6. KAPITEL

Das Salzwasser brannte wie Feuer in Emilys Augen.

Sie riss den Mund auf, wollte instinktiv um Hilfe rufen. Doch ihr klatschte sofort ein Schwall Wasser ins Gesicht. Emily hustete und rang nach Luft. Durch die Rettungsweste wurde ihr Kopf zwar über Wasser gehalten, aber wenn eine der Riesenwellen sie erwischte, musste sie trotzdem den Atem anhalten. Zu groß war die Gefahr, dass Wasser in ihre Lungen gelangte.

Emily wusste nicht, wie lange sie bewusstlos gewesen war. Mehr als ein paar Minuten konnten es nicht gewesen sein, sonst hätte sie diesen Zustand gewiss nicht überlebt. Nicht inmitten dieses schrecklichen Hurrikans. Emily befand sich im Zentrum einer tosenden, düsteren Hölle aus Sturm und Wasser. Für einen Moment glaubte sie, den Rumpf der Fortuna zu sehen – oder das, was von der Motorjacht noch übrig war. Das weiße Heck ragte steil nach oben, mehr als zwei Drittel des Schiffs waren bereits gesunken. Natürlich war es nicht gelungen, die Rettungsboote zu Wasser zu lassen. Als die Fortuna havariert war, hatte jeder an Bord nur an sein eigenes Leben gedacht. Aber … wo waren die anderen überhaupt?

Emilys Herz setzte einen Schlag aus, als sie sich an das Entsetzen auf Sams Gesicht erinnerte. Ob der alte Matrose noch lebte? Sie wünschte es ihm sehr. Aber was war aus den übrigen Leuten an Bord geworden? War Emily in den wenigen Minuten ihrer Ohnmacht so weit von ihnen abgetrieben? Oder war sie länger weggetreten gewesen, als sie angenommen hatte? Sie hatte jedes Gefühl für Zeit und Raum verloren. Sie befand sich in der karibischen See, und um sie herum tobte ein Wirbelsturm. Das war momentan alles, was sie wusste.

Ihre Sorge galt vor allem Andy. Ob es ihm gut ging? Sie vermisste ihn entsetzlich. Gewiss hätte Emily ihre miserable Lage besser ertragen, wenn er bei ihr gewesen wäre. Die Vorstellung, dass er tot sein könnte, war einfach zu viel für sie. Sie weigerte sich einfach, daran zu glauben. Andy hatte schließlich eine Rettungsweste angelegt, genau wie sie selbst. So einfach konnte man nicht ertrinken, wenn man dieses Kunststoffteil trug. Sie selbst lebte ja auch noch, obwohl sie sogar zwischenzeitlich das Bewusstsein verloren hatte. Vielleicht ging es Andy ja genauso. Wenn er nun irgendwo ohnmächtig herumtrieb und dringend Hilfe brauchte?

Emily versuchte, sich auf ihren eigenen Überlebenskampf zu konzentrieren. Wenn sie starb, konnte sie niemandem mehr helfen. Sie besann sich auf ihre Stärke. Hatte sie nicht auch den monatelangen Psychoterror durch ihren Ex überlebt? Ich kann auch diesen Sturm überstehen, sagte sie sich. Irgendwann musste auch der schlimmste Hurrikan einmal vorbei sein.

Die Rettungsweste sorgte dafür, dass Emily den Kopf über Wasser halten konnte. Ansonsten war es ziemlich sinnlos, sich schwimmend in eine bestimmte Richtung bewegen zu wollen. Schließlich wusste sie nicht, wohin sie sich wenden sollte. Möglicherweise schwamm sie sogar von den anderen Überlebenden weg, ohne es zu wollen. Und wenn sie nun als Einzige den Untergang der Motorjacht überstanden hatte?

Emily zerbrach sich darüber nicht den Kopf. Solange sie keine Beweise für den Tod ihrer Gefährten hatte, wollte sie nicht vom Schlimmsten ausgehen. Auf jeden Fall musste sie vermeiden, genauso hysterisch zu werden wie Melanie. Trotz ihrer Verzweiflung und ihrer Angst schaffte es Emily irgendwie, einen halbwegs klaren Kopf zu bewahren.

