7. KAPITEL

Emily weinte, aber irgendwann war die Erschöpfung größer als die Trauer und die Einsamkeit inmitten der riesigen Sturmhölle. Die Nacht brach herein, ohne dass Emily etwas davon mitbekam. Sie verfiel in einen Dämmerzustand. Während der Hurrikan sich nun endgültig in die Richtung des amerikanischen Festlandes bewegte, wurde Emily von der starken Meeresströmung weiter hinausgespült.

Realität und Traum vermischten sich. Sie erinnerte sich an kleine Erlebnisse aus ihrer Kindheit, ein Unfall auf der Schaukel, die rosa Torte an ihrem sechsten Geburtstag. Plötzlich sah Emily Andy vor sich. Er lächelte ihr zu. Es war so realistisch, dass sie die Wärme seines Körpers zu spüren glaubte. Doch als sie sehnsuchtsvoll die Arme nach ihm ausstreckte, verschwand er spurlos. Stattdessen begann Emily mit den Zähnen zu klappern. Sie wusste nicht, wie lange sie schon im Wasser gelegen hatte. In den kalten Fluten des Atlantiks wäre sie schon längst erfroren. Doch auch im warmen karibischen Wasser kühlte ihr ausgelaugter Körper allmählich aus. Eine Zeit lang hatte Emily geglaubt, dass sie gleich sterben würde.

Aber die Kälte bewies ihr schmerzhaft, dass sie noch sehr lebendig war. Ihr Körper forderte Wärme und Ruhe, doch beides schien unendlich weit entfernt. Und dann spürte Emily plötzlich Steine unter den Schuhsohlen!

Es war immer noch finstere Nacht. Doch im fahlen Mondschein sah Emily einen Strand vor sich, dessen Sand in der Dunkelheit schmutzig-grau wirkte. Dahinter konnte man vage die Wipfel einiger Palmen sowie Unterholz erkennen. Emily rechnete schon damit, dass auch dieses Bild sich gleich wieder in nichts auflösen würde. Aber der feste Boden unter ihren Füßen war keine Illusion.

Wenig später stolperte Emily ans Ufer. Sie fiel hin, denn ihre Knie waren plötzlich weich wie Pudding. Außerdem fror sie noch mehr, obwohl ihr das kaum möglich erschien. Schließlich stand sie in triefend nassen Kleidern am Strand, und obwohl der Wirbelsturm weitergezogen war, wehte der Wind immer noch sehr stark und sehr kalt.

Da entdeckte Emily einen Steinwurf entfernt ein Wrack.

Im ersten Moment glaubte sie, dass sie die Fortuna wiedergefunden hätte. Aber das stimmte nicht, wie Emily im Näherkommen erkannte. Die Fortuna war leckgeschlagen und gesunken, das hatte Emily mit eigenen Augen gesehen. Außerdem war dieses Wrack nicht weiß, sondern graublau. Außerdem stank es nach Fisch, und Emily sah einige zerfetzte herabhängende Netze. Sie kniff die Augen zusammen. Am Heck konnte sie trotz der schlechten Lichtverhältnisse den Schiffsnamen lesen: Esperanza. Als Heimathafen war Nassau angegeben, die Hauptstadt der Bahamas. Außerdem hing die zerrissene Fahne des Inselstaates am Flaggenstock.

Ob an Bord noch jemand lebte?

Emily fürchtete sich, aber sie musste sich Gewissheit verschaffen. Außerdem fror sie nicht nur, sondern inzwischen wurde sie auch von nagendem Hunger gequält. Die Esperanza steckte in leichter Schräglage im Sand fest. Für die sportliche Emily war es trotz ihrer Ermattung kein Problem, an Bord zu klettern. Aber ihr war ziemlich unheimlich zumute. Wenn sie nun Leichen entdeckte?

Der Fischgeruch wurde noch intensiver. Sie hatte offenbar einen havarierten Fischkutter gefunden, der ebenfalls von dem Hurrikan überrascht worden war. Die starke Strömung, von der auch Emily gepackt worden war, hatte das Boot auf diesen Strand gespült.

