1. KAPITEL
Kathy Ballard wurde von dürren grauen Greifarmen gepackt. Die Kreaturen, die sie festhielten, waren nicht von dieser Welt. Sie zerrten die einundzwanzigjährige Studentin in einen stillgelegten Bergwerksstollen. Kathy wollte schreien, doch die Panik schnürte ihr die Kehle zu. Die Augen ihrer Widersacher leuchteten rot im Halbdunkel. Sie wisperten in einer ihr unbekannten Sprache. Aber das war noch lange nicht das Schlimmste. Kathy bemerkte, dass der Durchgang in einer Höhle endete. Nein, der große Hohlraum war eher eine Art Hangar. Und dort befand sich ein metallisch glitzerndes Raumschiff.
Kathy stand eigentlich auf Science-Fiction-Filme. Aber es war etwas völlig anderes, plötzlich selbst von Außerirdischen in eine fliegende Untertasse geschleppt zu werden. Sie starb beinahe vor Angst. Es gab niemanden weit und breit, der ihr helfen konnte. Und wieder tastete eine der unmenschlichen Krallen über ihre Haut …
„Hey, ist alles okay mit dir?!“
Die helle weibliche Stimme holte Kathy aus ihrem Albtraum in die Wirklichkeit zurück. Sie benötigte einige Sekunden, um ihre üblen Hirngespinste zu überwinden. Nein, sie war nicht in einem Bergwerksstollen, sondern in einem Überlandbus. Vor ihr befand sich kein Raumschiff, sondern nur der Interstate Highway 95 zwischen Las Vegas und Reno. Und auf ihrem Unterarm lag kein Alien-Greiforgan, sondern die Hand einer jungen Frau mit asiatischen Gesichtszügen.
Kathy atmete tief durch und strich sich einige ihrer rotblonden Haarsträhnen aus der Stirn. Sie war völlig verschwitzt, obwohl die Klimaanlage im Bus gut funktionierte. Es war beinahe ein wenig frisch. Doch draußen, vor den getönten Fensterscheiben, herrschte eine Gluthitze. Das Fahrzeug bewegte sich auf dem Highway durch Nevada, und dieser US-Bundesstaat bestand größtenteils aus Wüsten und Gebirge. Zudem war gerade Hochsommer.
Kathy schaute sich ihre Sitznachbarin genauer an. Die Asiatin musste Platz genommen haben, während Kathy geschlafen hatte. Die junge Frau mit den Mandelaugen war schlank und trug schulterlanges Haar. Bekleidet war sie mit knielangen Kakishorts und einem ärmellosen hellorangefarbenen Top. Und sie bemerkte natürlich, dass sie von Kathy gemustert wurde.
„Du hast fürchterlich geächzt und gestöhnt, da habe ich dich lieber aufgeweckt. Ist es dir recht, dass ich mich neben dich gesetzt habe?“ Die Mandelaugen blickten fragend. „Du hast vorhin ganz friedlich geschlummert. Der Bus war ziemlich voll. Inzwischen sind einige Passagiere schon wieder ausgestiegen. Aber ich habe dein T-Shirt gesehen und dachte mir, dass wir in Zukunft Kommilitonen sind. Deshalb wollte ich lieber neben dir sitzen.“
Die Asiatin deutete auf Kathys Oberteil, auf dem in großen Lettern die Worte „NEVADA STATE UNIVERSITY RENO“ prangten.
Kathy lächelte ihrer neuen Reisebekanntschaft zu. „Das T-Shirt ist ein Willkommensgeschenk der Uni. Die Studiengebühren sind hoch genug, aber dieses Textilteil gab es wenigstens gratis.“ Sie nickte freundlich. „Klar, du kannst gerne neben mir sitzen. Mein Name ist übrigens Kathy Ballard. Ich komme aus Nottingham in England.“
„Echt? Ich dachte mir schon, dass dein Akzent nicht gerade amerikanisch klingt. Ich bin Li Wong und stamme aus Shanghai in China. Meine Studiengebühren zahlt zum Glück der Staat. Aber dafür muss ich auch erstklassige Leistungen bringen.“
Kathy schaute Li Wong neugierig an. Wie eine Streberin sah ihre Sitznachbarin nicht wirklich aus. Auf jeden Fall war ihr die Chinesin auf Anhieb sympathisch. Und Kathy war froh, nun jemandem zum Reden zu haben. Denn die Nachwirkungen ihres Albtraums spukten immer noch in ihr herum. Da war es perfekt, sich ablenken zu können.