Deshalb bemerkte sie auch, dass der Hurrikan allmählich nachließ. Das heißt, eigentlich raste und wütete er mit unverminderter Wucht weiter. Aber er bewegte sich von ihr fort. In der Schule hatte Emily gelernt, dass die tropischen Wirbelstürme der Karibik mit einer unglaublichen Geschwindigkeit über Wasser und Land hinwegzogen und eine Schneise der Verwüstung hinterließen. Die Wellenberge und Wellentäler, zwischen denen Emily wie eine Nussschale hin und her geschleudert wurde, flachten ganz allmählich ab. Zuerst glaubte sie noch, dass sie sich die Verbesserung nur einbilden würde. Aber ganz allmählich wurde die Hoffnung zur Gewissheit. Sogar der düstere Himmel hellte sich etwas auf. Am Horizont durchbrachen bereits Sonnenstrahlen die finsteren Wolkenbänke. Bisher hatte Emily kaum die Hand vor Augen sehen können. Aber nun schaute sie sich genauer um.

Und plötzlich entdeckte sie einen schwarzen Punkt weit vor ihr.

Vor Aufregung begann ihr Herz schneller zu schlagen. War das ein anderer Schiffbrüchiger – oder nur ein Wrackteil? Am liebsten hätte sie gerufen, aber sie biss sich auf die Unterlippe. Ihre Kehle schmerzte von dem vielen Salzwasser, das sie geschluckt hatte. Außerdem wollte Emily sich keine unnötigen Hoffnungen machen. Falls dort nur eine Planke oder ein Stück Plastik trieb, würde ihre Enttäuschung grenzenlos sein. Daran hatte sie keinen Zweifel. Trotzdem versuchte sie natürlich, näher an das Objekt heranzukommen. Inzwischen hatte sich der Seegang so weit beruhigt, dass sogar Schwimmen wieder möglich war. Allerdings wurde Emily dabei von ihrer Rettungsweste gebremst, die sperrig und nicht gerade stromlinienförmig war.

Doch je näher sie herankam, desto stärker wurde die Hoffnung zur Gewissheit.

Vor ihr trieb ein Mensch.

Ob er noch lebte? Auf jeden Fall schien es ein Schiffbrüchiger der Fortuna zu sein, denn er hatte dieselbe grell orangefarbene Rettungsweste an wie Emily. Nun bemerkte er sie ebenfalls und winkte.

Es war Kapitän Kendall!

Er schwamm auf sie zu, und sie kam ihm ebenfalls entgegen. Emily war überglücklich, nicht mehr allein zu sein. Noch lieber wäre es ihr natürlich gewesen, wenn sie Andy getroffen hätte. Aber vielleicht wusste der Kapitän ja, was aus ihm und den anderen Passagieren geworden war.

„Emily! Gott sei Dank, du lebst!“

Als die beiden im Wasser Schwimmenden einander erreicht hatten, zog Kendall Emily zitternd an sich. Sie hatte nichts dagegen, denn sie konnte in diesem Moment etwas menschliche Wärme dringend gebrauchen. Kendall ließ sie überhaupt nicht mehr los.

„Du kannst dir nicht vorstellen, wie erleichtert ich bin. Ich hatte dich gerade erst kennengelernt, und dann sah es so aus, als ob ich dich wieder verloren hätte – und zwar für immer. Aber das ist zum Glück nicht geschehen, Emily.“

Sie runzelte die Stirn. Natürlich war sie auch sehr erfreut, den Kapitän hier in dieser unendlich erscheinenden Wasserwüste getroffen zu haben. Aber einen solchen Gefühlsausbruch von ihm hatte Emily eigentlich nicht erwartet. Ob er doch in sie verliebt war? Offenbar stand ihr die Skepsis im Gesicht geschrieben. Kendall lächelte ihr zu und strich ihr eine nasse Haarsträhne aus der Stirn.

„Du musst mich für verrückt halten, Emily. Also hat dir deine Mom wirklich nichts gesagt, oder?“

„Meine Mom? Ich weiß nicht, wovon Sie reden, Kapitän.“

„Lass doch den Kapitän weg, Emily. Ich bin … Deine Mom und ich, also, ich bin dein Vater.“

Zuerst begriff Emily das Stammeln des Kapitäns gar nicht richtig. Doch dann dämmerte ihr allmählich die Bedeutung seiner Worte. Gab es nicht sogar eine gewisse Familienähnlichkeit zwischen ihnen? Wohl kaum, denn Emily war eigentlich ihrer Mutter wie aus dem Gesicht geschnitten.

Ihre Mutter – nun begriff Emily erst, warum sie ihr ausgerechnet einen Kurs in Kendalls Tauchschule geschenkt hatte. Das war natürlich kein Zufall. Auf Kendalls Gesicht machten sich Zweifel breit. So, als bereute er bereits, sich seiner Tochter offenbart zu haben.

