PROLOG

Tina Rigby glitt hinab in eine geheimnisvolle Welt.

Die Zwanzigjährige hatte bereits mehrere Monate Erfahrung im Gerätetauchen. Und doch missachtete sie an diesem Tag die wichtigste Grundregel ihres Sports: Tauche niemals allein!

Allerdings hatte Tina einen triftigen Grund, dass sie ohne Begleitung immer tiefer in das smaragdgrüne Meerwasser unweit vom East Cape an der Küste Floridas hinabtauchte. Sie wurde von ihrer Gier nach Gold angetrieben, hatte sie das wertvolle Edelmetall doch schon immer geliebt. Denn obwohl ihre Eltern nicht gerade arm waren, harmonierten Tinas zahlreiche Wünsche einfach nicht mit ihrem Kreditkartenlimit. Ihre Shopping-Trips rissen regelmäßig große Löcher in ihr Budget. Außerdem stand sie auf diese roten Sportwagen, die in Italien gebaut wurden, flach wie eine Flunder waren und ein kleines Vermögen kosteten. Und nennenswerte Reichtümer besaß Tina nicht – noch nicht.

Die junge Frau war in Florida aufgewachsen. Sie wusste, dass sie nicht als Einzige vor der Küste des Sunshine State nach untergegangenen Schiffswracks mit Goldfracht tauchte. Aber Tina hatte eine Information, die ihren Konkurrenten nicht zur Verfügung stand. Jedenfalls hoffte sie das. Die Geschichtsstudentin war nämlich in einer Chronik aus dem 17. Jahrhundert auf einen versteckten Hinweis gestoßen. Dieses Wissen würde sie hoffentlich zu einer steinreichen Luxuslady machen.

Tina bewegte jetzt nur noch ihre langen schlanken Beine, deren Füße in Schwimmflossen steckten. In den Händen hielt sie eine leistungsstarke druckdichte Taucherlampe. Die benötigte sie auch, denn je tiefer sie kam, desto finsterer wurde ihre Umgebung. Als unmittelbar vor ihrer Taucherbrille plötzlich ein schillernder Clownfisch erschien, erschrak sie. Aber das Tier war von der Begegnung genauso schockiert wie sie selbst. Der Fisch machte ein paar hektische Bewegungen mit seiner Schwanzflosse und jagte zurück in die Dunkelheit an dem zerklüfteten Riff.

Vor Haien fürchtete sich Tina eigentlich nicht. Die meisten Geschichten über menschenfressende Raubfische waren nichts weiter als Schauermärchen, das wusste sie. Trotzdem breitete sich ein mulmiges Gefühl in ihrer Magengegend aus. Tina fühlte sich bedroht, ohne eine greifbare Gefahr vor sich zu haben. Sie konzentrierte sich auf ihr Vorhaben und fühlte sich sofort etwas besser. Immerhin war es das erste Mal in ihrem Leben, dass sie ganz allein tauchte, und die Gewässer am East Cape waren ihr nicht wirklich vertraut. Da konnte man schon mal Panik schieben, wie Tina fand.

Plötzlich erblickte sie das versunkene Schiff vor sich.

Zunächst fiel der Strahl von Tinas Lampe nur auf eine Erhebung, die wie ein unterseeischer Hügel aussah. Doch die geübte Taucherin wusste, dass jahrhundertealte Wracks oftmals von Korallen überwuchert waren und kaum noch ihre ursprüngliche Form besaßen. Tinas Herz klopfte schneller. Während sie dichter an die Überreste des Seglers heranschwamm, wurde ihre Hoffnung allmählich zur Gewissheit.

Hier lag tatsächlich eine Galeone aus dem 17. Jahrhundert auf dem Meeresboden. Obwohl der Zahn der Zeit an den Planken und Masten genagt hatte, war die typische Form des altmodischen Schiffstyps noch gut auszumachen, jedenfalls für Tina. Sie hatte sich während ihres Studiums lange genug mit der damaligen Zeit beschäftigt.

