8. KAPITEL

Emily blieb vor Schreck beinah das Herz stehen. Sie hatte ihren Widersacher nicht herankommen hören. Doch nun reagierte sie instinktiv, überwand die Schrecksekunde bemerkenswert schnell. Sie wirbelte herum und zog gleichzeitig das Fischermesser aus der Tasche, wollte ihr Leben so teuer wie möglich verkaufen.

Doch dann hielt sie abrupt in der Bewegung inne und riss ungläubig die Augen auf. Aber es war kein Traum. Der Mann, der sich ihr lautlos genähert hatte, war Andy!

Ein Irrtum war unmöglich. Er trug dieselben Kleider wie bei ihrer letzten Begegnung auf der Fortuna. Inzwischen waren seine Klamotten zerrissen, sein Kinn war unrasiert, und er hatte einige blutige Schrammen im Gesicht und auf den Unterarmen. Aber es war ganz eindeutig Andy, der vor ihr stand.

Emily rang nach Atem. Sie unterdrückte einen Jubelschrei, denn die Raubtaucher waren ja in Hörweite. Stattdessen fiel sie Andy um den Hals und klammerte sich an ihn, als ob sie ihn nie wieder loslassen wollte. Seine Kleidung war noch feucht, er roch nach Salzwasser und Motorenöl. Aber was machte das schon aus! Er lebte, sie konnte die Wärme seines Körpers spüren. Andy gab ihr einen Kuss, dann legte er sich lächelnd einen Zeigefinger an die Lippen. Gemeinsam schlichen die beiden sich vom Lagerplatz der Verbrecher fort. Die Kerle konzentrierten sich momentan ohnehin auf das Zerteilen des Spanferkels. Das konnte man jedenfalls aus dem Lachen und den Gesprächsfetzen entnehmen, die an Emilys und Andys Ohren drangen.

Emily und Andy eilten durch das Unterholz, bis sie sicher waren, von den Raubtauchern nicht mehr gehört werden zu können. Dann ließen sie sich zusammen zu Boden sinken.

„Ich kann es immer noch nicht glauben, dass wir uns wiedergefunden haben“, sagte Emily leise und strich über Andys stopplige Wange. „Ich hatte Angst, du … du würdest nicht mehr leben.“

„Das ging mir genauso. Ich dachte, ich hätte dich für immer verloren. Während des Hurrikans blieb gar keine Zeit für Sorgen und Grübeleien. Da war es anstrengend genug, einfach nur am Leben zu bleiben. Später, als sich die See einigermaßen beruhigt hatte, trieb ich halb ohnmächtig im Wasser. Da hatte ich dann genug Zeit zum Nachdenken. Es war schrecklich so allein dort draußen.“

„Dann weißt du also nicht, was aus den anderen geworden ist?“

„Nicht wirklich. Als ich über Bord ging, habe ich noch kurz Vivian gesehen. Und ich habe bemerkt, wie du Melanie aus der Kabine gezogen hast. Doch du bist irgendwie abgerutscht und mit dem Kopf auf die Reling geschlagen. Ich war nicht weit von dir entfernt, aber zu weit, um dir helfen zu können. Ich habe versucht, in deine Nähe zu kommen. Doch du bist einfach in einer Welle verschwunden. Dann herrschte nur noch Chaos. Ich sah dich noch einmal von Weitem. Aber dann hab ich dich leider aus den Augen verloren.“ Er schüttelte den Kopf. „Und du, Emily? Bist du allein hier?“

„Ja, abgesehen von diesen Schurken, die ich belauscht habe. Ich bin ihnen ausgewichen, genau, wie du es getan hast. Das sind die Raubtaucher, die auf uns geballert haben, wusstest du das?“

„Echt? Nein, ich hatte keine Ahnung. Ich habe Männerstimmen gehört und mich vorsichtshalber erst mal versteckt, als ich ihre Waffen gesehen habe. Ich dachte mir, dass diese Typen wohl kaum harmlose Touristen sein werden. Hast du die Tätowierungen von dem einen Kerl gesehen? Das sind Gang-Tattoos, wie man sie bei den Banden von Miami sieht. Und mit solchen Leuten legt man sich besser nicht an. Jedenfalls bin ich um ihren Lagerplatz herumgeschlichen und konnte es kaum glauben, als ich dich gesehen hab. Na ja, den Rest kennst du ja.“

„Wir sind hier auf einer Insel, so viel steht fest. Das habe ich schon herausfinden können. Das Eiland hat keinen Namen und ist nicht bewohnt, soweit ich weiß. Die Motorjacht der Raubfischer soll irgendwo im Schutz einer Landzunge ankern. Jedenfalls haben sie darüber gesprochen. Wir könnten das Boot klauen und damit entkommen, aber leider kann ich nicht mit der Maschine umgehen.“

„Aber ich. Mein Grandpa hatte eine kleine Motorjacht, mit der er öfter zum Hochseefischen rausgefahren ist. Deshalb liebe ich auch das Meer, obwohl ich ja in Minnesota aufgewachsen bin. Doch die Familie meiner Mutter stammt aus North Carolina. Wenn mein Großvater geangelt hat, musste ich das Boot steuern und auch navigieren. Es ist zwar schon ein paar Jahre her seit dem letzten Trip, aber so was verlernt man nicht. Jedenfalls käme es auf einen Versuch an.“

Emily schöpfte neue Hoffnung. Sie war bereits überglücklich, weil sie Andy wiedergefunden hatte und ihm offenbar nichts fehlte. Wenn ihr mit ihm gemeinsam die Flucht gelang, wäre das natürlich noch viel besser.

