2. KAPITEL

Emilys düstere Laune verbesserte sich schlagartig, als der Greyhound-Bus die Stadtgrenze von Flamingo erreichte. Emily fand es lustig, dass der Ort nach den storchartigen rosa Vögeln benannt war, die sie schon als Kind geliebt hatte. Wie konnte man schlechter Stimmung sein, wenn man ein Städtchen namens Flamingo erreichte?

Doch hauptsächlich war Emily gut drauf, weil ihre Tauchferien in greifbare Nähe rückten. Während der stundenlangen Fahrt im Überlandbus von Orlando nach Flamingo war sie immer wieder von ihren Ängsten und Sorgen geplagt worden. In der Nacht zuvor hatte Emily davon geträumt, in der Todeszelle zu sitzen. Dann war sie von bewaffneten Wärtern abgeholt worden, die sie zu ihrer Hinrichtung bringen wollten. In ihrem Albtraum hatte man sie auf einem hölzernen Lehnstuhl festgeschnallt. Doch bevor die Spritze mit dem tödlichen Gift in ihren Arm gejagt wurde, war Emily schreiend aufgewacht.

Die Mordanklage hatte sie seelisch doch mehr belastet, als sie es sich eingestehen wollte. Vom Verstand her wusste Emily, dass die Polizei nur sehr dürftige Beweise gegen sie in der Hand hatte. Trotzdem war ihr fast die ganze Fahrt von ihren Ängsten vermiest worden.

Aber daran dachte sie nicht mehr, als der Bus sich langsam der Endstation näherte und schließlich zum Halten kam.

„Flamingo, Florida, alles aussteigen!“, rief der Fahrer.

Das ließ sich Emily nicht zweimal sagen. Sie griff nach ihrer Reisetasche und sprang hinaus in den hellen Sonnenschein. Da sie in Florida geboren und aufgewachsen war, überraschte sie das schöne Wetter nicht. Doch es kam ihr so vor, als ob es hier am Meer noch wärmer und schöner war als in ihrer Heimatstadt, die tiefer im Landesinneren lag.

Tatendurstig schlenderte Emily hinunter zum Hafen. Es war nicht wirklich schwer, sich in dem kleinen Ort zurechtzufinden. Außerdem hatte Emily sich bereits im Internet angeschaut, in welche Richtung sie gehen musste. Flamingo verdankte seine Existenz vermutlich hauptsächlich dem Hafen, der heutzutage nur noch von Segelbooten und Motorjachten angesteuert wurde. Jedenfalls konnte Emily keine Frachter oder Kriegsschiffe erkennen, als sie wenig später den Pier erreichte. Lediglich ein Patrouillenboot der US Coast Guard tuckerte gerade langsam aufs offene Meer hinaus.

Emily brauchte nicht lange, bis sie das Boot der Tauchschule gefunden hatte. Die Fortuna lag fast am Ende des Piers. Sie war eine blütenweiße Motorjacht mit Platz für maximal zehn Personen an Bord. Emily lächelte, als sie den in goldfarbenen Buchstaben ans Heck gemalten Schiffsnamen sah. Fortuna, die römische Glücksgöttin. Emily hoffte, dass auch ihre Pechsträhne nun ein Ende haben würde.

Sie ging an Bord und wurde sofort von einem alten Schwarzen begrüßt, der gerade das Deck wischte. Er war so herzlich zu ihr, als ob er Emily schon seit ewigen Zeiten kennen würde.

„Willkommen auf der Fortuna, kleine Miss! Ich bin Sam – Matrose, Koch, Animateur, Tauchassistent, Maschinist und Seelentröster in einer Person. Die Mannschaft der Fortuna besteht sozusagen aus mir. Und mit wem habe ich das Vergnügen?“

Emily lächelte Sam an und nannte ihren Namen. Er gab ihr die Hand.

„Emily Price also. Hier an Bord reden wir uns alle mit dem Vornamen an. Deine Kabinen-Kameradinnen sind auch schon eingetroffen und richten sich gerade häuslich ein. Nur Mr Kendall möchte mit seinem Nachnamen angesprochen werden. Aber das ist schon okay, denn er ist ja der Skipper und Tauchlehrer und überhaupt der einzige Mann mit Durchblick auf der Fortuna.

„Was spinnst du da schon wieder für Seemannsgarn, Sam?“

Ein Mann war hinter Emily aus der Kabine getreten. Sie hatte ihn nicht kommen hören und zuckte deshalb erschrocken zusammen. Jetzt drehte Emily sich zu ihm um.