„Du siehst nicht gerade begeistert aus, Emily. Sag doch etwas, bitte.“

„Was erwartest du von mir?“ Emilys Stimme klang rau, und das lag nicht nur an dem Salzwasser in ihrer Kehle. „Du hast mich zwanzig Jahre lang nicht gesehen, und nun bist du plötzlich da. Oder wolltest du mich gar nicht treffen? Hat Mom dir die Begegnung mit deiner Tochter aufgezwungen?“

„Nein, so war es nicht. Das musst du mir glauben. Ich wollte dich schon vor ein paar Jahren kennenlernen. Aber da bist du ausgerastet, wie mir deine Mutter erzählt hat.“

Emily schwieg verlegen. Voller Scham erinnerte sie sich an diesen Abend. Sie war damals vierzehn Jahre alt, mitten in der Pubertät und eine absolute Oberzicke gewesen. Jedenfalls kam es ihr rückblickend so vor. Emilys Mom hatte vorsichtig versucht, ihr ein Treffen mit ihrem Vater nahezulegen. Doch Emily war damals beinahe durchgedreht. Sie hatte noch nicht einmal den Namen ihres Dads erfahren wollen und ihrer Mutter eine Riesenszene gemacht. Seit diesem Tag hatte ihre Mom nie wieder versucht, mit Emily über ihren Vater zu reden.

„Ich war damals ein ziemlich schräger Teenager, okay? Aber was ist in den zwanzig Jahren seit meiner Geburt geschehen? Hast du nicht schon früher den Kontakt zu uns gesucht? Warum waren wir eigentlich nie eine richtige Familie? Hast du dich nicht mit Mom verstanden?“

„Ich war ein Dreckskerl“, gestand Kendall. „Brenda, also deine Mutter, und ich haben uns auf dem College kennengelernt. Wir waren beide noch sehr jung. Als Brenda schwanger wurde, bekam ich Panik. Ich dachte, mein Leben wäre vorbei.“

„Das ist ja nicht gerade ein Kompliment für mich“, gab Emily wütend zurück. „Dein Leben war vorbei, weil meines begonnen hatte?“

„Wie gesagt, so dachte ich damals. Ich kann das nicht entschuldigen und auch nicht rückgängig machen. Ich bin wie ein Feigling davongerannt. Jahrelang habe ich in Nepal und in Indonesien in der Entwicklungshilfe gearbeitet. Dort konnte ich erleben, wie stolz die Menschen auf ihre Kinder waren. Allmählich dämmerte mir, dass ich einen riesigen Fehler gemacht hatte. Ich kehrte zurück in die Staaten und wollte meine Tochter sehen. Aber Brenda hatte auch ihren Stolz.“

Emily musste unwillkürlich grinsen.

„Ja, angeblich habe ich diese Eigenschaft von meiner Mom geerbt.“

„Das kann ich mir vorstellen. Auf jeden Fall warst du schon fünf Jahre alt, und Brenda wollte nichts mit mir zu tun haben. Sie jobbte halbtags für die Stadtverwaltung und wurde ansonsten von ihren Eltern unterstützt. Ich hatte kein Geld, denn in der Entwicklungshilfe verdient man keine Reichtümer.“

„Und was war mit deinen eigenen Eltern? Hätten die nichts für dich tun können?“

„Ich bin Waise. Von daher war ich daran gewöhnt, mich allein durchs Leben zu schlagen. Deshalb hat es mich ja auch so erschreckt, plötzlich eine eigene Familie zu haben und für mein Kind Verantwortung übernehmen zu müssen. Das wollte ich nicht.“ Er schluckte. „Wie gesagt, seitdem habe ich mich geändert. Aber ich kann meine Fehler nicht ungeschehen machen.“

„Als Kind habe ich mir immer einen Dad gewünscht“, gestand Emily. „Und meine Freundinnen habe ich darum beneidet. Aber irgendwann habe ich gemerkt, dass ich auch ohne dich auskommen konnte. Mom hatte auch mal eine Zeit lang einen Freund, aber der war ein richtiger Looser. Es war mir richtig peinlich, dass irgendwelche Leute denken könnten, der Typ wäre mein echter Vater. Irgendwann wollte ich überhaupt nichts mehr von dir wissen. Ich sagte mir, wenn du mich nicht willst, dann verdienst du mich auch nicht.“

Beschämt senkte Kendall den Blick.

„Du bist eine richtig starke junge Frau geworden. Und ich habe es versäumt, dich aufwachsen zu sehen. Ich bin so ein Idiot gewesen.“

„Ja, das warst du wirklich.“

In Emilys Innern herrschte ein absoluter Gefühlswirrwarr. Als pubertierender Teenie hatte sie ihren Vater gehasst, weil er nicht für sie da gewesen war. Später hatte Emily eine Art Desinteresse entwickelt. Sie war nicht davon ausgegangen, ihren Dad jemals im Leben zu treffen. Und nun?

