4. KAPITEL

Die Fortuna setzte ihre Reise Richtung Key West fort. Für kurze Zeit kam die lang gestreckte Landzunge der Florida Keys in Sicht, dann war die Motorjacht wieder auf hoher See. Die Frachter und Containerschiffe, die Richtung Kuba und Jamaika fuhren, waren immer seltener zu sehen, weil die Fortuna die viel befahrenen Schifffahrtsrouten verließ.

„Wir nehmen Kurs auf einige unbewohnte Inseln, an deren Riffen es eine wundervolle unterseeische Tier- und Pflanzenwelt gibt“, erklärte Kendall den Tauchschülern. „Die Gewässer dort sind nicht allzu tief, eignen sich also hervorragend für eure ersten Versuche mit dem Gerätetauchen. Andererseits könnt ihr dort so vieles entdecken, dass bereits eure ersten Tauchgänge unvergesslich sein werden.“

Die Stimmung an Bord war gut, jedenfalls kam es Emily so vor. Vielleicht betrachtete sie die Welt auch nur durch eine rosarote Brille, weil sie frisch verliebt war. Aber weshalb hätte sie auch schlechter Dinge sein sollen? Sie fuhr auf einem Boot voller freundlicher Menschen durch eines der schönsten Naturparadiese auf der Welt. Und vor allem war Andy bei ihr, in dessen Gegenwart sie sich sehr wohlfühlte. Der Kapitän lobte sie noch immer über alle Maßen. Er schien nicht eifersüchtig zu sein, obwohl zwischen Emily und Andy etwas lief. Denn dass die beiden mittlerweile ein Paar waren, war nicht zu übersehen. Vielleicht ist Kendall ja wirklich nur von meinen Fähigkeiten als Taucherin überzeugt, dachte Emily übermütig.

Gegen Mittag erreichte die Fortuna eine der kleinen Inseln, die mit ihren Palmen und dem weißen Sandstrand aussah wie aus einem Hochglanz-Reiseprospekt. Obwohl die Karibik ein Traumziel vor allem für amerikanische und europäische Touristen war, gab es doch immer noch zahlreiche unberührte Flecken Erde in der mittelamerikanischen Inselwelt. Das hatte Emily zumindest gelesen, als sie sich auf ihren Tauchurlaub vorbereitet hatte. Während der langen öden Fahrt in dem Greyhound-Bus war Zeit genug dafür gewesen.

Ungefähr dreißig Meter vom Ufer entfernt ließ Kendall den Anker werfen und stellte die Motoren aus. Dann wandte er sich an die Tauchschüler, die ihn erwartungsvoll anblickten.

„Ich werde jetzt höchstpersönlich alle Sauerstoffflaschen überprüfen“, kündigte er an. „Jeder von euch merkt sich, welche Flasche für ihn vorgesehen ist. Dann werden jeweils zwei von euch in meiner Begleitung ihren ersten Tauchgang machen. Wir gehen nicht allzu weit hinunter und beenden unseren Ausflug in die Unterwasserwelt jeweils nach einer Viertelstunde.“

„Oh Mann, jetzt geht’s los“, stöhnte Melanie. „Allmählich habe ich doch ganz schön Bammel, ehrlich gesagt. Ich habe heute Morgen extra noch eine Yoga-Übung gemacht, um lockerer zu werden. Aber das hat nicht wirklich was gebracht.“

„Du wirst es schon schaffen“, meinte Emily aufmunternd. „Schon in der Antike gab es erstklassige Taucher, damals musste man natürlich noch ohne Atemgerät auskommen. Aber getaucht wird schon seit Menschengedenken. Das haben schon unzählige Leute vor dir gelernt.“

Vivian und Kyle durften als Erste abtauchen. Die übrigen Schüler schauten ihnen vom Achterdeck aus zu. Emily suchte natürlich Andys Nähe. Sanft strich er ihr über die Hand.