Der Mann war schätzungsweise zwischen vierzig und fünfzig, hochgewachsen und athletisch. Er trug Jeans und ein dunkelblaues T-Shirt mit der Aufschrift DIVING SCHOOL KENDALL. Das Haar und der Vollbart waren von einem ergrauenden Blond, die Haut war sonnengebräunt. Ein strenger Ausdruck lag in seinen blauen Augen, doch seine Lachfältchen bewiesen, dass er auch lockerer sein konnte.

„Ich bin Kapitän Ralph Kendall, der Inhaber dieser Tauchschule“, stellte er sich selbst vor.

„Emily Price.“

Sie gaben sich die Hand. Bildete Emily es sich nur ein, oder schaute Kendall sie auf eine seltsame Art an? Ob er mit ihr flirten wollte? Oder ging nur ihre Fantasie mit ihr durch?

„Sam erzählt viel, wenn der Tag lang ist“, bemerkte Kendall und klopfte dem Schwarzen freundschaftlich auf die Schulter. „Aber es ist wichtig, dass du dich an die Regeln hältst, Emily. Besonders beim Tauchen.“

„Das werde ich tun, Sir.“

„Wenn du das ehrlich meinst, dann wirst du keine Probleme mit mir bekommen, sondern hier in diesen zwei Wochen viel lernen. Ich schlage vor, dass du zunächst deine Kabine beziehst. Sie ist unter Deck auf der Backbord-Seite, also links.“

Emily nickte. Sie war schon öfter auf Schiffen gewesen, allerdings noch nie auf einer Motorjacht, die zu einer Tauchreise auslaufen sollte. Sie nahm ihre Reisetasche und stieg die steile Treppe hinunter. Außer ihrem eigenen Neoprenanzug hatte sie keinerlei Ausrüstung dabei. Die übrigen Tauchutensilien wurden von der Kendall Diving School zur Verfügung gestellt.

Die linke Kabinentür stand halb offen. Emily klopfte kurz gegen das Teakholz und trat dann ein. Sie erblickte eine junge Frau, die in Shorts und Tanktop auf einer Koje kauerte und sich den linken Fuß in den Nacken gelegt hatte.

Diese Position sah für Emily ziemlich unbequem aus. Aber ihre neue Kabinenkameradin strahlte sie völlig entspannt an.

„Hallo, ich bin Melanie Cabot.“

„Hi, mein Name ist Emily Price. Bist du Yoga-Fan, Melanie?“

„Erraten. Ich mache das seit Jahren, und es tut mir total gut. Hast du schon Tauch-Erfahrung, Emily?“

„Yep.“

„Hey, das ist super. Ich bin Anfängerin, aber ich kann meinen ersten Tauchgang kaum erwarten. Ich stelle es mir wahnsinnig spannend vor, diese Unterwasserwelten kennenzulernen. Die bunten Tropenfische und die Korallenformationen im karibischen Meer. Es ist doch unglaublich, dass so eine Schönheit sozusagen direkt vor unserer Haustür liegt.“

Melanie kam aus dem Schwärmen gar nicht mehr heraus. Emily stellte ihr Gepäck auf einer freien Koje ab. Sie hatte zunächst geglaubt, mit Melanie in der Kabine allein zu sein. Aber dann öffnete sich eine schmale Tür, die offenbar zur Nasszelle gehörte. Von dort kam eine Rothaarige mit grünen Katzenaugen herein und nickte Emily zu.

„Vivian Harlan. Und du bist …?“

„Emily Price.“

„Ich bin froh, dass dieser Tauchlehrgang überhaupt zustande gekommen ist“, meinte Vivian. „Kapitän Kendall läuft nämlich erst ab einer Mindestteilnehmerzahl von sechs Leuten aus. Und bei der momentanen Lage war es überhaupt nicht klar, ob sich genug Tauchfans bereitfinden würden.“

„Was meinst du denn mit ‚momentaner Lage‘?“, hakte Emily nach. Vivian schaute sie verblüfft an, als ob Emily hinter dem Mond leben würde.

„Siehst du denn keine Nachrichten im Fernsehen?“, fragte Vivian ungläubig.

Emily schüttelte den Kopf. Seit sie selbst unter Mordverdacht stand, wollte sie nichts mehr von Verbrechen und anderen negativen Meldungen wissen. Melanie pflichtete ihr bei.

