10. KAPITEL

Andy trat einen Schritt auf Emily zu und zog sie an sich.

„Danke, du warst sehr mutig. Ohne dich würde mein Gesicht jetzt bestenfalls aussehen wie ein verschrumpelter Bratapfel.“

Emily war stolz auf sich, weil sie sich genau im richtigen Moment überwunden und dann gehandelt hatte. Erleichtert bemerkte sie, dass ihr Freund die Schlägerei halbwegs gut überstanden hatte. Andy floss nur etwa Blut aus dem linken Nasenloch, ansonsten schien ihm nichts zu fehlen.

Und Lee? Da die Signalpistole nur mit einer einzigen Patrone bestückt gewesen war, stand er seinen beiden Gegnern nun mit leeren Händen gegenüber. Auch der Mörder schaute zum Himmel hinauf. Sein Gesichtsausdruck spiegelte blankes Entsetzen wider.

„Diese Raubtaucher – sind die echt auf der Insel?“

„Sicher, wir haben mindestens fünf Mann gesehen“, antwortete Emily aufgebracht. „Denkst du, diese Kerle sind nur unserer Fantasie entsprungen? Nein, es gibt sie wirklich. Und sie sind schwer bewaffnet. Darauf kannst du dich verlassen. Wir sind nämlich keine Lügner … und auch keine Mörder.“

Seit der Explosion der Signalpatrone war die Stimmung umgeschlagen. Lees Siegesgewissheit und Überlegenheit hatten sich in nichts aufgelöst. Seine Stimme klang nun verängstigt. Er machte nicht den Eindruck, als ob er sich mit bloßen Händen auf Emily oder Andy stürzen wollte. Emily führte sich vor Augen, dass er beim Töten von Tina Rigby ebenfalls eine Waffe benutzt hatte, nämlich eine Harpune. Mit leeren Händen wirkte er nicht Furcht einflößend, sondern eher erbärmlich.

„Was … was werden die mit uns anstellen?“

„Für die Raubtaucher sind wir nur lästige Zeugen und nichts weiter“, antwortete Emily auf Lees Frage. „Sie werden uns umbringen, aber dafür solltest du eigentlich Verständnis haben – wo du doch selbst ein Killer bist.“

Emily war maßlos enttäuscht von Lee. Sie war nur froh, dass sie sich nicht in ihn verliebt, sondern ihn nur sympathisch gefunden hatte. Doch davon konnte jetzt keine Rede mehr sein. Jedes positive Gefühl für ihn war erloschen. Lee kam ihr vor wie ein verzogenes Kleinkind. Frauen betrachtete er wie Spielzeuge, die er zerstören durfte, wenn sie nicht nach seiner Pfeife tanzten. Doch jetzt, wo es für ihn ernsthaft gefährlich wurde, benahm er sich wie eine feige Memme.

Lees Stimme zitterte, als er erneut den Mund öffnete.

„Du … hattest doch ein Messer, Emily. Können wir das nicht holen, um uns zu verteidigen?“

Entnervt verdrehte Emily die Augen.

„Das Messer, das du höchstpersönlich in die Bootskabine gekickt hast? Tolle Idee, Lee. Meinetwegen kannst du es gerne holen. Die Raubtaucher werden bestimmt eingeschüchtert sein, wenn du mit einer Stichwaffe gegen ihre Maschinenpistolen antrittst.“

Bevor Lee antworten konnte, legte Andy Emily die Hand auf den Unterarm.

„Wir sollten uns lieber aus dem Staub machen, anstatt uns mit diesem Dreckskerl rumzuärgern. Wenn die Raubtaucher noch an ihrem Lagerplatz sind, werden sie keine Viertelstunde benötigen, um hierherzukommen. Wir sollten so schnell wie möglich die Motorjacht erreichen.“

Emily nickte. Das Boot der Raubtaucher war jetzt wirklich ihre letzte Hoffnung. Wenn sie auf der Insel blieben, würde das ihren sicheren Tod bedeuten.

„Wollt ihr mich etwa zurücklassen?“, rief Lee panisch.

Emily und Andy schauten einander fragend an.