An Deck konnte Emily keinen Menschen sehen, weder lebendig noch tot. Die Takelage war teilweise beschädigt, und einige Planken waren zerschmettert. Aber ansonsten schien die Esperanza den Hurrikan einigermaßen gut überstanden zu haben, jedenfalls war sie nicht gesunken.

„Hallo? Ist hier jemand?“

Emily fand selbst, dass sich ihre Stimme dünn, brüchig und furchtsam anhörte. Aber sie konnte nicht aus ihrer Haut. Es war einfach gruselig auf diesem Fischkutter, und außerdem fror sie immer noch fürchterlich. Emily bekam keine Antwort. Die Windböen verursachten ein Klappern und Scharren, ein Knarren und Ächzen. Aber es waren nur tote Gegenstände, von denen diese Geräusche verursacht wurden.

Emily nahm ihren ganzen Mut zusammen und öffnete die Luke, die hinunter in die Kabine führte. Hier war der Fischgeruch nicht ganz so durchdringend, stattdessen roch es nach Maschinenöl, kaltem Zigarettenrauch und Bratfett. Emilys Magen knurrte laut und deutlich. In ihrer Fantasie sah sie plötzlich eine riesige Portion Pommes frites und einen Cheeseburger zum Greifen nahe vor sich.

Unter Deck war es noch viel finsterer als draußen, weil kaum Mondlicht dorthin vordrang. Emily ertastete einen Lichtschalter an der Wand, aber das Licht funktionierte nicht mehr. Vermutlich hing die Schiffselektrik mit der Maschine zusammen, und da die Motoren aus waren, gab es auch keinen Strom.

Allmählich gewöhnten sich Emilys Augen an die Finsternis. Sie arbeitete sich zu einem Schrank vor und öffnete ihn. Sie fand einen Gegenstand, der sich wie eine schwere Stablampe anfühlte. Emily jubelte, als gleich darauf ein breiter und starker Lichtstrahl aufflammte. Nun konnte sie sich in aller Ruhe in der Kabine umschauen.

Zu ihrer größten Erleichterung gab es hier keine toten Menschen. Es sah wüst aus, aber das lag vermutlich daran, dass der Hurrikan das Boot so durchgeschüttelt hatte. Die Fischer mussten alle über Bord gespült worden sein. Oder hatten sie sich mit dem Rettungsboot aus dem Staub gemacht? Emily hatte kein Beiboot bemerkt. Sie durchsuchte systematisch die Kabine. In einem Spind fand sie trockene Handtücher, T-Shirts und eine Arbeits-Latzhose. Emily riss sich die Kleider vom Leib und frottierte sich so lange mit einem der Tücher ab, bis ihre Haut wie Feuer brannte.

Sie kam sich vor wie eine Königin, als sie wenig später auch noch die Vorratskammer entdeckte. Viele Lebensmittel konnte sie nicht verarbeiten, weil sie kein Feuer hatte. Voller Heißhunger riss sie eine Büchse Corned Beef auf und schaufelte sich das kalte Dosenfleisch mit einem Löffel in den Mund. Es gab auch Cola, ebenfalls in Dosen. Emily hatte noch nie etwas Köstlicheres gegessen und getrunken. Jedenfalls kam es ihr in diesem Moment so vor. Allmählich kehrte die Kraft in ihren erschöpften Körper zurück.

Nachdem sie sich satt gegessen hatte, legte Emily sich in eine der beiden unbenutzten Kojen im Wohnbereich der Kabine. Sie wollte sich eigentlich nur kurz ausruhen. Aber dann wurde sie doch von ihrer eigenen Erschöpfung und Müdigkeit übermannt. Innerhalb von wenigen Minuten schlief sie tief und fest ein.

Emily wachte auf, weil sie niesen musste. Ihr ganzer Körper schmerzte von den Anstrengungen der letzten Zeit. Inzwischen war es heller Tag. Durch die zerborstenen Bullaugen des Fischerboots fielen Sonnenstrahlen in die Kabine.