„Weißt du, wo die Jacht der Raubtaucher liegt, Andy? Hast du die Landzunge gesehen?“

Er schüttelte den Kopf.

„Nein, aber wenn wir am Strand entlanggehen, werden wir das Boot wohl früher oder später finden. Ich musste eben meine ganze Selbstbeherrschung aufbringen, um nicht mitten zwischen die Verbrecher zu springen und ihnen ihr Spanferkel zu klauen. Ich weiß nicht, wann ich das letzte Mal was gegessen hab.“

Emily schaute ihren Freund mitleidig an. Sie erinnerte sich, wie hungrig sie selbst noch vor Kurzem gewesen war. In der Aufregung des Wiedersehens hatte sie völlig vergessen, Andy etwas Essbares anzubieten.

„Mit Spanferkel kann ich nicht dienen“, sagte sie schnell. „Aber falls du Corned Beef magst, bist du herzlich eingeladen. Ich habe nämlich das Wrack eines Fischerboots gefunden, und dort lagert reichlich Büchsenfleisch. Und Cola gibt es auch noch. Ich könnte mir vorstellen, dass du auch sehr durstig bist.“

„Ja, und deine Einladung finde ich super. Ich nehme an, da hast du dir auch diese Hose und dieses Shirt ausgeliehen? Jedenfalls ist das eine tolle Idee von dir. Da sage ich nicht Nein, Emily. Mit vollem Magen kann ich den Motor der Raubtaucher-Jacht bestimmt doppelt so gut bedienen.“

Hand in Hand entfernten sie sich immer weiter vom Lagerplatz der Kriminellen. Emily hatte sich auf dem Hinweg an drei besonders dicht beieinanderstehenden Palmen orientiert. So war es kein Problem, direkt auf das Wrack der Esperanza zuzulaufen.

„Hast du noch andere Überlebende gesehen, Emily?“

Ihre Miene verdüsterte sich, bevor sie antwortete.

„Allerdings. Ich habe den Kapitän getroffen, bevor die Strömung uns wieder getrennt hat. Und du wirst niemals erraten, was er mir gestanden hat.“

„Hat er dir etwa eine Liebeserklärung gemacht? Habe ich Grund zur Eifersucht?“, fragte Andy mit einem halb amüsierten, halb ernsten Gesichtsausdruck. Und das war auch gut so. Emily spürte, dass Andy in sie verliebt war. Aber seine Gefühle waren anders als die von ihrem Ex. Jim hatte Emily mit Haut und Haaren für sich vereinnahmen wollen. Sie konnte sich nicht vorstellen, dass Andy sich so verhalten würde.

„Eifersucht? Liebeserklärung? Nein, das nicht gerade.“

Emily schüttelte heftig den Kopf. Und dann berichtete sie ihrem Freund, was der Kapitän ihr gebeichtet hatte. Andy fielen beinahe die Augen aus dem Kopf.

„Kendall ist also dein Vater? Das ist ja unglaublich!“

„Ja, aber es muss einfach stimmen. Alles passt, Andy. Kendall wusste von meiner Zickenphase, die ich mit vierzehn Jahren hatte. Ihm war auch bekannt, dass meine Mom bei der Stadtverwaltung arbeitet. Er nennt sie Brenda, und es klingt so vertraut, wenn er von ihr spricht. Er ist mein Dad – und jetzt hoffe ich nur, dass er noch lebt.“

„Das wird ganz gewiss so sein.“ Andy versuchte, Zuversicht zu verbreiten. „Kendall ist schließlich ein erfahrener Seemann, der lässt sich selbst durch einen so schlimmen Hurrikan nicht unterkriegen. Du wirst es schon sehen. Vielleicht ist er längst von einem Seenotrettungskreuzer aufgefischt worden und befindet sich auf dem Weg hierher.“

Emily erwiderte nichts. Sie wusste, dass sie sich nicht verrückt machen durfte. Schließlich hatte sie ja auch Andy lebendig wiedergesehen. Genauso war es auch möglich, dass es ihrem Dad ebenfalls gut ging. Emily und Andy näherten sich dem Wrack der Esperanza. Plötzlich blieb Emily wie angewurzelt stehen. Sie fühlte sich, als hätte sie soeben einen Schlag in die Magengrube bekommen. Verblüfft schaute Andy sie an.