„Meinetwegen kannst du mitkommen“, stieß Andy zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor. „Aber nur, wenn du keinen weiteren Ärger machst, kapiert? Außerdem werden wir dich der Coast Guard übergeben, sobald wir Gelegenheit dazu haben.“

„Alles, was ihr wollt“, jammerte Lee. „Hauptsache, ich muss nicht hierbleiben.“

Andys Entscheidung war ganz in Emilys Sinn. Sie wollte, dass Lee vor ein Gericht gestellt wurde. Er sollte sich für seine Taten verantworten müssen. Und außerdem wollte sie nicht eine Mitschuld daran tragen, wenn Lee von den Raubtauchern erschossen würde.

Nun war jedenfalls keine Zeit mehr für weitere Diskussionen. Alle drei liefen so schnell wie möglich am Strand entlang. Emily hatte keine Vorstellung davon, wie groß die Insel war, und Andy und Lee wussten es gewiss ebenfalls nicht. Emily verlor jedes Zeitgefühl. Zum Glück war sie sportlich, deshalb fiel ihr das Laufen nicht allzu schwer. Aber wer garantierte ihnen, dass sich die Motorjacht wirklich in der Nähe befand? Womöglich mussten sie noch eine Stunde laufen, bis sie die ganze Insel umrundet und das Boot der Raubtaucher gefunden hatten.

Emily warf Andy, der neben ihr lief, einen Seitenblick zu. Solange er bei ihr war, fühlte sie sich den Herausforderungen gewachsen. Sie beide waren ein gutes Team, das gemeinsam Probleme bewältigen konnte. Das hatte sich bei diesem Abenteuer bereits mehrfach gezeigt.

„Die Landzunge!“, rief Andy plötzlich und deutete auf den Strand weit vor ihnen. Im ersten Moment dachte Emily, dass sich ihr Freund getäuscht hätte. Aber dann erblickte auch sie den schmalen dunklen Streifen, der sich von dem blauen Meerwasser abhob. Das musste der Platz sein, wo die Motorjacht vor Anker lag. Noch konnte man nichts von dem Boot sehen, aber die Zuversicht mobilisierte Emilys letzte Kraftreserven.

Mit einigen Schritten Abstand stolperte Lee hinter den beiden her.

Je mehr sie sich der Landenge näherten, desto stärker wurde aus der Hoffnung Gewissheit. Emily konnte nun auch den Mast der Segeljacht erkennen. Sie lag also wirklich dort vor Anker, und inzwischen war sie beinahe zum Greifen nahe.

Da ertönten plötzlich Schüsse.

Instinktiv sprang Emily zur Seite. Vor ihr stiegen mehrere kleine Sandfontänen hoch. An einem Palmenhain blitzte Mündungsfeuer. Und dann traten die Raubtaucher mit ihren Maschinenpistolen in den Händen aus dem Schatten der tropischen Bäume hervor. Noch war die Entfernung zu groß. Aber Emily zweifelte nicht daran, dass sie es mit Bruce, Todd, Zachary und den anderen Verbrechern zu tun hatte. Ob die Kriminellen geahnt hatten, dass Emily, Andy und Lee mit ihrer Jacht fliehen wollten? Oder war es purer Zufall, dass die Raubtaucher ausgerechnet an dieser Stelle aus dem Dschungel kamen? Emily wusste es nicht. Ihr war nur klar, dass sie diesen Kerlen nicht in die Hände fallen wollte.

„In den Urwald! Das ist unsere einzige Chance!“, rief sie. Andy nickte. Auch er hatte verstanden, dass sie am Strand keinerlei Deckung hatten und für die Raubtaucher nichts anderes als lebendige Zielscheiben waren. Die erste Salve aus den Automatikwaffen hatte keinen von ihnen getroffen. War der Abstand noch zu groß, oder wollten die Kriminellen sie lebend fangen? Für Emily spielte das keine Rolle. Solange sie noch eine Möglichkeit hatte, den Kerlen zu entkommen, wollte sie es auf jeden Fall versuchen. Lee hatte es immer noch die Sprache verschlagen. Von seiner Selbstherrlichkeit war nichts mehr übrig. Er schien keine eigene Meinung mehr zu haben und folgte Emily und Andy wie ein braves Hündchen.

Wieder sprachen die Waffen. Die Raubtaucher riefen etwas, das Emily wegen der Entfernung nicht verstehen konnte. Sie suchte Deckung zwischen den dicht an dicht wuchernden Farngewächsen und den breitblättrigen Tropenpflanzen. Hinter der Palmenreihe in Strandnähe wurde die Vegetation so stark, dass die Sonne den Regenwald kaum noch durchdrang.