Emily trieb gemeinsam mit ihrem Vater als Schiffbrüchige in der karibischen See. Konnte es ein dramatischeres Familientreffen geben? Aber Emilys Groll gegen ihren Dad wich allmählich einer starken Neugier. Sie hatte Kendall ja sympathisch gefunden, als sie noch nichts von ihrer Verwandtschaft mit ihm gewusst hatte. Nun erklärte sich natürlich auch, warum er sie – bewusst oder unbewusst – den anderen Tauchschülern vorgezogen hatte. Wahrscheinlich war es einfach Kendalls Vaterstolz gewesen, der ihn Emilys Leistungen stets so hatte hervorheben lassen.

Und überhaupt – das Tauchen. Konnte es Zufall sein, dass sie und ihr Vater sich für den gleichen Sport begeisterten? Emily hätte ja auch Basketball oder Tennis oder irgendeine andere Sportart betreiben können. Und für das Tauchen hatte sie sich aus freien Stücken entschieden, ohne von ihrer Mutter beeinflusst worden zu sein. Das musste auf ihre Mom seltsam gewirkt haben, denn sie musste doch wissen, dass Emilys Vater inzwischen Tauchlehrer war. Da drängte sich sofort eine weitere Frage auf.

„War dieser Tauchurlaub eigentlich deine Idee oder die von Mom?“

„Brenda und ich haben den Plan gemeinsam geschmiedet. Brenda hatte mir schon vor einiger Zeit am Telefon erzählt, dass du mit dem Tauchsport angefangen hast. Das war für mich ein Wink des Schicksals, denn ich besaß zu der Zeit schon einige Jahre lang meine Tauchschule. Du hattest ja mit vierzehn so eine schwierige Zeit, in der du nichts von mir wissen wolltest. Also haben wir uns überlegt, dass du mich vielleicht zunächst einfach ganz neutral kennenlernen könntest. Ohne dass … hm …“

„Du meinst, ohne dass du mir unter die Nase reiben musstest, dass du mein Vater bist?“

„Ja, genau.“

Emily hatte unzählige Fragen an ihren Vater. Doch vor allem wollte sie jetzt wissen, was aus Andy und den übrigen Tauchschülern geworden war.

„Hast du die anderen gesehen, Dad? Ich habe keine Ahnung, wo wir uns befinden. Ist die Fortuna irgendwo hier in der Nähe untergegangen?“

Kendalls Augen funkelten.

„Du hast mich gerade zum ersten Mal Dad genannt!“

„Ja, ich muss mich wohl langsam daran gewöhnen. Du bist ja schließlich mein Dad, nicht wahr? Und ich habe eigentlich keine Lust mehr, dir deine Fehler von vor zwanzig Jahren vorzuhalten.“

Zärtlich strich Kendall ihr über die Wange.

„Danke, Emily. Also, die Fortuna wurde von dem Hurrikan auf ein Riff geschleudert. Dadurch entstand ein Leck, und die Jacht ist innerhalb weniger Minuten gesunken. Ich krachte mit dem Kopf gegen die Reling und war kurze Zeit benommen. Ich sah, wie du und einige andere Tauchschüler aus der Kabine gestürmt kamen und über Bord sprangen. Leider konnte ich nicht checken, ob sich noch jemand in dem havarierten Wrack befand. Eine riesige Welle erfasste mich und warf mich ein Stück weit fort. Als ich mir das Salzwasser wieder aus den Augen gerieben hatte, sah ich nur noch aus der Entfernung, wie die Fortuna gesunken ist. Ich hoffe wirklich sehr, dass sich niemand mehr in der Kabine befand. Es ist schon schlimm genug, dass Sam über Bord gespült wurde. Aber ich habe zu dem Zeitpunkt mit beiden Händen das Steuerrad festgehalten und hatte keine Möglichkeit, ihm zu Hilfe zu kommen. Unsere letzte Position war übrigens 33 Seemeilen südwestlich vom East Cape.“

Emily biss sich nervös auf die Unterlippe. Es war also nicht klar, ob Andy noch lebte. Krampfhaft versuchte sie, sich an die letzten Momente vor ihrem Blackout zu erinnern. Andy war in ihrer Nähe gewesen, so viel stand fest. Und Emily hatte Melanie an der Hand gehalten. Aber was war dann passiert?