„Geht’s dir gut?“

„Ich fühle mich super, Andy. Meine Mom hat mir diesen Urlaub geschenkt, weil sie hoffte, ich würde auf andere Gedanken kommen. Das hat toll funktioniert, ich bin richtig glücklich – endlich wieder, nach so langen Monaten.“ Sie kam noch näher und flüsterte: „Rat mal, an wem das hauptsächlich liegt. Ich bin so happy, weil die Vergangenheit keine Macht mehr über mich hat.“

„Das klingt ja, als ob du eine harte Zeit hinter dir hättest.“

„Habe ich auch, aber ich will jetzt nicht darüber reden“, betonte Emily. Sie hatte jedenfalls nicht vor, Andy zu erzählen, dass sie unter Mordverdacht stand. Und auch die Geschichten über ihren stalkenden Exfreund wollte sie einstweilen für sich behalten. Warum sollte sie die Schatten der Vergangenheit wieder heraufbeschwören? Stattdessen wollte Emily lieber jede Minute an Andys Seite genießen. Und seine Blicke bewiesen ihr, dass es ihm ganz genauso ging.

„Emily und Melanie – macht euch für den Tauchgang bereit!“

Die Anweisung kam von Kendall, kurz nachdem der Tauchlehrer gemeinsam mit Vivian und Kyle von der Unterwasser-Expedition zurückgekehrt war. Emily legte ihre Ausrüstung an, wobei sie noch einmal einen Kurzcheck machte.

„Emily, du zeigst bitte Melanie, wie es geht“, sagte Kendall. Offenbar wollte er wieder einmal Emilys Kompetenz unterstreichen. Aber der Check war auf jeden Fall notwendig.

„Okay, Melanie. Als Erstes musst du prüfen, ob deine Sauerstoffflasche geöffnet ist. Steht die Reserveschaltung richtig? Sind alle Anschlüsse befestigt? Funktionieren der Inflator und die Lampe? Sind der Kompass und die Uhr korrekt eingestellt? Hast du den Bleigurt angelegt?“

„Ist das richtig so?“, wollte Melanie wissen. Sie stellte sich etwas ungeschickt an, aber sie hatte ja auch keine Vorkenntnisse. Emily war nun doch aufgeregter, als sie sich zunächst eingestehen wollte. Immerhin war es auch für sie das erste Mal, dass sie mit einem Atemgerät in freier Natur tauchte. Außerdem schaute Andy vom Boot aus zu, und sie wollte sich ganz gewiss nicht vor ihm blamieren. Daher gab sie sich ganz besonders viel Mühe.

Endlich bekamen Emily und Melanie von Kendall das Startzeichen.

Die beiden Frauen tauchten ab und orientierten sich unter Wasser an der Ankerkette, wie der Tauchlehrer es ihnen gesagt hatte. Wenige Augenblicke später glitt auch Kendalls Körper hinab in die Unendlichkeit des Ozeans. Natürlich beherrschten Emily und Melanie bereits die Zeichensprache der Taucher. Daher deuteten sie Kendalls Handsignale richtig: Sie sollten ihm folgen.

Emily kam sich vor, als ob sie zum ersten Mal überhaupt unter Wasser schwimmen würde. Ihre bisherigen Erfahrungen kamen ihr vor wie Trockenübungen. Die schillernd-bunte Unterwasserwelt der Karibik war für Emily wie ein fremder und sehr faszinierender Planet. Bunte Fische kreuzten ihren Weg, einzeln und auch in Schwärmen. Die meisten von ihnen waren nicht größer als Emilys Hand, aber es gab auch einige schwere und große Exemplare. Bisher kannte Emily die Tiere nur von Fotos im Internet. Aber es war etwas völlig anderes, die Schweinsfische, Zackenbarsche, französischen Kaiserfische und Igelfische plötzlich zum Greifen nahe vor sich zu sehen.

Und was war mit Haien? Emily führte sich vor Augen, dass die meisten Haiarten für den Menschen ungefährlich waren. Selbst die sogenannten Räuber stellten keine Gefahr dar, wenn man als Taucher nicht die Nerven verlor. Außerdem war bekannt, in welchen Gewässern sich besonders viele Haie aufhielten. Dort würde der Kapitän ganz gewiss keine Übungen mit Tauchanfängern veranstalten.