Voller Ehrfurcht erschauerte Tina, als ihre behandschuhte Rechte zum ersten Mal die korallenüberwucherte Reling berührte. Sie hoffte, dass der Schatz noch im Inneren des gesunkenen Schiffs verborgen war. Vorausgesetzt, sie hatte überhaupt das richtige Wrack vor sich. Die Florida Bay war schon damals ein viel befahrenes Seegebiet gewesen, und in Kriegen und Konflikten waren unzählige Schiffe auf den Meeresgrund gesunken.

Doch Tina setzte ihre ganze Hoffnung auf die Chronik, deren Geheimbotschaft sie entschlüsselt zu haben glaubte. Es war schon gefährlich genug, allein einen Tauchgang zu unternehmen. Aber zusätzlich ohne Begleitung in ein Wrack einzudringen wäre für jeden normalen Schnorchler beinahe selbstmörderisch gewesen. Tina tat es trotzdem. Das heißt, sie wollte es tun.

Aber plötzlich nahm sie einen großen dunklen Schatten wahr, der seitlich an ihr vorbeiglitt. Erschrocken zuckte Tina zusammen und drehte ihre Lampe in die entsprechende Richtung. Hatte sie einen gefährlichen Fisch aufgeschreckt? Einen Rochen? Eine Muräne? Oder vielleicht doch einen Blauhai? Panik erfasste sie. Es war, als ob eine eiskalte Klaue nach ihrem Herzen greifen würde. Wie hatte sie nur so leichtsinnig sein können? Es gab praktisch keinen Raubfisch, der einen Taucher nicht einholen konnte.

Tinas Hände begannen so stark zu zittern, dass sie beinahe ihre Lampe verloren hätte. Nur mit Mühe gelang es ihr, die Nerven zu behalten. Ihre Linke tastete nach ihrem Tauchermesser, das sie mit sich führte. Es sollte ihr eigentlich nicht als Waffe, sondern als Werkzeug dienen. Zur Selbstverteidigung war es ziemlich ungeeignet. Allein schon deshalb, weil sich Tina vor einem Kampf fürchtete.

Im nächsten Moment bemerkte sie allerdings, dass sie gar kein Tier vor sich hatte. Im Licht ihrer druckfesten Lampe sah Tina einen Neoprenanzug, der ihrem eigenen ähnelte, außerdem Schwimmflossen, Schnorchel und ein Sauerstoffgerät. Aber wieso hatte der andere Taucher keine Lampe bei sich? Was hatte er zu verbergen? War er aus demselben Grund hier, der Tina zu dem Schiffswrack geführt hatte?

Diese Fragen drängten sich ihr auf, aber eine Antwort darauf erhielt sie nicht mehr. Tina erblickte nun die Harpune in den Händen des unbekannten Tauchers. Instinktiv wandte sie sich ab und floh. Von diesem Fremden hatte sie nichts Gutes zu erwarten. Woher wusste der andere Taucher, dass sie hier sein würde? Oder war die Begegnung nur purer Zufall? Das konnte Tina nicht glauben, denn sie befand sich weitab der bekannten karibischen Tauchgebiete. Plötzlich kam ihr ein furchtbarer Verdacht, wer der Mann mit der Harpune sein könnte.

Tina verschwand hinter einer scharfzackigen Felsnase, die beinah so groß war wie ein Kleinwagen. Sie hatte gehofft, ihren Verfolger abschütteln zu können. Aber ihr Widersacher war zu reaktionsschnell. Schon war er auf Schussdistanz herangekommen. Tina hob instinktiv die Hände zur Abwehr, aber das war sinnlos.

Sie spürte einen heftigen Schmerz, als der Harpunenpfeil ihre Brust durchbohrte. Danach wurde es schwarz um sie herum, und zwar für immer. Das Blut sickerte aus ihrem Körper und vermischte sich mit dem grünblauen Wasser der karibischen See.