„Und du hast nach dem Untergang der Fortuna keinen der anderen mehr gesehen, Dad?“

„Nein, du bist die Einzige. Aber es kann trotzdem möglich sein, dass einige von ihnen oder hoffentlich alle die Katastrophe überlebt haben. Wenn man wie wir im Wasser treibt, hat man nur ein sehr geringes Gesichtsfeld. Es ist möglich, dass hinter dem nächsten Wellenberg weitere Überlebende sind. Wir müssen jetzt vor allem die Ruhe bewahren. Die Küstenwache und die Seenotrettung werden schon unterwegs sein, um nach uns Ausschau zu halten.“

„Aber wir hatten doch gar keinen Funkkontakt mehr.“

„Nein, aber wenn ein Boot von den Radarschirmen der Coast Guard verschwindet, dann wissen sie, dass ein Unglück geschehen ist. Allerdings wird dieser starke Hurrikan viele Schäden verursacht haben. Es kann etwas dauern, doch man wird uns nicht vergessen.“

Ob Kendall Emily nur beruhigen wollte? Soweit ihr bekannt war, musste die Küstenwache ein riesiges Seegebiet kontrollieren. Selbst wenn man Flugzeuge und Helikopter einsetzte, war es völlig unklar, wann die Helfer eintreffen würden.

„Ist dir so was schon einmal passiert, Dad?“

„Nein, bisher bin ich in der Hurrikan-Saison immer mit einem blauen Auge davongekommen. Aber ausgerechnet heute, wo ich meine einzige Tochter an Bord habe, geht mein Boot unter. Weißt du was, Emily? Ich glaube nicht an Zufälle. Vielleicht war es ein Wink des Schicksals, dass es die Fortuna jetzt nicht mehr gibt.“

„Wie meinst du das?“

„Könnte es nicht sein, dass ich ab sofort einen neuen Lebensabschnitt anfangen soll? Ich bin noch nicht zu alt, um mir etwas anderes aufzubauen. Und ich bin nicht in festen Händen, wenn du verstehst, was ich meine.“

Emily riss die Augen auf. Das ging ihr jetzt alles plötzlich viel zu schnell.

„Kapiere ich das alles richtig? Willst du noch einen Neuanfang wagen, mit – mit Mom?“

„Ja, warum nicht? Brenda und ich verstehen uns inzwischen wieder richtig gut. Wir telefonieren oft miteinander und haben uns auch schon dann und wann wieder getroffen. Ich weiß, dass deine Mutter keinen Freund hat. Brenda konnte mir verzeihen, und wenn du es auch kannst, Emily …“

Erwartungsvoll schaute Kendall sie an. Es war eine seltsame Situation. Emily und ihr Vater trieben im Wasser, die Köpfe von den sperrigen Rettungswesten umrahmt. Emily begriff, dass der Kapitän von einem richtigen Familienleben träumte, gemeinsam mit ihr und ihrer Mutter. Vielleicht geriet Kendall aber auch nur in eine solch wehmütige Stimmung, weil er und Emily immer noch in akuter Lebensgefahr schwebten.

Das wurde Emily im nächsten Moment bewusst.

Sie hatte sich nämlich viel zu früh gefreut. Der Hurrikan war keineswegs schon überstanden. Erneut tobte und heulte der Sturm, riss ihnen die Worte von den Lippen. Kendall rief etwas, das Emily nicht verstehen konnte. Er hatte die ganze Zeit ihre Hand gehalten, aber nun wurde die Kraft der Elemente zu stark. Selbst ein so kräftiger Mann wie Emilys Vater konnte nicht gegen diesen Wirbelsturm ankämpfen. Er musste Emily loslassen und streckte verzweifelt seine Finger nach ihr aus.

Der Kapitän konnte sie nicht mehr erreichen. Emily und ihr Dad waren in zwei entgegengesetzte Strömungen geraten, eine andere Erklärung gab es nicht. Emily strampelte mit den Beinen, aber es war sinnlos. Sie musste mit ansehen, wie Kendall immer weiter von ihr fortgetrieben wurde. Weder er noch sie konnten sich dagegen wehren. Emily brannten die Augen. Sie glaubte, es käme vom Salzwasser. Aber dann bemerkte sie ihre eigenen Tränen. Im Handumdrehen war Kendall zwischen zwei Wellenbergen verschwunden, so als ob ihre Begegnung niemals stattgefunden hätte.

Für einen verrückten Moment glaubte Emily sogar, sie hätte sich das Treffen mit ihrem leiblichen Vater nur eingebildet.

Aber es war Realität gewesen – genau wie dieser Wirbelsturm, der Emily zu zerschmettern drohte.