Kendall bewegte sich an einem Korallenriff entlang. Dabei achtete er darauf, nicht zu nahe heranzuschwimmen. Emily wusste, dass man sich dort leicht an scharfen Kanten verletzen konnte. Das stellte ein größeres Risiko als eine Haiattacke dar. Und auch aus einem oder zwei Metern Entfernung war der exotische Anblick des unberührten Riffs ganz wunderbar.

Doch plötzlich wurde Emily von einer heftigen Panikattacke erfasst. Die Angst kam ganz unerwartet, wie ein überraschender Faustschlag in die Magengrube. Und es gab weit und breit keinen sichtbaren Anlass für dieses Gefühl. Emily konnte weder einen Hai noch eine Muräne oder ein anderes gefährliches Raubtier erblicken. Die einzigen Menschen in Reichweite waren Melanie und Kendall, doch von keinem der beiden ging auch nur die geringste Bedrohung aus.

Leider beruhigte Emily diese Tatsache überhaupt nicht. Ihr Verstand war beinahe völlig ausgeschaltet, während ihr Gefühl höchste Alarmbereitschaft signalisierte. Es kam ihr vor, als würde die Atemluft aus ihrer Sauerstoffflasche plötzlich nach altem Eisen schmecken. Sie riss sich das Mundstück des Atemschlauchs weg und zuckte hektisch mit Armen und Beinen.

In diesem Moment bemerkte Kendall ihren Zustand. Der Tauchlehrer wendete und kam pfeilschnell auf sie zugeschossen. Emily erkannte nicht mehr, dass er ihr nur helfen wollte. Sie schlug mit den behandschuhten Fäusten um sich, aber Kendall ließ sich davon nicht irritieren. Resolut drückte er ihr das Mundstück wieder zwischen die Lippen. Erst jetzt dämmerte es Emily ganz allmählich, in welcher akuten Lebensgefahr sie geschwebt hatte. Wenn Wasser in ihre Lunge eingedrungen wäre, hätte sie elend ertrinken können.

Emily konzentrierte sich nun ganz auf das Atmen. Sie füllte ihre Lungen mit Luft, und danach blies sie diese langsam wieder hinaus. Die Luftblasen bewegten sich von ihrem Mund aus Richtung Wasseroberfläche.

Die Panik kam immer noch in Wellen, war allerdings nicht mehr ganz so schlimm wie noch wenige Minuten zuvor. Doch Emily reichte es. Obwohl das Wasser angenehm warm war und sie einen Neoprenanzug trug, wurde sie innerlich von einer Eiseskälte erfasst. Sie glaubte, gelähmt zu sein und keinen Finger mehr rühren zu können. Es war ein entsetzliches Gefühl. Außerdem wurde ihr Gesichtsfeld immer kleiner. Emily bekam einen richtigen Tunnelblick und bemerkte kaum noch, was rechts und links von ihr geschah.

Kendall hatte sie fest im Rettungsgriff. Der Tauchlehrer signalisierte Melanie, dass sie eigenständig auftauchen sollte. Ganz allmählich wurde Emily wieder etwas ruhiger. Sie konnte nun erkennen, dass Kendall sie an die Wasseroberfläche schaffte. Dabei achtete er darauf, nicht zu schnell aufzutauchen und über mehrere Auftauchstufen zu gehen. Immerhin waren sie in über dreißig Metern Tiefe gewesen.

Emily fühlte sich so schwindlig, dass sie gewiss umgefallen wäre, wenn sie gestanden hätte. Trotzdem war sie erleichtert, als ihr Kopf aus dem Wasser kam. Emily riss sich nun abermals den Sauerstoffschlauch aus dem Mund und atmete gierig die salzige Meeresluft ein. Der metallische Geschmack ihrer Atemluft war ebenso verschwunden wie die entsetzliche Panik, die allmählich einer leichten Beklemmung wich. Emily konnte nun wieder klar denken. Daher wusste sie jetzt auch, was ihr geschehen war.

„Was ist passiert?“, rief Andy. Emily konnte die Besorgnis in seiner Stimme deutlich hören. Auch die anderen Leute an Bord der Fortuna sprangen auf, als sie sahen, dass mit Emily etwas nicht stimmte.