„Sollen wir uns nicht lieber ergeben?“ Lees Stimme klang brüchig und rau. „Auf Dauer können wir den Kerlen auf dieser Insel sowieso nicht entkommen. Wenn wir weiter fliehen, machen wir sie nur noch wütender.“

„Du kannst tun, was du willst“, gab Andy barsch zurück. „Es hat dich niemand gebeten, mit uns zu kommen. Aber glaubst du, die Raubtaucher werden dich verschonen, nur weil du auch ein Verbrecher bist?“

Lee senkte den Blick. Darauf fiel ihm keine passende Antwort ein. Emily hatte den Wortwechsel natürlich auch mitbekommen. Obwohl aus Lee die pure Feigheit sprach, hatte er doch mit einer Sache recht: Auf einer Insel war es unmöglich, auf Dauer zu entkommen. Die Verfolger mussten im Grunde nur warten, bis Emily, Andy und Lee zu erschöpft und zu hungrig waren. Dann konnten sie ihnen in aller Ruhe den Rest geben. Die einzige Fluchtmöglichkeit war nach wie vor die Motorjacht, und die würden die Raubtaucher jetzt wohl kaum unbewacht lassen.

Plötzlich entstand ein verzweifelter Plan in Emilys Kopf. Wegen des dichten Pflanzenbewuchs konnten sie alle drei nicht mehr so schnell rennen. Daher hatte Emily genug Luft, um den beiden ihr Vorhaben zu erläutern.

„Ich weiß jetzt, wie wir doch noch entkommen können.“

Lee verkniff sich eine Bemerkung, sah allerdings nicht besonders begeistert aus. Doch Andy schaute Emily fragend an.

„Wir schlagen einen weiten Bogen, kehren zum Strand zurück und schnappen uns die Motorjacht.“

„Aber es werden doch bestimmt Wächter an Bord sein, Emily. Wenigstens einer, würde ich annehmen.“

„Das denke ich auch, Andy. Und die Wachen werden gewiss den Strand beobachten, nicht wahr? Aber diese Kerle können nicht ahnen, dass wir ebenfalls Taucher sind. Wir benutzen die Landzunge als Deckung, gehen dahinter ins Wasser und nähern uns dem Boot tauchend. Dann überrumpeln wir die Wächter. Wir sind immerhin zu dritt, und wir haben das Überraschungsmoment auf unserer Seite. Wir müssen sie einfach nur ins Wasser werfen, dann nützen ihnen ihre Waffen auch nichts mehr.“

„Dann müssen wir aber eine ziemlich lange Strecke ohne Geräte tauchen.“

„Ich weiß, Andy. Aber das ist die einzige Möglichkeit, die wir haben. Wenn wir auf der Insel bleiben, ist es nur eine Frage der Zeit, bis wir abgeknallt werden.“

„Dein Vorhaben ist riskant, aber damit hätten wir wenigstens den Hauch einer Chance. Wir sollten es auf jeden Fall versuchen, denn wir haben nichts mehr zu verlieren.“

Andy lächelte Emily aufmunternd zu und streichelte ihr die Wange. Diese kurze Geste der Zärtlichkeit tat ihr in diesem Moment richtig gut. Neue Energie durchströmte ihren Körper.

Inzwischen waren auch die Stimmen der Raubtaucher hinter ihnen zu hören. Außerdem veranstalteten die Vögel und Kleinaffen ein großes Spektakel, weil sie durch so viele Eindringlinge in ihrer Ruhe gestört wurden. Zum Glück hatte Emily einen sehr guten Orientierungssinn, ohne den sie wohl nicht den Rückweg zur Landzunge gefunden hätte. Der grüne Blätterwald bot zwar Deckung, aber es sah alles irgendwie gleich aus. Emily hatte die Führung übernommen, ohne dass einer der anderen dagegen protestierte. Mit Andy verstand sie sich sowieso – auch ohne Worte. Und Lee war inzwischen völlig passiv und in sich gekehrt. Emily wollte lieber nicht darüber nachdenken, was er ausbrütete. Dafür war jetzt auch keine Zeit.