„Es war total gut, dass du mich wachgerüttelt hast, Li. Ich habe von unheimlichen Aliens geträumt, die mich in ihr Raumschiff zerren wollten. Ich bin immer noch ziemlich durch den Wind, obwohl es nur ein Traum war.“
Die Chinesin lächelte und zwinkerte Kathy zu. „Wir sind vorhin an Area 51 vorbeigefahren. Vielleicht hat dieser Ort ja dein Unterbewusstsein beeinflusst.“
Als Science-Fiction-Fan wusste Kathy, dass Area 51 ein militärisches Sperrgebiet der US-Luftwaffe war. Im Internet wimmelte es von den abgefahrensten Verschwörungstheorien, die sich um den geheimnisvollen Platz rankten. Angeblich sollten dort die Überreste von toten Marsmenschen gelagert werden, Verhandlungen mit außerirdischen Mächten stattfinden oder sogar eine geheime Weltregierung tagen. Auch TV-Serien wie „Roswell“ oder „EUReKA“ befeuerten den Mythos durch ständig neue Ideen, die von Area 51 inspiriert wurden.
Kathy wusste nicht, was sie davon halten sollte. Eigentlich glaubte sie ja nicht an übernatürliche Dinge. Doch es gab einen dunklen Teil ihrer Seele, der sich vor dem Geheimnisvollen zutiefst fürchtete.
„Area 51? Wow, das hätte ich gern gesehen.“
„Es gab nicht viel zu entdecken, Kathy. Du hast nichts versäumt, glaub mir. Mir wäre das Gebiet gar nicht aufgefallen, wenn der Fahrer nicht eine Lautsprecherdurchsage gemacht hätte. Man konnte nur ein paar halb verfallene Verbotsschilder sehen, ansonsten war überall dieselbe Wüstensteppe mit ein paar einsamen Sagebrush-Sträuchern. Die kannst du jetzt auch draußen vor den Fenstern sehen.“ Li senkte ihre Stimme, bevor sie fortfuhr: „Der Einzige, der wirklich aus dem Häuschen war, sitzt schräg vor uns.“ Die Chinesin deutete unauffällig auf einen älteren Mann in Shorts, der ein bunt bedrucktes Hemd und einen Schlapphut trug. „Der alte Knabe ist aufgesprungen und hat Fotos gemacht, als ob es kein Morgen gäbe. Dabei hat er wild mit den Armen gefuchtelt. Außerdem redet er die ganze Zeit mit sich selbst.“
Er murmelte wirklich leise vor sich hin. Kathy machte einen langen Hals, um dezent in seine Richtung schauen zu können. „Vielleicht hat er ja ein Bluetooth-Headset im Ohr, Li.“
Die Chinesin schüttelte den Kopf. „Hat er nicht, der spricht nur mit den Stimmen in seinem Kopf. Ich tippe auf schizophrene Wahnvorstellungen, wenn auch in einer milden Form.“
„Das klingt so, als ob du davon etwas verstehen würdest.“
„Ich studiere Psychologie und hab auch schon ein Praktikum in einer Nervenklinik gemacht. Die Patienten können sehr anstrengend sein. Im Vergleich dazu wird das Gastsemester in Reno wahrscheinlich ziemlich locker.“
„Mein Hauptfach ist amerikanische Literatur, ich bin also ein richtiger Bücherwurm“, erklärte Kathy mit einem Grinsen. „Ich habe schon mehrfach versucht, einen Studienaufenthalt in den Staaten zu ergattern. Na ja, nun hat es endlich geklappt.“
„Und wie bist du ausgerechnet auf Reno gekommen?“
„Die Gebühren der Nevada State University konnte sich meine Mutter gerade noch leisten“, gestand Kathy. „Ich wäre lieber nach Los Angeles oder New York gegangen, aber das ist einfach zu teuer.“
Das Thema war Kathy wirklich unangenehm. Aber zum Glück hackte Li nicht darauf herum. Außerdem fuhr der Bus nun vom Highway herunter und hielt neben einem Diner. Die Raststätte sah mit der schrill-bunten Neonreklame auf dem Dach aus wie die Kulisse eines Fünfzigerjahre-Films.