„Emily hat wahrscheinlich einen Tiefenrausch“, sagte Kendall. „Helft mir, sie aufs Boot zu schaffen.“

Mehrere Hände griffen zu, und wenig später lag Emily auf den harten Planken. Andy kauerte neben ihr, befreite sie von der Taucherbrille und strich ihr vorsichtig mit zwei Fingern über die Wange. Die Sauerstoffflasche war ihr schon von Kendall abgenommen worden, als man sie aus dem Wasser gezogen hatte.

„Tiefenrausch?“, fragte Melanie aufgeregt, während sie an Bord kletterte. „Was ist das denn?“

„So nennt man eine Stickstoffvergiftung, die in größerer Tiefe auftreten kann“, erklärte der Tauchlehrer. „Der Taucher wird nervös und ängstlich, bekommt Halluzinationen oder Sehstörungen. Aber eigentlich waren wir nicht tief genug für diese Taucherkrankheit, und Emilys Gesundheitszeugnis war in Ordnung, genau wie bei euch anderen Schülern. Ich verstehe das nicht. Emily, hast du vielleicht Tabletten eingenommen? Du musst es mir bitte sagen, denn so etwas darf nicht noch mal passieren.“

Emily hätte nicht sagen können, wer besorgter um sie war – Andy oder Kendall. Natürlich war es ihr lieber, dass ihr neuer Freund sich ihretwegen Gedanken machte. Aber sie fand es auch toll, wie sicher und souverän Kendall sie aus der Tiefe gerettet hatte. Erst jetzt begriff sie, dass sie beinahe ertrunken wäre. Und das war ein richtig mieses Gefühl.

„Ich habe keine Tabletten eingenommen, Kapitän. Und Drogen besitze ich auch nicht. Ich weiß, dass man auch einen Tiefenrausch bekommen kann, wenn man verkatert ins Wasser geht. Aber ich habe auch keinen Alkohol getrunken, ehrlich.“

„Ich glaube dir“, sagte Kendall und berührte sie an der Schulter. „Soll ich die Küstenwache anfunken? Es dauert keine halbe Stunde, dann ist ein Helikopter hier, der dich ins Krankenhaus nach Key West bringt. Dort können deine Lungenfunktionen genau durchgecheckt werden. Das ist hier an Bord natürlich nicht möglich. Sam und ich kennen uns zwar mit Erster Hilfe aus, aber keiner von uns hat eine medizinische Ausbildung.“

„Das wird nicht nötig sein. Ehrlich, es geht mir schon viel besser. Wenn ich mich noch eine halbe Stunde ausgeruht habe, dann kann ich bestimmt auch wieder tauchen.“

„Nur nicht so voreilig“, bremste Kendall sie und schmunzelte. Aber es schien ihm zu gefallen, dass sich Emily nicht so leicht abschrecken ließ. Und das war auch wirklich so. Bei jedem Sport musste man Rückschläge verkraften, das war jedenfalls Emilys Meinung. Trotzdem verstand sie nicht, warum sie einen Tiefenrausch erlitten hatte. Normalerweise kündigte sich dieser Zustand langsam an, und man konnte noch schnell etwas höher tauchen, bevor es richtig schlimm wurde. Jedenfalls hatte sie das in ihrem Lehrbuch so gelesen. Oder war das nur graue Theorie?

Vivian half ihr dabei, den Neoprenanzug auszuziehen.

„Willst du in die Kabine, Süße?“

„Nein, Vivian. Es reicht mir, wenn ich hier an Deck etwas im Liegestuhl chillen kann.“

Emily setzte sich in einen der beiden Liegestühle, die auf dem Achterdeck standen. Unter ihrem Taucheranzug trug sie noch einen Bikini. Die Aufregung der anderen Tauchschüler legte sich allmählich, weil Emily ja nicht ernsthaft verletzt war. Nur Andy wich nicht von ihrer Seite.

„Ich habe einen Riesenschrecken bekommen, als der Kapitän dich im Rettungsgriff hatte.“

„Das geht mir genauso, Andy. Ich meine, unter Wasser konnte ich keinen klaren Kopf bewahren. Das ist typisch für den Tiefenrausch, weißt du. Aber es ist etwas anderes, wenn man nur darüber liest oder es am eigenen Leib erfährt.“

„Das kann ich mir vorstellen. Es muss ein echter Horrortrip für dich gewesen sein.“

„Ja, ich habe schon Schöneres erlebt. Jedenfalls werde ich gewiss niemals allein tauchen. Wenn ich keine Begleiter gehabt hätte – dann wäre dieser Tauchgang gewiss mein letzter gewesen.“

Andy erbleichte, was man trotz seiner Sonnenbräune gut erkennen konnte. Sie lächelte ihm aufmunternd zu und nahm seine Hand.