Emily konnte unmöglich einschätzen, ob die Verfolger inzwischen den Abstand zu ihnen verringert hatten oder nicht. Immer wieder warf sie nervöse Blicke über die Schulter nach hinten. Auch die Geräusche erwiesen sich als trügerisch. Jedenfalls bewegten sich die drei so schnell durch den Dschungel, wie es ihnen möglich war.

Zwischen den Pflanzenblättern vor Emily schimmerte es hell. Hatten sie den Strandabschnitt bei der Landzunge bereits erreicht? Emily hoffte nur, dass sie genügend Vorsprung vor ihren Verfolgern hatten. Wenn die Raubtaucher die Absicht der Flüchtenden vorzeitig durchschauten, war alles verloren.

Aber diesmal hatten Emily und ihre Begleiter Glück. Es war ihnen wirklich gelungen, einen weiten Umweg durch den Urwald zu machen und die Landzunge wieder zu erreichen. Vielleicht hatten sie es sogar geschafft, die Kriminellen etwas in die Irre zu führen. Momentan brauchten sie nichts dringender als ein wenig Vorsprung vor ihren Verfolgern.

Nun konnte Emily auch endlich die Motorjacht der Raubtaucher sehen. Trotz der Entfernung erkannte sie das Wasserfahrzeug wieder, von dem aus die Verbrecher auf die Fortuna geschossen hatten. Die Erinnerung an diese albtraumhaften Momente ließ Emily erschaudern. Aber dann konzentrierte sie sich wieder ganz auf die Gegenwart.

So schnell sie konnten, überquerten Emily, Andy und Lee den schmalen Strand und suchten Deckung hinter der vorspringenden Landspitze. Sie konnten nur hoffen, dass sie dabei nicht von einer Wache beobachtet wurden. Aber momentan sah es nicht so aus, als ob es überhaupt einen Wächter auf der Motorjacht geben würde. War es wirklich vorstellbar, dass die Verbrecher so leichtsinnig waren?

Andererseits befanden sie sich auf einer unbewohnten Insel. Warum hätte man das Boot hier bewachen sollen? Die Raubtaucher mussten angenommen haben, allein auf dem Eiland zu sein, bevor sie diese verflixte Signalpatrone gesehen hatten.

Während Emily diese Gedankenfetzen durch den Kopf schwirrten, riss sie sich die Kleider vom Leib. Jetzt war nicht die Zeit für falsches Schamgefühl. Es war schon hart genug, ohne Gerät tauchen zu müssen. Da konnte sie nicht auch noch Kleidung gebrauchen, die sich mit Wasser vollsaugen und sie in ihren Bewegungen behindern würde. Emily zog die Arbeitshose und das T-Shirt aus, behielt nur noch Slip und BH an.

Andy und Lee bekamen große Augen. Bisher hatte Emily vor keinem von ihnen so viel nackte Haut gezeigt. Beim Tauchen von der Fortuna aus hatte sie stets einen Neoprenanzug getragen. Aber dann folgten die beiden Emilys Beispiel und ließen ebenfalls die Hüllen fallen. Gleich darauf trug jeder von ihnen nur noch seine Unterhose.

„Dann tauchen wir jetzt also bis zur Motorjacht und entern sie von der Wasserseite aus?“, vergewisserte sich Andy. Emily nickte.

„So hatte ich mir das vorgestellt. Und denkt daran: Unsere einzige Waffe ist der Überraschungseffekt.“

Lee nickte nur mürrisch. Es war Emily gar nicht wohl dabei, gemeinsame Sache mit dem Mörder zu machen. Sie konnten und durften ihm nicht vertrauen. Andererseits hatte er keine Schwierigkeiten mehr gemacht, seit er ohne diese Signalpistole dagestanden hatte. Wenn sie und Andy Lee nicht hätten dabeihaben wollen, hätten sie sich das früher überlegen müssen. Nun war es zu spät für tiefschürfende Überlegungen. Jede Minute, die ungenützt verstrich, konnte den Raubtauchern einen Vorteil bringen.

An der Spitze der Landzunge glitten Emily, Andy und Lee ins Meer. Emily versuchte, die Entfernung bis zu der Motorjacht abzuschätzen. Das war unter der Oberfläche gar nicht so einfach. Die Brechung des Sonnenlichts durch das Wasser verzerrte die Wahrnehmung. Immerhin konnte Emily den Schiffsrumpf als einen großen dunklen Schatten vor sich erkennen. Aber das Boot erschien ihr unendlich weit entfernt zu sein.