Kathy musste an Comics und Cartoon-Serien im Fernsehen denken. Amerika kam ihr sowieso seltsam unwirklich vor. Sie kannte das Land bisher nur auf der Mattscheibe und aus dem Kino. Aber jetzt bewegte sie sich selbst durch diese Landschaft, die auch zu einem Western mit John Wayne gepasst hätte. Kathy kam sich seltsam verloren vor und war froh, dass die Chinesin wieder zu reden begann.
„So habe ich mir als Kind Amerika immer vorgestellt“, meinte Li. „Inzwischen gibt es ja auch in China Burger-Restaurants, aber damals war das für uns eine völlig fremde Welt.“
„Klar, für euch Chinesen ist Amerika wahrscheinlich noch viel exotischer als für uns Engländer.“
„Darauf kannst du wetten“, kicherte Li. „Allein schon, weil man einen Cheeseburger nicht mit Stäbchen essen kann. Außerdem finden viele meiner Landsleute Käse ziemlich eklig.“
Bevor Kathy etwas erwidern konnte, machte der Busfahrer eine Lautsprecherdurchsage: „Ladys und Gentlemen, wir legen hier einen kurzen Aufenthalt ein. Nutzen Sie die Gelegenheit, um sich die Beine zu vertreten oder etwas zu essen. In einer halben Stunde geht es weiter.“
Kathy und Li verließen mit den anderen Passagieren den Bus. Dabei wurden sie Zeuginnen eines wütenden Wortwechsels zwischen dem Fahrer und dem seltsamen Kauz mit dem Schlapphut.
„Ich steige hier aus, meine Reise ist zu Ende. Erstatten Sie mir den anteiligen Fahrpreis zurück.“
„Das ist nicht möglich, Mister Brown. Sie haben ein Ticket nach Reno gelöst.“
„Aber ich fahre nicht nach Reno, das habe ich Ihrer Kollegin am Fahrkartenschalter auch schon erklärt.“
„Und meine Kollegin wird Ihnen gesagt haben, dass dieses Diner kein offizieller Haltepunkt ist.“
„Aber wir halten hier doch, oder etwa nicht?“
Der Fahrer seufzte. Es fiel ihm offenbar nicht leicht, ruhig zu bleiben. „Wir halten, um eine Pause einzulegen. Das ist gesetzlich vorgeschrieben.“
„Was sind das für lächerliche Gesetze! Ihr seid doch alle nur Marionetten der dunklen Mächte. Aber Sie werden es noch bereuen, sich mit mir angelegt zu haben. Geben Sie mir jetzt endlich meinen Rucksack, sonst wende ich Gewalt an!“
Der Fahrer öffnete den Gepäckraum im unteren Teil des Busses und überreichte dem wütenden Mann einen klobigen Stangenrucksack. Er lud sich sein Gepäck unter fortwährendem Gemurmel auf den Rücken und stapfte dann grußlos am Diner vorbei in die unendliche Öde der Nevada-Wüste.