„Ich kann Emily verstehen. Ich schaue mir diesen ganzen Mord und Totschlag auch gar nicht mehr an. Das schafft nur negative Energie, die meine innere Entwicklung blockiert.“

Mit diesen Worten ließ sich Melanie von der Koje gleiten und machte einen Kopfstand. Verständnislos schüttelte Vivian den Kopf.

„Na schön, wie ihr meint. Dann wollt ihr beiden also nicht wissen, was hier in der Nähe neulich passiert ist?“

„Doch, schon“, sagte Emily, während Melanie offenbar ihre Ohren auf Durchzug gestellt hatte und weghörte.

„Also, eine junge Taucherin wurde ermordet. Ihr Name war Tina Rigby. Sie war Anfang zwanzig, also ungefähr in unserem Alter. Die Coast Guard hat ihre Leiche auf offener See gefunden, zehn Seemeilen von der Südküste Floridas entfernt. Zuerst glaubte man an einen Unfall. Aber sie wurde mit einer Harpune umgebracht. So etwas tut niemand aus Versehen. Und falls doch, dann hätte er versucht, sie zu einem Arzt zu bringen.“

„Das ist ja schrecklich! Weiß man schon, wer der Mörder ist?“

Vivian schüttelte den Kopf.

„Die Coast Guard und die Polizei untersuchen den Fall. In der Zeitung stand, dass Tina Rigby keine Feinde hatte. Die Behörden gehen wohl davon aus, dass Raubtaucher eine lästige Augenzeugin aus dem Weg schaffen wollten. Dazu passt auch, dass die Mordwaffe eine Harpune war und Tina unter Wasser umgebracht wurde. Beides deutet doch auf Raubtaucher hin, finde ich.“

„Raubtaucher?“

„Ja, so was gibt’s. Das sind Leute, die illegal nach Schätzen suchen. Alles, was an Schiffswracks innerhalb der Drei-Meilen-Zone vor der Küste liegt, gehört eigentlich dem amerikanischen Staat. Wenn man dort zum Beispiel Goldmünzen entdecken würde, dann müssten die eigentlich ins Museum.“

„Ah, ich kapiere. Aber diese Raubtaucher scheren sich nicht darum und wollen den Gewinn in die eigene Tasche scheffeln. Sie suchen ohne Lizenz unter Wasser nach Schätzen?“

„Genau.“

„Wieso wurde die Leiche eigentlich gefunden?“, wollte Emily wissen. „Sinkt ein toter Körper nicht auf den Meeresgrund?“

„Normalerweise schon. Aber es gibt hier sehr starke Strömungen. Außerdem hat Tina wohl irgendwie ihre Weste verloren, daher hatte sie nur noch einen sehr geringen Abtrieb. Jedenfalls war sie schon zwei Tage tot, als die Männer von der Coast Guard sie entdeckt haben.“

„Wenn ihr weiter über solche grausigen Dinge reden wollt, gehe ich wohl besser an Deck“, stöhnte Melanie. „Sonst kriege ich noch Albträume.“

„Nein, mir reicht es auch“, sagte Emily. Sie hatte vollstes Verständnis für Melanie, denn der Gedanke an ihre eigenen düsteren Visionen in der Nacht zuvor war grässlich genug.

„Na, jedenfalls habe ich keine Angst vor Raubtauchern“, sagte Vivian abschließend. „Kapitän Kendall ist einer der erfahrensten Tauchlehrer an der Südküste Floridas. Er kennt hier alle Gefahren, von Salzwasser-Alligatoren über Hurrikans bis zu Raubtauchern. Wenn es jemanden gibt, bei dem wir uns sicher fühlen können, dann ist er es.“

Emily konnte Vivians Worten nur zustimmen, obwohl sie den Kapitän nur kurz kennengelernt hatte. Kendall strahlte Autorität, aber auch Verlässlichkeit aus. Jedenfalls hatte Emily keine Probleme damit, sich ihm anzuvertrauen.

Die drei Frauen räumten ihr Gepäck ein und plauderten dabei weiter miteinander. Es stellte sich heraus, dass Emily als Einzige von ihnen aus Florida stammte. Melanie war Texanerin, Vivian lebte in South Carolina.

„Ich hoffe, es gibt bald was zu essen“, stöhnte Melanie. „Diese Seeluft macht mich total hungrig.“

„Aber die Fortuna ist doch noch nicht mal ausgelaufen“, erwiderte Vivian.