„Hey, alles gut. Ich lebe noch, wie du siehst.“

„Ja, zum Glück.“

Andy wollte noch mehr sagen. Doch in diesem Moment stiefelte Kendall auf sie zu. Das Gesicht des Kapitäns war wutverzerrt. Emily hatte ihn noch nie so sauer gesehen.

„Emily, ich hatte doch deine Sauerstoffflasche überprüft, nicht wahr?“

„Ja, Sir.“

„Hast du die Ventile vielleicht selbst noch mal gecheckt?“

„Nein, dazu hatte ich keinen Anlass. Ich habe die Ventile nicht angerührt.“

„Ich glaube dir, Emily. Du bist eine verantwortungsvolle Taucherin, du würdest so einen Unsinn niemals machen. Aber dann hat irgendjemand auf dieser Jacht die Ventile so eingestellt, dass dadurch dein Tiefenrausch ausgelöst wurde.“

Andy ballte die Fäuste.

„Sie meinen, irgendein Vollpfosten hat sich auf Emilys Kosten einen schlechten Scherz erlaubt?“

Kendall nickte grimmig.

„Über solche Späße kann ich gar nicht lachen. Wer mit dem Leben meiner Tauchschüler spielt, der bekommt es mit mir zu tun! Achtung, alle mal herhören! Versammelt euch sofort auf dem Achterdeck! Was ich jetzt zu sagen habe, geht jeden auf der Fortuna etwas an!“

Kendalls Stimme war lauter als das Nebelhorn der Motorjacht. Es war völlig unmöglich, den Kapitän in irgendeinem Winkel des Schiffes nicht zu vernehmen. Emily stand aus dem Liegestuhl auf, Andy nahm ihre Hand. Das fühlte sich toll an, gerade in diesem Moment konnte sie seine Nähe wirklich gut gebrauchen. Erst allmählich dämmerte Emily die Bedeutung von Kendalls Entdeckung.

Jemand hatte ihr ernsthaft schaden wollen. Schlechter Scherz? Das war sehr wohlwollend ausgedrückt. Emily hätte sterben können, weil ihre Atemausrüstung nicht in Ordnung gewesen war. Und wer immer sich daran zu schaffen gemacht hatte, musste das gewusst oder wenigstens geahnt haben. Oder er war so dumm und verantwortungslos, dass er beim Gerätetauchen nichts verloren hatte.

Alle Tauchschüler und auch Sam hatten sich inzwischen versammelt. Sie schauten Kendall erwartungsvoll an, obwohl einige von ihnen schon mitbekommen hatten, weshalb er so zornig war.

„Eure Tauchkameradin Emily hat heute einen Unfall gehabt, weil einer von euch das Ventil ihrer Sauerstoffflasche manipuliert hat. Ich gebe dem Täter oder der Täterin jetzt die einmalige Chance, sich zu stellen.“

Kendall hatte die Arme vor der breiten Brust verschränkt und schaute alle Anwesenden an, einen nach dem anderen. Es herrschte Totenstille. Während der nächsten Minuten machte Emily sich ihre eigenen Gedanken. Wer trug die Verantwortung für ihren Tiefenrausch?