Langsam schwang Emily die Beine aus der Koje. Sie konnte immer noch nicht fassen, dass sie den Schiffbruch überlebt hatte. Eigentlich hätte sie sehr glücklich sein müssen, denn sie war an Land, in Sicherheit. Emily hatte etwas zu essen und trockene Kleidung. Es war nur eine Frage der Zeit, bis Rettungsmannschaften sie finden würden. Aber so richtig freuen konnte sie sich nicht.

Während Emily in die gefundene Fischerkleidung schlüpfte, versuchte sie ihre Gedanken zu ordnen. Es brachte überhaupt nichts, wenn sie sich von ihrer eigenen Ungewissheit fertigmachen ließ. Gewiss, sie sorgte sich sehr um Andy und auch um Kendall. Wer hätte gedacht, dass der Kapitän ihr leiblicher Vater war? Auch das Schicksal der übrigen Leute von der Fortuna ließ sie nicht kalt. Sie hatte sich ja mit allen mehr oder weniger gut verstanden, sogar mit der hysterischen Melanie.

Noch hatte Emily nicht den geringsten Beweis dafür, dass es nicht noch mehr Überlebende gegeben hatte. Warum sollten nicht auch die anderen an einen Strand gespült worden oder von einem Schiff aufgenommen worden sein? Emily straffte sich. Sie wollte einfach nicht an den Tod ihrer Freunde glauben, solange sie keine Leichen gesehen hatte.

Zum Frühstück öffnete Emily eine weitere Dose Corned Beef und spülte das Büchsenfleisch mit Cola herunter. Danach durchsuchte sie die Esperanza nach nützlichen Gegenständen. Die wichtigste Entdeckung war zweifellos die Stablampe, die sie schon am Vorabend gefunden hatte. Außerdem fand Emily ein Messer, das sie sicherheitshalber einsteckte. Es konnte nicht schaden, sich im Notfall verteidigen zu können. Ihr eigenes Handy hatte sie leider irgendwann während des Schiffsbruchs verloren. Es lag vermutlich auf dem Grund der karibischen See. Emilys Pulsschlag beschleunigte sich, als sie an Bord des Fischerboots ein Handy entdeckte. Aber es war für sie völlig unbrauchbar, denn der Akku war leer. Und falls es irgendwo ein Ladekabel gab, dann konnte sie es nicht finden.

Natürlich verfügte die Esperanza auch über eine Funkanlage. Aber Emily stand hilflos vor dem Gerät. Sie konnte nicht funken, und selbst wenn sie den Apparat hätte bedienen können – Strom gab es nach wie vor nicht. Zwar entdeckte sie auch die Lichtmaschine, durch die Elektrizität erzeugt wurde. Aber der Apparat sah so demoliert aus, dass sich Emily eine Reparatur nicht zutraute.

Kurze Zeit später verließ Emily die Kabine und trat hinaus auf das Deck. Sie trug nun eine Arbeitshose, die ihr etwas zu weit war, und außerdem ein marineblaues T-Shirt im Schlabberlook. Sie hatte darauf verzichtet, ihre triefendnassen Schuhe wieder anzuziehen, da sie gern barfuß lief. Sie musste nur aufpassen, dass sie nicht auf einen der angeschwemmten Seeigel trat. Flaschenscherben hatte sie nicht zu befürchten, denn es gab hier offenbar weit und breit keine Menschenseele.

Das havarierte Fischerboot war an einen Strand geschwemmt worden, der einer karibischen Postkartenidylle glich. Der Himmel war tiefblau, keine einzige Wolke war zu sehen. Die Wipfel der Palmen wiegten sich in einer sanften Brise, und zwischen den Baumstämmen gab es eine dichte grüne tropische Vegetation. Das Einzige, was fehlte, waren Leute.