Li schüttelte den Kopf. „Der Typ läuft in sein Unglück. Ich habe gelesen, dass es in der Mittagshitze hier heißer als 40 Grad Celsius werden kann, und das bei extremer Trockenheit. Ohne ausreichende Wasservorräte und Ausrüstung wird er nicht lange überleben.“
„Aber müsste man ihn dann nicht von seinem Vorhaben abhalten?“
„Du kannst es ja mal versuchen.“
Kathy zögerte einen Moment, denn eigentlich ging sie die ganze Sache ja gar nichts an. Aber dann eilte sie doch hinter Brown her. „Warten Sie einen Moment, Sir.“
Der Wirrkopf drehte sich um. „Ja, Miss?“
„Sind Sie … ich meine, wollen Sie nicht doch lieber bis Reno mitfahren? Die Gegend hier sieht ziemlich unwirtlich aus, hier könnte es gefährlich werden.“
Der Mann streckte seinen Kopf nach vorn und warf Kathy einen verschwörerischen Blick zu. „Nicht für mich, denn Reginald Brown steht unter dem Schutz besonderer Mächte.“ Sein Blick bekam etwas Drohendes. „Sie sollten nicht versuchen, mich zurückzuhalten. Das könnte Ihnen schlecht bekommen, Miss. Und nun entschuldigen Sie mich, es wartet ein äußerst wichtiges Projekt auf mich.“
Mit diesen Worten ließ Reginald Brown Kathy einfach stehen und marschierte weiter ins Nirgendwo. Was war das denn, bitte? Mit solchen Erlebnissen hatte sie nicht unbedingt gerechnet. Sie war davon ausgegangen, in Amerika andere Menschen zu treffen als in ihrem verschlafenen Heimatort Nottingham. Aber dieser Typ war ja nun echt ziemlich seltsam, fast schon bedrohlich. Eigentlich konnte sie froh sein, dass er nicht mehr im Bus mitfuhr.
Einigermaßen verwirrt kehrte Kathy zu Li zurück.
Die Chinesin grinste und klopfte ihr aufmunternd auf die Schulter. „Du bist bei ihm abgeblitzt, nicht wahr? Wenn ein Geisteskranker sich etwas in den Kopf gesetzt hat, ist er nur sehr schwer umzustimmen. Aber solange dieser Mann nicht entmündigt ist, kann er mit seinem Leben tun, was ihm gefällt. Auch wenn er in sein Verderben rennt.“
Kathy nickte. Einerseits hatte sie sich vor Reginald Brown gefürchtet, andererseits tat er ihr leid. Doch wie hätte sie ihm helfen können? Wahrscheinlich hatte Li recht. Und vielleicht gab es ja in der Nähe Dörfer und Farmen, wo der einsame Wanderer auf Hilfe hoffen konnte. Kathy musste sich eingestehen, dass sie sich in Nevada noch nicht besonders gut auskannte. Das war auch kein Wunder. Schließlich war sie erst vor weniger als zwölf Stunden mit einem Billigflieger in Las Vegas angekommen und hatte sich direkt im Anschluss in den Bus geschwungen. Sie litt immer noch unter dem Jetlag, war aufgedreht und übermüdet zugleich. Eigentlich war es kein Wunder, dass sie im Bus ein Albtraum heimgesucht hatte.
Nein, nicht schon wieder diese grässlichen Szenen aus ihrem Traum! Sie bemühte sich stattdessen auf den Gastraum zu konzentrieren, den sie nun gemeinsam mit Li und den anderen Passagieren betrat.
Kühle Luft schlug ihnen entgegen, denn genau wie der Bus besaß auch das Diner Aircondition. Es gab eine lange Theke, die mit Aluminium verkleidet war. Die Wände waren mit handsignierten Fotos von Frauen und Männern in Cowboyoutfits dekoriert. Vermutlich waren es Countrystars, die hier Station gemacht und Autogramme gegeben hatten. Kathy kannte sie nicht, denn sie stand mehr auf britische Independent-Bands wie Arctic Monkeys und Stone Roses. Die hatten einen völlig anderen Sound als amerikanische Traditions-Countrysänger.
An der Theke saßen auf Barhockern stämmige Männer mit Baseballcaps, die wie Trucker wirkten. Ansonsten gab es nicht viele andere Gäste. Kathy rutschte mit Li in eine Sitzecke links am Fenster, von wo aus sie einen Panoramablick auf den Highway hatten.