„Na und? Trotzdem weht hier an der Küste eine frische salzige Brise.“

„Jedenfalls können wir den Hafen nicht verlassen, bevor die Typen aufgekreuzt sind.“

„Du meinst die männlichen Tauchschüler?“, vergewisserte sich Emily.

„Klar, von denen rede ich. Oder habt ihr schon einen von ihnen gesehen?“

Emily und Melanie schüttelten gleichzeitig den Kopf. In diesem Moment klopfte es an der Tür, und sie hörten von draußen Sams Reibeisenstimme.

„Ladys? Es gibt bald Dinner, und außerdem sind die drei Tauchschüler im Anmarsch.“

„Das Universum hat meine Gebete erhört“, seufzte Melanie.

„Hast du um Essen oder um tolle Typen gefleht?“, fragte Vivian grinsend. Sie lachten alle drei. Dennoch schlug Emilys Herz schneller, als sie gleich darauf gemeinsam mit Melanie und Vivian an Deck ging. Natürlich war sie auch neugierig auf die drei, obwohl sie nach ihren Erfahrungen mit Jim Meadows eigentlich die Nase voll von Männern hatte.

Kaum hatte sie an ihren Exfreund gedacht, als sich eine dunkle Wolke in ihrer Seele auszubreiten schien. Ansonsten war es ihr sehr gut gegangen, seit sie die Planken der Fortuna betreten hatte. Emily presste die Lippen aufeinander und zwang sich dazu, die Schatten der Vergangenheit zu verdrängen.

Emily, Melanie und Vivian lehnten sich auf dem Achterdeck gegen die Reling und musterten mehr oder weniger unauffällig die drei Tauchschüler.

„Ich komme mir vor wie bei einem Blind Date“, wisperte Melanie.

„Kann es sein, dass du etwas missverstanden hast, Süße? Das hier ist ein Tauchlehrgang und kein Flirtkursus“, gab Vivian trocken zurück.

„Okay, aber man kann ja das eine mit dem anderen verbinden, oder vielleicht nicht? Was meinst du dazu, Emily?“

Melanie musste Emilys Namen noch ein zweites Mal nennen, bevor diese sich angesprochen fühlte. Einer von den drei Typen gefiel ihr nämlich besonders gut. Durchtrainiert und athletisch waren sie alle, aber das konnte man von angehenden Tauchern gewiss auch erwarten. Doch dieser Dunkelhaarige gefiel ihr viel besser als der Strohblonde und der Schwarzgelockte. Er hatte etwas Besonderes an sich, das nur schwer zu beschreiben war. Aber auf jeden Fall berührte schon sein bloßer Anblick Emilys Herz. Wann hatte sie das letzte Mal so empfunden?

Bei Jim Meadows.

Die Erinnerung an ihren stalkenden Exfreund verdarb Emily sofort die gute Stimmung. Lief sie gerade Gefahr, wieder auf so eine selbstverliebte Klette wie Jim hereinzufallen? Das durfte ihr auf keinen Fall noch einmal passieren. Es war einfach zu viel geschehen. Ein zweites Mal würde Emilys Nervenkostüm einen solchen Dauerstress nicht aushalten, daran gab es keinen Zweifel.

Die drei Typen traten von der Gangway an Deck und wurden sofort von Kapitän Kendall und Sam begrüßt.

Der strohblonde schlaksige Tauchschüler stellte sich als Lee Simmon vor, der Lockenkopf war Kyle Reed und der Dunkelhaarige mit dem gewissen Etwas hieß Andy Jackson. Auf seinem linken Unterarm bemerkte Emily ein Tattoo, das ihr gar nicht gefiel. War er etwa Mitglied einer Gang? Hatte sie vielleicht wirklich eine Vorliebe für böse Jungs? Würde sie wieder an so einen Typen wie Jim geraten? Sie war verwirrt.

Kendall machte die Neuankömmlinge mit den drei Frauen bekannt, dann rief Sam: „Und nun alle Mann zu Tisch! Es gibt Catfish-Eintopf nach altem Seminolen-Geheimrezept.“

In der Messe war bereits für alle gedeckt. Emily glaubte zunächst, vor Aufregung und Nervosität keinen Bissen herunterbekommen zu können. Doch die scharf gewürzte Suppe schmeckte fantastisch. Allerdings trieb ihr nicht nur das Chili im Catfish-Eintopf den Schweiß auf die Stirn, sondern auch das Tischgespräch.