Natürlich hatte sie ihre Lungen noch einmal reichlich mit Luft gefüllt, bevor sie sich zu dem Tauchgang aufgemacht hatte. Emily bewegte sich in einer nur geringen Tiefe, weil sie nicht zu viel Zeit mit dem Auftauchen vergeuden wollte. Andy und Lee schwammen links und rechts von ihr.

Obwohl sie als geübte Taucherin eine kräftige Lunge hatte, litt Emily schon bald unter der Sauerstoffknappheit. Es kam ihr so vor, als ob sie schon eine halbe Ewigkeit unter Wasser wäre. So schnell wie möglich glitt sie durch das Wasser, doch jede Bewegung wurde zur Qual. Da war es auch kein Trost, dass es ihren beiden Begleitern kaum besser gehen würde.

Als Emily schon glaubte, dass ihre Lunge gleich platzen würde, hatte sie plötzlich die Ankerkette der Motorjacht vor sich. Sie packte die Eisenglieder der Kette mit beiden Händen, zog sich daran hoch und kam mit dem Gesicht vorsichtig an die Wasseroberfläche. Die Sonne schien ihr in die Augen, und endlich konnte Emily wieder frische Luft atmen.

Inzwischen waren auch Andy und Lee aufgetaucht. Sie hielten sich an der Bordwand fest. Andy wandte sich in Zeichensprache an Emily und Lee. Er wollte, dass Emily am Bug, Lee am Heck und er selbst mittschiffs an Bord kletterten. Emily fand den Plan gut. So konnten sie den Wachposten in die Zange nehmen, bevor er auf sie schoss.

Emily zog sich an der Ankerkette hoch. Dabei versuchte sie, so wenige Geräusche wie möglich zu verursachen. Ihr Herz klopfte bis zum Hals. Angestrengt lauschte sie. Doch sie hörte nur das leise Plätschern des Bootsrumpfs, der sich sanft in den Wellen bewegte. Wie eine Schlange glitt Emily an Deck, schaute sich überall um. Das Boot der Raubtaucher war etwas kleiner als die Fortuna, sah ansonsten aber ähnlich aus. Emily zuckte zusammen, als sie eine Bewegung bemerkte. Doch dann erkannte sie zu ihrer größten Erleichterung Andy, der nun ebenfalls aus dem Wasser gestiegen war.

Auf dem Deck war kein Wachposten zu sehen. Ob er sich in der Kabine befand? Aber von dort aus bekam er doch überhaupt nicht mit, ob sich jemand dem Boot näherte. Oder hatten die Raubtaucher wirklich ihre Motorjacht ohne Wache zurückgelassen? Bevor Emily eine dieser Fragen klären konnte, ertönte plötzlich Lees Stimme.

„Ich hab was gefunden!“

Sie biss sich auf die Lippe, war sauer auf Lee. Wie konnte er nur so unvorsichtig sein und so laut sprechen? Es war doch immerhin wirklich denkbar, dass sich einer der Verbrecher in der Kabine befand. Lee kam langsam vom Heck aus auf Emily und Andy zu. Auf seinem Gesicht war ein böses Lächeln zu sehen. Und den Grund dafür bemerkten sie ebenfalls sofort.

Lee hielt eine Pistole in der Hand!

„Mit Knarren sind diese Raubtaucher wirklich gut ausgestattet.“ Lee kostete seinen Vorteil aus. „Und ihr solltet diesmal keine miesen Tricks versuchen, denn diese Beretta hier hat mehr als einen Schuss. Das Magazin ist voll, ich hab mich vergewissert.“

„Wie schön für dich, dass du von Waffen Ahnung hast“, schleuderte Emily ihm wütend entgegen. „Von Frauen verstehst du jedenfalls nichts. Oder glaubst du wirklich, dass du mich mit einem Schießeisen beeindrucken kannst?“

„Das wird sich zeigen. Andy, du wirfst jetzt den Motor an. Wir sollten so bald wie möglich von hier verschwinden.“

„Ich nehme keine Befehle von einem Mörder entgegen“, blaffte Andy ihn an. „Und was willst du tun, wenn ich mich weigere?“

„Darauf würde ich es an deiner Stelle nicht ankommen lassen, Andy.“

„Wenn du mich abknallst, dann kannst du die Schiffsmaschinen selbst bedienen und auch die Navigation übernehmen. Viel Vergnügen damit. Hast du übrigens auch nur eine ungefähre Ahnung, in welcher Richtung das amerikanische Festland liegt?“

Lees Augen funkelten zornig. Emily hoffte nur, dass Andy mit seinen Sticheleien den Bogen nicht überspannt hatte. Doch bevor der Streit eskalieren konnte, bekamen sie neue Probleme.