„Auch in China gibt es große Gebiete mit öden Landschaften“, sagte Li versonnen. „Ich war mal in der Wüste Gobi, das ist immerhin die fünftgrößte Wüste der Welt. In meiner Heimat wird Gobi auch han hai genannt, das bedeutet ‚trockener See‘. Aber die Atmosphäre hier in Nevada ist völlig anders.“
Kathy nickte zerstreut. Sie schaute an Lis Schulter vorbei auf eine Gruppe von vier Männern, die in einer Sitznische schräg gegenüber hockten. Drei von den Typen, ein athletischer Schwarzer, ein mittelgroßer Halbglatzenträger und ein magerer Kerl mit blasser Haut, waren wesentlich älter als sie selbst und interessierten sie herzlich wenig. Doch der vierte am Tisch passte genau in Kathys Beuteschema. Sie schätzte ihn auf Anfang bis Mitte zwanzig. Sein kurz geschnittenes Haar war kastanienbraun, seine Augen dunkel. Dafür hatte Kathy immer schon eine Schwäche gehabt. Er blinzelte ihr lächelnd zu, widmete sich dann aber wieder scheinbar desinteressiert seinem Burger.
Wow, diese spontanen Augenflirts waren genau Kathys Ding. Sie war sicher, dass der Braunhaarige ihre Blicke bemerkt hatte. Denn gleich darauf schaute er wieder auf. Glänzten seine Augen? Auf die Entfernung konnte sie das unmöglich genau sagen, aber sie wünschte es sich. Gerne hätte sie den Fremden näher kennengelernt, obwohl seine drei Kumpane nicht gerade vertrauenerweckend aussahen.
Aber es wirkte auch nicht so, als ob sie seine Freunde oder gar Verwandte wären. Wahrscheinlich waren die vier Männer einfach Arbeitskollegen, und die konnte man sich bekanntlich nicht aussuchen. Der Braunhaarige passte nicht zu diesen Typen, das war jedenfalls Kathys Meinung.
„Hallo? Ist jemand zu Hause?“
Lis helle Stimme riss Kathy aus ihrer spontanen Schwärmerei. Schuldbewusst wandte sie sich von dem Braunhaarigen ab und der Chinesin zu. Wie peinlich, sie hatte Li völlig vergessen! Vermutlich würde sie den Typen niemals wiedersehen. Er und seine Begleiter waren bestimmt Handwerker oder Arbeiter auf dem Weg zu einem Job. Jedenfalls trugen sie Jeans und T-Shirts oder Overalls. Und sie sahen aus wie Typen, die kräftig zupacken konnten.
„Entschuldige, Li. Ich war mit meinen Gedanken eben ganz woanders.“
Die Asiatin grinste breit und warf dann einen schnellen Blick über die Schulter auf die Männer. Kathy wäre vor Scham am liebsten im Boden versunken. War es so offensichtlich, dass sie auf den Typen stand? Es fiel ihr normalerweise nicht leicht, ihre Gefühle zu zeigen. Doch ihr Albtraum und die ungewohnte Umgebung hatten sie durcheinandergebracht. Zum Glück kam in diesem Augenblick die Kellnerin an ihren Tisch.
Kathy und Li bestellten Hamburger, Pommes frites und Cola. Als die Bedienung wieder gegangen war, warf Li Kathy einen aufmunternden Blick zu. „Das muss dir doch nicht peinlich sein. Dir gefällt der junge Typ mit den braunen Haaren, nicht? Das kann ich verstehen, obwohl ich mich hier in Amerika auf keinen Fall verlieben will.“
„Warum nicht?“, fragte Kathy neugierig.
„Ich werde nach meinem Gastsemester auf jeden Fall nach Shanghai zurückkehren. Die Stadt ist sehr lebendig, das Nachtleben ist der reine Wahnsinn. Das ganze restliche China beneidet uns darum. Das ist meine Welt. Ich will nur in Reno studieren, weil das psychologische Institut dort einen tollen Ruf hat. Aber ich werde mein Herz ganz sicher nicht an einen Amerikaner verlieren.“
Li machte einen sehr zielstrebigen Eindruck. Kathy fürchtete schon, die Chinesin würde nun die ganze Zeit über das Studium reden. Aber stattdessen geschah etwas Unerwartetes.