„Was ist denn los?“

„Die Fußspur, Andy.“ Ihre Stimme war nur noch ein heiseres Flüstern. „Die ist nicht von dir, oder?“

„Nein, ich war noch gar nicht an diesem Teil des Strandes. Ich hatte angenommen, die Abdrücke im Sand wären von dir.“

Emily schüttelte heftig den Kopf und stellte ihren Fuß neben die vorhandene Spur. Hier war ein anderer Mensch gewesen, daran gab es keinen Zweifel mehr. Und die Fährte führte direkt zu dem gestrandeten Fischerboot.

„Was sollen wir nur tun?“, dachte Emily laut nach. „In der Kabine des Wracks liegen meine nassen Sachen, außerdem die leeren Coladosen und Fleischbüchsen. Wenn der Raubtaucher nicht völlig dumm ist, wird er Verdacht schöpfen – und seine Kumpane alarmieren!“

„Noch wissen wir doch gar nicht, ob dieser Typ zu den Verbrechern gehört“, beschwichtigte Andy sie. „Ich nehme jedenfalls an, dass es ein Mann ist. Frauen mit einer solchen Schuhgröße trifft man doch eher selten.“

„Natürlich ist es einer der Raubtaucher, wer denn sonst?“, stieß Emily zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor. Sie fand, dass sie sich fast schon so hysterisch anhörte wie Melanie. Aber ihr Nervenkostüm litt allmählich unter dem Dauerstress. Außerdem hatte sie ja selbst erlebt, wozu die Raubtaucher fähig waren. Es war purer Zufall, dass die Kugeln der Verbrecher keinen Menschen auf der Fortuna verletzt oder gar getötet hatten.

„Hör zu!“ Andy fasste sie an den Oberarmen und redete beschwörend auf sie ein. „Es gibt keinen Beweis dafür, dass dieser Kerl ein Krimineller ist. Aber falls doch, dann schnappen wir ihn uns. Wir sind zu zweit, er ist allein. Wir können ihn überwältigen, fesseln und knebeln. Dann gewinnen wir Zeit – Zeit genug, um mit der Motorjacht der Verbrecher zu verschwinden. Wir dürfen nur jetzt nicht die Nerven verlieren.“

Emily schluckte.

„Ja, du hast recht. Mir wurde gerade bloß alles ein wenig zu viel. Dein Plan ist gut, Andy. Mit meinem Messer können wir den Verbrecher in Schach halten.“

Andy nickte anerkennend. Er hatte die Stichwaffe ja schon gesehen. Emily hatte sie gezogen, als er sie zuvor beim Belauschen der Raubtaucher überrumpelt hatte. Sie näherten sich dem Schiff. Der Sand verschluckte jedes Geräusch. Andy war genauso barfuß wie Emily. Sie kletterten an Bord und näherten sich auf Zehenspitzen dem Kabineneingang.

Klirren und Klappern waren zu hören. Es war also wirklich ein Eindringling in dem Wrack. Emilys Pulsschlag beschleunigte sich. Sie konnte nicht glauben, dass sie es mit einem harmlosen Schiffbrüchigen zu tun hatten. Emily war sicher, dass sich dort unten in der Kabine ein Krimineller befand. Andy und sie hatten nur eine Chance, und die lag in einem Überraschungsangriff.

Schritte erklangen. Jemand kam die wenigen Stufen aus der Kabine hinauf. Andy und Emily verständigten sich mit Gesten. Sie postierten sich links und rechts von dem Kabineneingang. Emilys Faust umklammerte den Messergriff, Andy hatte ein Stück Holz aufgehoben, das sich als Knüppel benutzen ließ.

Beide waren aufs Äußerste angespannt. Andy hob bereits sein Schlaginstrument. Da erschien der Kopf des Fremden in der Luke. Emily stieß langsam die Luft aus. Es war keiner von den Verbrechern, sondern …

„Lee!“, rief sie jubelnd aus. Auch Andy hatte seinen ehemaligen Tauchkollegen von der Fortuna erkannt und ließ den Knüppel fallen. Die Erleichterung stand ihm im Gesicht geschrieben.

„Emily? Andy?“, stammelte Lee. Er war durch die Begegnung offenbar ebenso überrumpelt worden wie die beiden. „Was macht ihr denn hier?“

„Wir sind auf dieser Insel gestrandet, wahrscheinlich genau wie du“, sprudelte Emily hervor. „Dort hinten sind Raubtaucher, denen wir auf keinen Fall in die Arme laufen dürfen, aber wir können wahrscheinlich ihre Motorjacht klauen, denn Andy kann mit dem Motor umgehen, und – hey, was soll das?“

Emily verstummte. Sie hatte bereits bemerkt, dass Lee nicht lächelte. Aber jetzt zog er auch noch eine schwere Signalpistole hinter seinem Rücken hervor und richtete die Schusswaffe auf Emily und Andy.