Emily kletterte auf das Kabinendach der Esperanza, um sich besser orientieren zu können. Das Meer hatte sich längst beruhigt. Es war kaum zu glauben, dass hier noch vor kurzer Zeit ein fürchterlicher Wirbelsturm getobt hatte. Außer dem Wrack am Strand war kein einziges Schiff oder Boot zu sehen. Emily fragte sich, wo sie überhaupt war. Auf der lang gestreckten Halbinsel der Florida Keys? Auf dem Festland, irgendwo in der Nähe von East Cape? Oder vielleicht sogar auf einer der unzähligen unbewohnten Inseln in der Florida Bay?

Sie wusste es nicht. Und wenn sie es herausfinden wollte, musste sie sich selbst auf die Suche machen. Emily verließ das Fischerboot und ging am Strand entlang. Das warme Wasser umspülte ihre nackten Füße. Sie nieste abermals. Offenbar hatte sie sich eine leichte Erkältung eingefangen. Das war zum Glück der einzige Schaden, den sie bei dem Schiffbruch genommen hatte. Gewiss, ihr Handy und ihre sämtlichen Sachen waren fort. Aber das fand sie nicht so schlimm. Viel wichtiger war ihr die Frage, ob Andy noch lebte. Doch darüber blieb sie weiterhin im Unklaren. Stattdessen suchte sie den Strand nach Hinweisen ab.

Schon nach wenigen Schritten wurde Emily fündig. In der Dünung entdeckte sie einen Plastikkanister, der angespült worden war. Sie hob das Ding aus dem Wasser. Emily hätte schwören können, dass solche Behälter auch an Bord der Fortuna gewesen waren. Aber dadurch wurde noch gar nichts bewiesen. Emily setzte ihren Weg fort. Erneut wurde ihr das Herz schwer, und sie fürchtete sich vor ihrer nächsten Entdeckung. Wenn sie nun wirklich einen toten Menschen fand? Und wenn es dann auch noch jemand war, der ihr viel bedeutete … Emily schüttelte sich, als wollte sie einen bösen Traum abstreifen.

Und dann erblickte sie plötzlich etwas, worauf sie insgeheim gehofft hatte.

Fußspuren!

Emily hätte am liebsten vor Glück geschrien. Sie war keine Fährtenleserin, aber die Abdrücke im Sand stammten offenbar von mehreren Männern. Jedenfalls waren die Spuren viel größer als die von ihren eigenen nackten Füßen. Es mussten mehrere Leute sein, die hier an Land gestapft waren, vielleicht fünf oder sechs.

Emily atmete bereits tief ein, um zu rufen und auf sich aufmerksam zu machen. Im letzten Moment bremste sie sich selbst. Ihre Erleichterung wich einem bohrenden Misstrauen. Sie erinnerte sich an die furchtbare Begegnung mit den schießwütigen Raubtauchern. Wenn es nun diese Mistkerle waren, deren Spuren sie hier entdeckt hatte?

Emily machte sich keine Illusionen über die Absichten der Verbrecher. Sie hatten rücksichtslos geschossen, als die Fortuna in Sicht gekommen war. Und sie würden Emily ganz gewiss nicht am Leben lassen, wenn sie ihr begegneten. Schließlich hatten die Mistkerle schon einmal bewiesen, dass sie keine lästigen Zeugen gebrauchen konnten.

Aber wenn es sich nicht um Raubtaucher handelte? Wenn die Männer nun ganz harmlos waren?

Emily überlegte fieberhaft. Die Fährten führten von der Brandung quer über den Strand hinauf zum tropischen Unterholz. Nun bemerkte sie auch Schleifspuren. Vermutlich hatten die Kerle ein Boot bei sich gehabt. Der Verdacht wurde zur Gewissheit, als Emily wenig später vorsichtig einige Farne zur Seite schob und in die üppige Vegetation vordrang. Sie fand ein Schlauchboot, das mit Blättern und Zweigen abgedeckt war. Vom Strand aus konnte man es nicht sehen.