Am Ufer ertönten wütende Rufe. Die Raubtaucher hatten nun ebenfalls den Strand erreicht. Sie schossen in Richtung der Motorjacht und schickten sich an, ihr Schlauchboot in die Brandung zu schieben.

Sobald die Schüsse ertönten, war von Lees Überlegenheitsgetue nicht mehr viel zu spüren. Seine Stimme zitterte vor Nervosität.

„Verflucht, Andy! Stell endlich die Motoren an, sonst werden wir gleich alle abgeknallt.“

„Da hast du ausnahmsweise recht.“

Andy wandte sich dem Steuerrad, dem Kreiselkompass und der Maschine zu. Emily wollte zum Bug laufen, um den Anker zu lichten. Die ersten Geschosse der Raubtaucher drangen bereits in das Wasser kurz vor der Motorjacht ein. Aber nun geschah etwas, womit weder Emily und ihre Gefährten noch die Verbrecher gerechnet hatten.

Ein Hubschrauber zog im Tiefflug knapp über die Wipfel der Palmen hinweg. Seine Kennzeichen wiesen ihn als einen Helikopter der US Navy aus. Er flog eine Schleife und hielt dann direkt auf die Bewaffneten am Strand zu.

Plötzlich erklang eine Schnellfeuerkanone.

Emily hielt sich die Ohren zu, als die Warnschüsse aus der Hubschrauber-Bordwaffe über die Köpfe der Verbrecher hinweg in die Stämme der Palmen einschlugen. Gleich darauf ertönte eine Lautsprecherstimme.

„Hier spricht die United States Navy. Werfen Sie sofort Ihre Waffen weg. Auf die Knie. Hände hinter den Kopf!“

Erleichtert sah Emily, dass die Raubtaucher keinen Widerstand leisteten, sondern dem Befehl nachkamen. Da hörte sie ein klatschendes Geräusch. Andy hatte die Ablenkung durch den Hubschraubereinsatz genutzt, um Lee einen Kinnhaken zu verpassen und ihm die Pistole zu entreißen.

Im hohen Bogen hatte Andy die Beretta ins Wasser geworfen.

„Waffen weg, hat der Helikopterpilot gesagt, richtig? Dann wollen wir uns auch daran halten. Nicht wahr, Lee?“

Der Mörder warf Andy einen teils hasserfüllten und teils verängstigten Blick zu. Aber er unternahm keinen neuen Versuch, Emily und Andy zu bedrohen. Andy legte den Arm um Emilys Schultern. Sie beobachteten, wie kurze Zeit später ein Navy-Schnellboot hinter der Landzunge erschien. Während der Hubschrauber in der Luft stand und die Verbrecher in Schach hielt, landete ein Schlauchboot mit Marines. Im Handumdrehen hatten die Soldaten die Kriminellen durchsucht und gefesselt.

Der Albtraum war endgültig vorbei.

Wenig später kamen die schwer bewaffneten Uniformierten auch an Bord der Raubtaucher-Motorjacht. Sie schauten Emily, Andy und Lee misstrauisch an und durchsuchten sie nach Waffen. Außerdem fanden die Marines noch weitere Pistolen sowie Sprengstoff in der Kajüte.

„Wir haben mit diesen Verbrechern nichts zu tun“, beteuerte Emily. Sie erzählte, was sich seit dem Untergang der Fortuna abgespielt hatte. Dabei erwähnte sie auch Lees Mordgeständnis. Der Lieutenant, der ihr zuhörte, schüttelte ungläubig den Kopf.