„Ich habe übrigens diese Tina Rigby gekannt“, sagte Lee Simmon. „Ihr wisst schon, die Taucherin, die ermordet wurde.“

„Wirklich?“, fragte Kapitän Kendall mit unbewegter Miene. „Und woher, wenn ich fragen darf?“

„Von der University of Florida, Sir. Dort haben wir uns in einem Tauchkursus beim Universitätssport kennengelernt. Allerdings haben wir nur im Swimmingpool geübt.“

„Dieser Kursus hat leider überhaupt nichts genutzt“, gab Kendall hart zurück. „Ich habe in der Zeitung gelesen, dass die Polizei Tina Rigbys Boot gefunden hat. Sie ist offenbar ganz allein zu einem Tauchgang aufgebrochen. Das verstößt gegen alle Regeln.“ Er räusperte sich. „Herrschaften, wer so etwas tut, spielt mit seinem Leben. Ich bedaure den Tod dieser jungen Frau, aber er überrascht mich nicht wirklich.“

„Tina Rigby wurde doch ermordet“, gab Vivian zu bedenken. „Das konnte man wirklich nicht vorhersehen, oder?“

„Völlig richtig. Aber mit einem oder mehreren Begleitern hätte sie vielleicht noch eine Überlebenschance gehabt. Ich weiß nicht, ob dieser Harpunentreffer sofort tödlich war. Wenn man sie rechtzeitig in ein Hospital geschafft hätte, wäre die Sache vielleicht anders ausgegangen.“

„Hat die Polizei den Täter schon gefasst?“, fragte Andy.

„Bisher noch nicht“, erwiderte Lee. „Wahrscheinlich ist er zu clever und hat keine Spuren hinterlassen.“

„Vielleicht hat der Killer auch einfach nur Glück gehabt. Man verdächtigt illegale Raubtaucher“, sagte Kendall. „Es ist wirklich eine Schande, dass unser Sport durch solche Dreckskerle in Verruf gerät. Selbst wenn diese Schurken nicht für Tina Rigbys Tod verantwortlich sind – die Art, wie sie den Meeresboden nach irgendwelchen angeblich wertvollen Wracks absuchen, stinkt wirklich zum Himmel. Aber wir werden uns dadurch die Freude am Tauchen nicht nehmen lassen, Herrschaften. Morgen früh laufen wir bei Sonnenaufgang aus, die nächsten drei Tage bleibt die Fortuna dann zunächst auf See.“

„Das ist meine erste richtige Schiffsreise“, freute sich Melanie. „Und könnten wir bitte aufhören, über diesen Mord zu reden? Dadurch wird so viel negative Energie aufgebaut.“

„In Ordnung, einverstanden“, sagte der Kapitän. „Mich würde viel mehr interessieren, welche Vorkenntnisse ihr beim Tauchen habt.“

Melanie und Kyle waren noch nie mit Geräten getaucht, während alle anderen mehr oder weniger Erfahrung hatten. Diesen Lee Simmon, der die ermordete Tina Rigby gekannt hatte, fand Emily ganz sympathisch. Er war unscheinbarer als Andy, der in der Zwischenzeit damit begonnen hatte, mit Emily zu flirten. Oder bildete sie sich das nur ein? Sie gab sich vorsichtshalber cool und desinteressiert, so wie dieser Kyle Reed. Der saß so steif am Tisch, als ob er einen Stock verschluckt hätte.

Nach dem Essen bezogen die Typen ihre Kabine auf der gegenüberliegenden Seite des Gangs, und auch die drei Taucherinnen zogen sich für die Nacht zurück.

„Diesem Andy hast du ja ganz schön die kalte Schulter gezeigt“, sagte Melanie augenzwinkernd zu Emily. „Stehst du etwa auf ihn?“

Emily merkte, dass sie errötete. Sie fühlte sich ertappt. Melanie hatte sie durchschaut, obwohl die beiden Frauen einander erst so kurze Zeit kannten.

„Quatsch, wie kommst du denn darauf?“

Melanie hob einfach nur die Schultern und lächelte wissend.