Der gefühlvolle Countrysong, der gerade im Diner-Radio lief, wurde ausgeblendet, und die ernste Stimme eines Sprechers ertönte.
„Wir unterbrechen unser Programm für eine aktuelle Durchsage. In den frühen Morgenstunden sind mehrere Insassen aus dem Nevada State Prison ausgebrochen. Dabei wurden zwei Wärter schwer verletzt. Da es den Tätern gelang, das Wachpersonal zu entwaffnen, verfügen sie nun über Schusswaffen. Noch steht nicht fest, um wie viele Personen es sich handelt. Auf jeden Fall sind die Flüchtigen äußerst gewaltbereit und gefährlich. Die Highway Patrol rät Autofahrern dringend davon ab, Anhalter mitzunehmen. Hausbesitzer werden aufgefordert, Türen und Fenster geschlossen zu halten. Sollten Sie Verdächtige beobachten, verständigen Sie bitte sofort den allgemeinen Notruf 911.“
Nach dieser Durchsage waren wieder süßliche Countryklänge zu hören. Kathy wurde erst in diesem Moment so richtig bewusst, dass sie sich nicht mehr in ihrem sicheren kleinen Heimatort Nottingham befand. In Amerika ging es eindeutig krimineller zu als in England. Es gelang ihr nicht, das Gefühl von Beunruhigung wieder abzuschütteln, das sich ihrer bemächtigt hatte, obwohl der Busfahrer auf dem Weg nach Reno garantiert keine Hitchhiker mitnehmen würde.
„Hoffentlich werden die Kerle bald geschnappt“, meinte Li. „Aber die Amerikaner scheinen mit solchen Nachrichten locker umzugehen.“
Kathy begriff, was die Chinesin meinte. Weder die Trucker noch die Bedienung wurden wegen der Warnmeldung unruhig. Und auch der braunhaarige Typ und seine Kollegen standen gelassen auf und gingen hinaus zum Parkplatz. Kathys Augenflirt-Partner warf ihr noch einen letzten interessierten Blick zu. Schade, sie hätte ihn wirklich gerne kennengelernt. Aber wahrscheinlich würde sie ihn nie wiedersehen.
Dieses Land war so unvorstellbar riesig. Allein der Staat Nevada war größer als England ohne Schottland und Wales, allerdings mit sehr viel weniger Bevölkerung. Nein, die Begegnung mit dem Braunhaarigen würde gewiss einmalig bleiben.
Kathy schob den unerfreulichen Gedanken beiseite und widmete sich ihrem Hamburger und den Fritten. Das Essen und Lis angenehme Gesellschaft beruhigten sie. Es war, als ob sie die Chinesin schon ewig kennen würde.
An einem der anderen Tische ertönte schrilles Gelächter. Dort saßen einige junge Frauen in Kathys und Lis Alter. Ob sie auch Studentinnen auf dem Weg zur State University waren?
Auf jeden Fall waren die Mädels alle topmodisch gestylt. Sie erinnerten Kathy an Cheerleader, die sie in amerikanischen Filmen gesehen hatte. Die US-Girls hatten ausnahmslos einen tief sonnengebräunten Teint und trugen Miniröcke, Shorts und ärmellose Tops. Im Vergleich zu ihnen kam sich Kathy wie eine graue Maus vor. Ob sie wohl an der Uni zur Außenseiterin werden würde?
Bevor Kathy über diese Frage weiter nachdenken konnte, drängte der Fahrer zum Aufbruch. Der Weg zum Bus war nur kurz, aber er trieb Kathy den Schweiß auf die Stirn. Die Luft über dem Highway schien zu flimmern. So heiß hatte Kathy sich das Klima in Nevada nicht vorgestellt. Allerdings war sie auch noch nie zuvor in ihrem Leben in der Wüste gewesen. In Nottingham gab es öfter mal einen Regenschauer, auch im Sommer. Aber hier sah der Boden so aus, als ob es seit Jahren keine Niederschläge gegeben hätte. Der Lehm wirkte hart und rissig wie Granit. Kathy war erleichtert, nach wenigen Minuten den klimatisierten Bus zu erreichen.