Nun zweifelte sie nicht mehr daran, dass die Fremden Böses vorhatten. Weshalb hätten sie sonst ihr Boot verstecken sollen? Offenbar sollte niemand mitbekommen, dass sie hier waren. Aber weshalb?

Emily fürchtete sich. Am liebsten wäre sie zurück zum Wrack der Esperanza gelaufen, um sich in der Kabine zu verstecken. Aber dort säße sie in der Falle. Wenn diese Typen sie dort aufstöberten, würde sie nicht mehr entkommen können. Doch bisher war sie noch nicht entdeckt worden. Emily beschloss, die Furcht zu überwinden und die Unbekannten auszuspionieren. Nur dann hatte sie eine Chance, ihnen auszuweichen und zu entkommen.

Emily drang tiefer in das Dickicht vor. Aber schon nach wenigen Schritten merkte sie, dass sie nicht wirklich einen Plan hatte. Am Strand war es sehr einfach gewesen, den Spuren der Männer zu folgen. Doch hier war der Boden mit Flechten und niedrigen Kriechpflanzen bewachsen, mehrfach stolperte Emily über dicke Wurzeln. Sie war kein indianischer Scout, der die Fährte auch in dieser unübersichtlichen Umgebung hätte verfolgen können. Langsam bewegte sie sich vorwärts. Hinter jedem Palmenstamm fürchtete sie, einen bewaffneten Feind lauern zu sehen. Je weiter sie sich vom Ufer fortbewegte, desto unsicherer wurde sie. Das Wrack der Esperanza war zwar kein hundertprozentig sicherer Zufluchtsort, aber immerhin die einzige halbwegs vertraute Umgebung in dieser für Emily so fremden Welt. Am liebsten wäre sie dorthin zurückgerannt und hätte sich in der Koje die Bettdecke über den Kopf gezogen wie ein kleines Kind. Mit jeder Minute, die verstrich, kam Emily ihr Vorhaben sinnloser vor.

Da roch sie plötzlich den Duft von gebratenem Fleisch.

Dank ihrer Corned-Beef-Mahlzeiten hatte Emily nicht mehr so einen grausamen Hunger wie noch am Vorabend. Dennoch lief ihr das Wasser im Mund zusammen, und ihr Magen knurrte leise. Die Kerle vom Strand veranstalteten offenbar irgendwo hier in der Nähe ein Barbecue. Emily musste sich nun nicht mehr auf ihre Augen, sondern auf ihre Nase verlassen, um die Spur wieder aufzunehmen.

Der verlockende Geruch wurde immer intensiver. Nun hörte Emily auch Stimmengewirr und Lachen. Sie war noch zu weit entfernt, um erkennen zu können, worüber sich die Männer unterhielten. Ob sie überhaupt Englisch sprachen? Emily hatte auf der Highschool zwar Spanisch gelernt, stand mit dieser Sprache jedoch immer noch ein wenig auf Kriegsfuß. Aber darüber könnte sie sich später Gedanken machen. Nun kam es darauf an, ungesehen näher an das Lager heranzukommen.

Emilys Angst war einer nervösen Anspannung gewichen. Sie ging auf alle viere und kroch in die Richtung, aus der die Stimmen kamen. Emily befand sich zwischen hüfthoch wuchernden Farnen, die eine gute Deckung abgaben. Vorsichtig schob sie einige der Halme auseinander und spähte zwischen ihnen hindurch. Nun war sie nur noch einen Steinwurf von den Unbekannten entfernt.

Die Kerle hatten ein Lagerfeuer entzündet und drehten ein Spanferkel an einem Spieß. Auf den ersten Blick wirkten sie wie eine Gruppe von Hobby-Anglern oder Jägern. Sogar eine Kühltasche mit Getränken fehlte nicht. Doch die Maschinenpistolen und Sturmgewehre, die griffbereit neben ihnen lagen, passten nicht zu harmlosen Freizeitsportlern.