Sam konnte sie sofort ausschließen. Erstens traute sie dem Alten keine Schlechtigkeit der Welt zu, und zweitens hatte er überhaupt kein Motiv. Auch Andy kam für sie als Täter überhaupt nicht infrage. Sie hatte sich zwar schon einmal sehr in einem Menschen getäuscht – nämlich in ihrem Exfreund –, aber zwischen ihr und Andy lief doch alles rund, weswegen hätte er ihr schaden sollen? Doch, was war mit Kyle und Lee, den beiden anderen Tauchschülern? War vielleicht einer von ihnen eifersüchtig, weil er selbst etwas von Emily wollte? Falls ja, dann konnte er seine Missgunst gut verstecken. Sowohl Kyle als auch Lee behandelten Emily weiterhin locker und freundlich, seitdem sie und Andy ein Paar waren. Und Melanie und Vivian? Emily glaubte nicht, dass eine von ihnen sich eine lästige Rivalin vom Hals schaffen wollte. Und was war mit Kendall selbst? Hatte er vielleicht das Ventil falsch eingestellt, um Emily dann später retten und sie dadurch beeindrucken zu können? Kaum war Emily dieser Einfall gekommen, als sie sich dafür in Grund und Boden schämte. Wie konnte sie dem Tauchlehrer nur so etwas Schlechtes zutrauen? Seine Wut auf den Täter war gewiss nicht gespielt.

Nein, der Kapitän war zu solch hinterhältigem Verhalten sicher nicht fähig. Sie hielt ihn für ehrlich und gradlinig, und das bewies er auch mit seiner nun folgenden kurzen Ansprache.

„Niemand?“, fragte Kendall, und seine Stimme klang schneidend. „Also gut, ich habe auch nichts anderes erwartet. Wer so etwas tut, der ist auch zu feige, zu diesem lebensgefährlichen Unsinn zu stehen. Jeder von uns hat Tauchhandschuhe getragen, daher werden sich auch keine Fingerabdrücke finden lassen. Aber ich warne euch hiermit ausdrücklich! Ich werde ab sofort noch aufmerksamer sein als bisher. Und wenn auch noch nur die kleinste Kleinigkeit vorfallen sollte, dann rufe ich die Küstenwache und lasse den Täter auf der Stelle verhaften!“

Alle Tauchschüler und auch Sam waren geschockt, das konnte Emily ihren Gesichtern ganz deutlich ansehen. Im Grunde traute sie keinem von ihnen eine solche Gemeinheit zu, auch Kendall selbst nicht. Dann blieb aber nur eine Möglichkeit übrig, die ihr gar nicht gefallen wollte.

Es musste noch eine weitere Person an Bord sein, die sich bisher verborgen gehalten hatte. Emily erinnerte sich an die verdächtigen Geräusche, die ihr nachts aufgefallen waren. Sie hatte sich eingeredet, dass es auf einer so kleinen Motorjacht keine Verstecke gäbe. Aber stimmte das überhaupt? Nein, nicht wirklich. Es gab zwei Rettungsboote, unter deren Abdeckung nie jemand schaute. Außerdem hatte Emily mehrere Vorratsbunker gesehen, in die Sam gewiss nicht jeden Tag einen Blick warf. Wenn es jemand wirklich darauf anlegte, dann konnte er sich auch an Bord der Fortuna verkriechen, ohne von der Besatzung oder den Tauchschülern bemerkt zu werden.

Aber hatte sich der Täter überhaupt an ihrer Sauerstoffflasche vergreifen können? Ja, das wäre ohne Weiteres möglich gewesen. Als Vivian und Kyle ins Wasser gegangen waren, hatten alle ihnen zugeschaut. Auch Emily selbst hatte ihre Atemausrüstung für einige Minuten aus den Augen gelassen. Diese Zeit hätte vermutlich völlig ausgereicht, um das Ventil zu manipulieren.

Außerdem gab es jemanden, der ihr wirklich Übles wünschte. Diesem Typen traute sie die Tat hundertprozentig zu. Vor dem Gesetz hatte er keinen Respekt, sonst hätte er sich nicht schon so oft mit der Polizei angelegt. Sie hielt ihn sogar für verrückt genug, sich an Bord einer Motorjacht zu schleichen, nur um sie weiterhin mit seinem Hass zu verfolgen. Vor allem falls er auch noch mitgekriegt haben sollte, dass sie jetzt in Andy verliebt war. Ja, es gab diesen Dreckskerl, obwohl er angeblich nicht mehr lebte. Dafür gab es nämlich nicht den geringsten Beweis. Emily glaubte inzwischen überhaupt nicht mehr daran, dass er ermordet worden war.

Ob ihr tot geglaubter Exfreund wirklich hier auf der Fortuna war und auf seine Chance lauerte?