„Das ist wirklich eine fantastische Geschichte, die du mir da auftischst – eine Mischung aus Robinson Crusoe, Lost und Titanic. Aber wir werden schon bald feststellen, ob du die Wahrheit gesagt hast. Wir haben nämlich Überlebende der Fortuna nach dem Hurrikan aus dem Wasser gezogen. Eigentlich hatten wir schon Kurs auf Fort Lauderdale genommen, als unser Kapitän das rote Leuchtsignal über dieser Insel bemerkte. Als wir dann die Schüsse gehört haben, haben wir unseren Helikopter aufsteigen lassen und sind in Alarmbereitschaft gegangen.“

Nachdem der Offizier von Überlebenden gesprochen hatte, hörte Emily dem Rest seiner Worte nur noch mit halbem Ohr zu. Ob auch ihr Vater von dem Navy-Schnellboot gerettet worden war?

„Können Sie mir die Namen der Schiffbrüchigen sagen, Sir?“

Der Marines-Lieutenant zuckte mit den Schultern.

„Ich hatte kaum etwas mit ihnen zu tun. Unser Schiffsarzt hat sich sofort um sie gekümmert, weil sie stark unterkühlt waren. Aber inzwischen geht es ihnen schon besser, wie ich höre. Du wirst sie schon bald treffen.“

Der letzte Satz klang wie eine Drohung. Er glaubte Emily offenbar nicht, und das konnte sie sogar verstehen. Momentan fiel es ihr schwer, einen klaren Gedanken zu fassen. Sie fieberte nur noch der Begegnung mit den Überlebenden entgegen, und gleichzeitig fürchtete sie sich davor. Die Ungewissheit nagte an Emily.

Die Marines brachten Emily, Andy und Lee auf das Navy-Schiff hinüber, wobei sie besonders Lee wachsam im Auge behielten. Schließlich hatte Emily ihn eines Mordes beschuldigt. Lee sagte kein Wort zu den Soldaten und starrte nur mürrisch vor sich hin. Allerdings hatte er auch nicht versucht, seine Tat zu leugnen.

Emilys Herz schlug höher, als sie den alten Sam grinsend an der Reling des Kriegsschiffes stehen sah. Bei ihm hatte sie sich am wenigsten Hoffnungen gemacht, ihn noch einmal lebend zu sehen. Schließlich hatte Emily mit ansehen müssen, wie er über Bord gegangen war.

Spontan umarmte sie ihn.

„Ich fass es nicht – geht es dir gut, Sam?“

„Habe mich noch nie besser gefühlt, Unkraut vergeht nicht“, meinte der Alte grinsend. „Aber nun geh mal rein, da wartet noch jemand auf dich.“

Der Lieutenant geleitete Emily zur Krankenstation. Kapitän Kendall hockte auf einer Behandlungsliege. Ein Doc hatte offenbar gerade seinen Blutdruck gemessen. Der Kapitän sprang auf, als er seine Tochter erblickte.

„Emily!“

„Dad!“

Gleich darauf lagen sie einander lachend und weinend in den Armen. Es dauerte eine Weile, bis sie wieder sprechen konnten. Der Kapitän sah erschöpft aus, schien aber nicht ernsthaft verletzt zu sein. Jedenfalls konnte Emily an ihm keine Verbände oder Pflaster entdecken.

„Ich war am Ende meiner Kräfte, als die Navy mich gefunden hat“, gestand Kendall. „Aber am schlimmsten war für mich die Vorstellung, dass du nicht mehr am Leben bist, Emily. Das Schnellboot konnte nämlich alle Leute von der Fortuna aufnehmen, außer dir, Andy und Lee.“

„Dann hat es wirklich keine Verluste gegeben, denn außer mir wurden auch Andy und Lee gerettet.“

Emily wollte ihrem Vater noch so viel erzählen – wie sehr sie sich in Andy verliebt hatte, dass Lee ein Mörder war und wie sie es geschafft hatten, den Raubtauchern zu entkommen. Aber da wurde ihr klar, dass sie ab sofort alle Zeit der Welt haben würde. Für Emily begann in diesem Moment ein neuer Lebensabschnitt. Zwischen ihr und Andy lief alles bestens, und nun hatte sie plötzlich auch noch einen Dad. Solch positive Veränderungen hätte sie sich niemals träumen lassen, als sie in Orlando zu ihrem Tauchurlaub aufgebrochen war.

Emily standen spannende und aufregende Zeiten bevor.