„Macht dir die Hitze gar nichts aus, Li?“
„Nein, in Shanghai kann es im Sommer auch schon mal vierzig Grad heiß werden. Allerdings ist es in meiner Heimat viel schwüler als hier, und wenn ein Taifun tobt, dann stürzen Wassermassen auf die Stadt hinab. Davon kann man in der Wüste von Nevada nur träumen.“
Nachdem alle Passagiere eingestiegen waren, ließ der Fahrer den Motor an. Kathy bemerkte, dass sich außer ihr selbst nur noch wenige andere Menschen in dem lang gestreckten Fahrzeug befanden. Das Rudel der kichernden US-Mädels hatte die Rückbank mit Beschlag belegt. Ansonsten gab es nur noch einen Soldaten, der mit seinem MP3-Player ununterbrochen Musik hörte, und ein älteres Ehepaar im Touristenlook. Und natürlich Li und sie selbst.
„Du sagtest doch, der Bus wäre vorhin so voll gewesen, Li.“
„Ja, das war er auch. Aber die meisten Leute sind schon in Amargosa Valley wieder ausgestiegen. Sie sahen aus wie Tagespendler. Es gibt wohl außer uns kaum jemanden, der die lange öde Strecke bis nach Reno durchfährt.“
Das gleichförmige Motorengeräusch wirkte einschläfernd. Kathy fragte sich, ob sie nicht besser ein paar Dollar mehr für den Inlandsflug von Las Vegas nach Reno ausgegeben hätte. Aber sie wollte schließlich das kommende halbe Jahr in Nevada verbringen. Da konnte es nichts schaden, die Landschaft aus nächster Nähe kennenzulernen.
Der Bus legte mehr als zwanzig Meilen auf dem einsamen Highway zurück, bis der Fahrer plötzlich stark abbremste. Kathy dachte sich zunächst nichts dabei. Auf dem Motorway M 1 von Nottingham nach Rotherham herrschte oftmals Stau, da musste man schon einmal in die Eisen steigen. Aber vor dem Bus waren keine wartenden Fahrzeuge zu sehen.
„Was ist los?“, wollte Li wissen. Kathy, die am Fenster saß, spähte nach vorn.
„Da ist ein Auto verunglückt, glaube ich. Der Wagen steht halb auf dem Standstreifen, jemand liegt auf dem Boden.“
Der Fahrer brachte den Bus endgültig zum Stehen. Er griff zum Mikrofon. „Ladys und Gentlemen, bewahren Sie bitte Ruhe. Ich will nur kurz nachsehen, ob jemand unsere Hilfe benötigt.“
Trotz seiner beschwichtigenden Worte hielt es niemanden auf seinem Sitz. Während der Fahrer die Vordertür öffnete und zu dem stehenden Auto lief, drängten sich Kathy, Li und alle anderen Passagiere aufgeregt an die Fenster, die zur Unfallstelle hinausgingen.
Daher wurden sie alle Augenzeugen von dem, was nun geschah und sich wie in Zeitlupe abspielte, obwohl in Wahrheit alles rasend schnell ging.
Der Mann, der auf dem Boden gelegen hatte, sprang plötzlich auf. Der Fahrer drehte sich um und wollte offensichtlich zum Bus zurücklaufen. Aber es war zu spät. Ein Schuss krachte und traf ihn in den Rücken. Einige Menschen im Bus schrien schockiert auf, unter anderem auch Kathy. Nein, der Typ würde nicht noch einmal aufstehen. Er war vor ihren Augen erschossen worden!
Bevor sie sich von diesem Schock erholen konnte, enterten vier Männer den Bus. Zwei von ihnen hielten Pistolen in den Händen. Kathy kam sich vor wie in einem billigen Western. Doch es hatte keinen Sinn, die Augen vor der Realität zu verschließen, denn sie kannte diese Typen: Es waren der Braunhaarige und seine drei Kumpane.