Ob sich später mehr zwischen ihnen entwickeln würde? Sie hoffte sehr, dass David in ihr nicht nur eine befreite Geisel sah, die es zu beschützen galt.

Kathy erinnerte sich an den ersten heißen Augenflirt, den sie in dem Diner mit David gehabt hatte. Das war sehr schön gewesen, und sie hatte sich schon in dem Moment gewünscht, dass mehr zwischen ihnen laufen würde. Dann hatte sie David die ganze Zeit für einen Kriminellen gehalten und versucht, ihn zu verabscheuen. Aber es war ihr nicht gelungen, denn tief in ihrem Herzen empfand sie immer noch etwas für ihn.

Und jetzt sah sie ihn in einem besseren Licht als jemals zuvor.

David war sehr um ihr Wohlergehen besorgt. Schon bald würde er sie in die Obhut seiner Polizeikollegen übergeben. Kathy hoffte nur, dass ihm selbst nichts zustieß. Denn es war klar, dass David seine Undercover-Rolle beibehalten und in den Bus zurückkehren musste.

Sie näherten sich dem Ausgang. Kathy sah vor ihnen bereits die Sterne funkeln. Ihr Herz klopfte schneller. Schon bald würden alle Schwierigkeiten und Gefahren hinter ihr liegen. Dieser Gedanke machte Kathy übermütig. Sie hielt abrupt an.

David, der ihre Hand hielt, wurde dadurch ebenfalls gestoppt. „Was ist denn los, Kathy?“

„Ich habe dir noch gar nicht richtig dafür gedankt, dass du mich vor Reginald Brown gerettet hast“, sagte sie.

Und bevor sie Angst vor ihrem eigenen Mut bekam, stellte sich Kathy auf die Zehenspitzen und drückte ihre Lippen auf Davids Mund. Der Kuss war überwältigend – und zwar vor allem deswegen, weil er von David erwidert wurde. Der junge Cop zog Kathy an sich. Sie spürte seine harten Muskeln unter dem Shirt. Kathy hatte es immer schon gemocht, wenn ein Mann richtig durchtrainiert war. Von der Optik her hatte ihr David schon auf den ersten Blick gefallen. Und inzwischen wusste sie noch mehr über ihn, und das machte ihn nur noch anziehender.

David war mutig, sonst hätte er sich wohl kaum an den Undercover-Einsatz hinter Gittern gewagt. Wenn er dort als Polizist enttarnt worden wäre, hätte er sein Testament machen können. Und er besaß viel Verantwortungsbewusstsein. Wäre das nicht so gewesen, hätte er bei der Busentführung den Helden spielen und den Tod mehrerer Passagiere in Kauf nehmen können. Doch er hielt sich selbst in riskanten Situationen zurück, um die Menschen nicht zu gefährden.

Es fühlte sich für Kathy jedenfalls einfach nur gut an, in Davids Armen zu liegen. Dieser Moment voller Zärtlichkeit entschädigte sie ein wenig für den Horror, der hinter ihr lag.

„Es ist so dunkel hier drinnen“, hörte sie David irgendwann sagen. „Lass uns aus der Höhle verschwinden, ich will das Mondlicht auf deinem schönen Gesicht sehen.“

„Ja, gerne“, ging Kathy bereitwillig auf seinen Vorschlag ein.

Eng umschlungen legten sie die letzten Meter zurück. Endlich hatten sie die Grotte hinter sich gelassen.

Doch draußen wartete eine böse Überraschung auf sie.

„Hey, David – man könnte euch ja glatt für ein Liebespaar halten“, nahm eine allzu vertraute Stimme sie in Empfang. „Cool, dass du die Kleine eingefangen hast. Aber wo ist ihre schlitzäugige Freundin?“

Kathy konnte spüren, wie David zusammenfuhr. Er war von der Begegnung offenbar genauso überrascht wie sie selbst.

Vor ihnen stand der glatzköpfige Schwarze, Jay. Er hatte eine Pistole in der Hand. Und man konnte im Mondlicht nicht genau erkennen, ob die Mündung auf Kathy oder auf David gerichtet war.