„Mir gefällt Kyle“, gestand Vivian. „Stille Wasser sind oft tief, denkt an meine Worte.“

„Mir sind die drei Milchbärte völlig egal“, behauptete Melanie. „Erstens habe ich meinen Freund daheim in Texas, und zweitens interessieren mich nur die tiefen Wasser, in denen wir ab morgen tauchen werden. Ich bin so aufgeregt, dass ich bestimmt nicht einschlafen kann.“

„Sobald wir mit dem Tauchtraining begonnen haben, wird sich das auch bei dir ändern“, sagte Emily. „Wenn ich mich körperlich so richtig ausgepowert habe, dann schlafe ich wie ein Stein.“

„Und ich trinke eine heiße Zimtmilch vor dem Einschlafen, dann kriege ich auch keine bösen Träume“, ergänzte Vivian. „Obwohl ich an solchen Unsinn wie Traumdeutung sowieso nicht glaube.“

„Ihr seid so schrecklich unromantisch“, seufzte Melanie. „Ich bin jedenfalls todmüde nach diesem aufregenden Tag.“

Das konnte Emily von sich nicht behaupten. Hellwach lag sie wenig später im Dunkeln in ihrer Koje und starrte gegen die Kajütendecke. Der Mond schien auf die Wasseroberfläche draußen vor dem Bullauge, und durch die Reflexion wurden seltsame fremdartige Lichtmuster in den engen Raum geworfen.

Es war nicht das erste Mal, dass Emily auf einem Schiff übernachtete. Als ihre Großeltern noch gelebt hatten, hatten sie gemeinsam mit Emily und ihrer Mutter eine Kreuzfahrt nach Jamaika gemacht. Dieser Trip gehörte zu Emilys schönsten Kindheitserinnerungen. Doch damals war sie noch unbeschwert von schlimmen Erlebnissen gewesen und hatte wie ein Stein geschlafen. Jedenfalls kam es ihr im Rückblick so vor. Auf dem riesigen Passagierdampfer hatte man die schlingernden Schiffsbewegungen allerdings nicht so stark gespürt wie auf der kleinen Fortuna. Allmählich geriet Emily doch in eine Art Dämmerzustand, bis sie plötzlich von einem dumpfen Geräusch hochgeschreckt wurde.

„Habt ihr das gehört?“, flüsterte sie.

Es kam keine Antwort, nur regelmäßige Atemzüge aus den Kojen ihrer beiden Mitbewohnerinnen. Melanie, die angeblich kein Auge zubekommen konnte, schlief ebenso tief und fest wie Vivian. Nur Emily war immer noch wach und vernahm nun auch das laute Pochen ihres Herzens.

Was war dort draußen los? Das Geräusch ertönte zum zweiten Mal. Emily konnte es überhaupt nicht einordnen. Ob jemand an Bord gesprungen war? Aber wer sollte das tun? Und warum? Wer hatte ein Interesse daran, sich auf die Fortuna zu schleichen?

Jim Meadows.

Emily stockte der Atem, als sie an ihren Exfreund dachte. Sie wollte diese Vorstellung nicht zulassen, aber alles sprach dafür – oder? Es gab keinen Beweis für seinen Tod. Emily hatte ihn nicht getötet. Falls es niemand anders getan hatte, dann konnte Jim seine eigene Ermordung genauso gut inszeniert haben. Diesem Typen war wirklich alles zuzutrauen, das wusste sie.

Wäre das nicht ein teuflisch-genialer Plan?

Wenn alle Menschen Jim Meadows für tot hielten, dann konnte er in aller Ruhe weiterhin Emily nachsteigen und seine finsteren Pläne verfolgen. Gewiss hatte er auch herausbekommen, dass sie einen Taucherurlaub machte. Das war ja nun wirklich kein Staatsgeheimnis. Jim fand die irrsinnigsten Sachen heraus, das hatte er bereits während der furchtbaren Monate bewiesen, als er Emily mit seinem Stalking den letzten Nerv geraubt hatte. Dumm war er nicht, ganz im Gegenteil. Emilys Ex hatte sich einiges einfallen lassen, um ihr das Leben schwer zu machen.

Wenn er nun wirklich an Bord war?

Emily schlug die Bettdecke zurück und stand auf. Die Eisenplatten unter ihren nackten Fußsohlen waren kalt. Sie vergewisserte sich, dass die Kabinentür abgeschlossen war. Durch das Bullauge konnte niemand hereinkommen, dafür war es zu eng. Oder? Konnte man es vielleicht von außen öffnen, um eine Bombe oder einen Brandsatz in die Kabine zu werfen?

Du spinnst doch total!, schalt Emily sich selbst. Es gab nicht den geringsten Beweis für ihre Befürchtungen. Jim hatte sie wirklich an den Rand eines Nervenzusammenbruchs getrieben, das wurde ihr jetzt erst so richtig klar. Doch auch wenn sie sich selbst zur Ordnung rief – so ganz konnte Emily ihre Beklemmungen nicht unterdrücken. Trotzdem gelang es ihr irgendwann, endlich einzuschlafen.