Emily war sehr erleichtert, dass sie sich vorhin nicht lautstark bemerkbar gemacht hatte. Was hatten diese Bewaffneten vor – abgesehen davon, das Grillfleisch zu essen? Waren es Raubtaucher – oder vielleicht Schmuggler? Emily hatte im TV gesehen, dass viele illegale Waren auf dem Seeweg an der Küste Floridas angelandet wurden. Sie beschloss, weiterhin mucksmäuschenstill zu sein und den Männern zu lauschen. Das war das Beste, was sie momentan unternehmen konnte.

Ein Kerl in einem roten T-Shirt griff in die Kühltasche und wollte sich ein Bier aufmachen. Aber ein bulliger Blonder mit eng zusammenstehenden Augen schlug ihm auf die Hand.

„Aua! Spinnst du, Bruce?“

„Ich? Du bist nicht ganz dicht, Todd. Oder hast du schon wieder vergessen, dass wir nachher noch einen Tauchgang machen wollen? Solange ich hier der Boss bin, wird nur nüchtern getaucht. Ich lasse mir kein Vermögen durch die Lappen gehen, nur weil ihr unter Wasser besoffen seid.“

„Als ob ich bei einem einzigen Bier die Kontrolle verlieren würde“, maulte Todd, griff jetzt aber doch lieber zu einer Cola. „So ein Bier, das merke ich doch überhaupt nicht.“

„Darüber wird nicht diskutiert“, bestimmte Bruce. „Nick, Jaime und Zachary sind auch meiner Meinung. Wenn du erst mal deinen Anteil an der Beute hast, dann kannst du eine ganze Brauerei leer trinken. Aber bis es so weit ist, werden wir stocknüchtern zum Wrack der Seahawk tauchen. Wenn alles klappt, dann sind wir schon in wenigen Tagen steinreich.“

Die anderen drei Männer nickten zustimmend. Nun wusste Emily genau, dass sie es mit Raubtauchern zu tun hatte. Aber wo hatte sie den Schiffsnamen Seahawk schon einmal gehört? Emily zerbrach sich den Kopf, und dann fiel es ihr wieder ein. Das war der Segler der amerikanischen Marine gewesen, auf dem Andys Vorfahre Jeremias Jackson gegen die Piraten gekämpft hatte. Der Gedanke an Andy gab ihr einen Stich. Hoffentlich hatte er den Hurrikan gut überstanden! Emily kämpfte ihre Besorgnis nieder und konzentrierte sich erneut auf den Wortwechsel zwischen den Verbrechern.

Todd schien immer noch sauer zu sein, weil ihm sein Bier vorenthalten wurde.

„Na, hoffentlich finden wir die Seahawk nun auch endlich mal! Seit Monaten grasen wir den verfluchten Meeresboden ab, und bisher haben wir in der Schatzlotterie nur Nieten gezogen. Bist du denn sicher, dass sich wirklich das erbeutete Piratenvermögen an Bord befand?“

„Sicher?“, spottete Bruce. „Um sicher zu sein, müsste ich bloß beim Marineministerium in Washington anrufen: ‚Ladys und Gentlemen, ich möchte mich gerne an einem Schiff der amerikanischen Marine bereichern. Bitte geben Sie mir die genaue Position der gesunkenen Seahawk, damit ich mir Werte unter den Nagel reißen kann, die dem amerikanischen Staat gehören.‘“ Er stieß einen verächtlichen Laut aus. „Mann, die werden begeistert sein und mir sofort mit Rat und Tat zur Seite stehen.“

„Verschaukeln kann ich mich alleine“, knurrte Todd. „Ich hab ja nur gefragt, weil wir hier schon so lange unsere Zeit vergeuden.“

„Du kannst jederzeit gehen, wenn es dir nicht passt“, erwiderte Bruce scharf. „Außerdem haben wir schon so einiges aus der Tiefsee geholt, was uns einen schönen Gewinn eingebracht hat. Wenn du deinen Beuteanteil immer sofort in Miami Beach auf den Kopf haust, dann ist das nicht meine Schuld.“

„Okay, okay“, wiegelte Todd ab. „Ich meinte ja nur …“

„Außerdem“, fuhr Bruce fort, „ist da auch immer noch die leidige Konkurrenz oder irgendwelche Neugierigen, die uns in die Quere kommen. Darf ich dich an diese Motorjacht Fortuna erinnern, die kurz vor dem Hurrikan unseren Kurs gekreuzt hat?“

Todd lachte.

„Ja, denen sind unsere blauen Bohnen nur so um die Ohren geflogen. Zuerst dachte ich schon, sie würden uns entkommen. Aber dann hat der Wirbelsturm uns wohl die Arbeit abgenommen. Jedenfalls war der Kahn dann irgendwann nicht mehr auf unserem Radar zu sehen. Ein Glück nur, dass wir dem Hurrikan um Haaresbreite entkommen konnten.“

In ohnmächtiger Wut presste Emily die Lippen aufeinander. Vor ihr saßen also die Kriminellen, die eiskalt auf sie und auf die übrigen Menschen an Bord der Fortuna gefeuert hatten! Aber wo war die Motorjacht der Verbrecher? Weshalb waren sie mit einem Schlauchboot hierhergekommen? Höchstwahrscheinlich war das Wasser vor dem Strand so flach, dass die Jacht an einer anderen Stelle weiter draußen ankern musste. Das war zumindest die einzige Erklärung, die Emily auf Anhieb einfiel. Ob sie irgendwie auf das Boot der Raubtaucher gelangen und von dort aus Hilfe rufen konnte? Aber vielleicht befanden sich noch mehr Verbrecher an Bord. Bevor Emily etwas unternahm, wollte sie die Männer lieber noch länger belauschen. Je mehr Einzelheiten sie erfuhr, desto besser konnte es für sie sein.

„Dieser Hurrikan könnte uns sowieso eine Menge Ärger einbringen“, meinte nun einer der anderen Männer. „Die Küstenwache und die Marine werden jetzt jedes verfügbare Schnellboot und Flugzeug in dieses Gebiet jagen, um nach Überlebenden Ausschau zu halten. Ich bin überhaupt nicht scharf darauf, denen zu begegnen. Die stellen nämlich für meinen Geschmack zu viele Fragen. Und die lassen sich auch von unseren Waffen nicht beeindrucken.“

„Glaubst du, daran hätte ich nicht gedacht, Zachary?“, gab Bruce zurück. „Ich bin nicht umsonst euer Anführer. Vom Meer aus kann man unsere Jacht nicht erkennen, weil wir hinter der südlichen Landzunge ankern. Okay, aus der Luft müsste das Schiff zu erkennen sein. Aber ich glaube nicht, dass die Marineflieger so weit südöstlich der Küste noch nach Hurrikanopfern suchen. Der Wirbelsturm hat doch eine ganz andere Richtung genommen, bevor er das Festland erreicht hat. Und diese Insel hat noch nicht mal einen Namen. Es gibt keinen Grund, anzunehmen, dass hier irgendwelche Überlebenden sind.“

Wenn du wüsstest, dachte Emily grimmig. Immerhin hatte sie jetzt die Information, dass sie sich auf einer Insel befand. Das gefiel ihr gar nicht, denn auf Hilfe konnte sie wohl kaum hoffen. Wenn dieser Bruce recht hatte, dann würden die Behörden ihre Suchaktion nicht auf dieses Gebiet ausdehnen. Das waren nicht gerade rosige Aussichten. Emilys einzige Hoffnung bestand in der Motorjacht der Raubtaucher. Sie musste sich an Bord schleichen und irgendwie versuchen, die Küstenwache zu alarmieren. Leider konnte Emily nicht mit einem Bootsmotor umgehen, sonst hätte sie sich mit der Jacht davonmachen können, während die Kerle auf einem Tauchgang waren.

Zunächst würde sie das Motorboot überhaupt erst mal finden und checken müssen, ob nicht doch eine Wache an Bord war. Emily wollte sich gerade wieder leise davonschleichen, als ihr plötzlich jemand von hinten eine Hand auf den Mund legte.