XI.  

Die Wiege der Drachen

Der Flug war weit und wurde unbehaglicher, je höher sie kamen. Am späten Nachmittag gab Alrick das Zeichen zum Landen. Das Licht wäre noch ausreichend gewesen, aber der Wind erschöpfte Mensch und Tier, sodass sie rasten mussten. Alrick hatte ein schmales Tal als Rastplatz gewählt, damit sie an den schroffen Seiten ein wenig Schutz vor dem Wind finden würden. So hoch oben war die Vegetation, was Bäume und Sträucher anging, schon etwas spärlich, aber weiches Gras gab es im Überfluss. Kaum hatten sie ihre Rucksäcke ins Gras gelegt, hörten sie leisen, näher kommenden Hufschlag.

„Wartet noch mit dem Auspacken!“, sagte Tibana verheißungsvoll. „Wenn wir Glück haben, werden wir die kommende Nacht mit Schutz und Behaglichkeit verbringen.“

Neugierig blickten die Kinder dem Geräusch entgegen und wagten kaum zu atmen, als plötzlich vier Zentauren im Galopp über die Wiese sprengten. Sie zügelten ihre Geschwindigkeit erst unmittelbar vor Tibana, die sich vor ihre Freunde gestellt hatte. Mit gesenkten Lidern betrachteten die Geschwister die muskulösen Körper der Zentauren, ihr langes, vom Wind zerzaustes Haar und die braunen Pferderücken.

„Unser Ruf ist scheinbar schon vorausgeeilt!“, sagte Tibana lächelnd. „Sei gegrüßt, Mirphak! Wie ich sehe, ist die alte Wunde bestens verheilt.“

„Danke der Nachfrage, Hüterin der Quelle. Das verdanke ich nur dir! Dies sind meine Gefährten Algol, Cauda und Prokyon. Wir sind gekommen, um euch ans Ratsfeuer zu bitten! Euch und die Menschenkinder.“ Er nickte Lilly, Flora und Till freundlich zu. „Und natürlich dich, Alrick Flötenspieler. Die Nachricht von deiner Rettung ist bis zu uns in die Berge gedrungen! Wir freuen uns, dich zu sehen!“

„Ein Ratsfeuer? Heute schon?“, fragte Tibana. „Die Kunde fliegt schneller noch als der Wind!“

„So ist es, so ist es. Doch wollt ihr unsere Einladung nicht annehmen? Die Nacht wird bald heraufziehen und es ist schon empfindlich kalt hier oben!“

„Auf denn, Mirphak! Zeige uns den Weg!“

„Ich nehme die beiden Mädchen, wenn es recht ist!“, sagte Cauda, der von beträchtlicher Statur war. „Halte dich nur ordentlich fest, Kleine!“

Während der Mond seine nächtliche Bahn antrat, jagten die Freunde über die dunkle Heide. Erst als in der Ferne die verschwommenen Umrisse eines magischen Steinkreises auftauchten, verlangsamten die Zentauren ihren Schritt, um angemessen beim Ratsfeuer zu erscheinen. Flora schmiegte sich vertrauensvoll an Caudas Rücken und versicherte ihm immer wieder, wie toll der Ritt gewesen sei. Lilly lauschte ihren kindlichen Worten und beneidete die kleine Schwester um die Ungezwungenheit, mit der sie allem und jedem begegnete.

Till, Lilly und Flora hatten in den letzten Wochen gelernt, dass es Dinge zwischen Himmel und Erde gibt, die man sich nicht vorstellen kann und die bei den Menschen keinen Namen haben. Die fabelhaften Lebewesen, denen sie hier begegneten, sprengten jedoch ihr Vorstellungsvermögen gänzlich. Sprachlos tapsten sie an den Reihen der Anwesenden vorbei, auf die ihnen zugewiesenen Plätze. Sie alle hatten gelernt, dass man andersartige Wesen nicht schamlos anstarrt, aber dennoch konnten sie ihre Blicke nicht von der bunten Gesellschaft lassen, die aus den wunderlichsten und schillerndsten Wesen bestand, die sie je gesehen hatten. Es sah so aus, als ob jede Gattung der Bergbewohner eine kleine Abordnung geschickt hatte. Da waren die lieblichen Nymphen, darunter viele Baumgeister der Eichen und ihre Schwestern, die Meliai. Daneben saßen die Harpyen und die Schmetterlingsmenschen mit ihren bunt gemusterten Flügeln. Bergelfen, Gnome und Zwerge waren ebenfalls anwesend.

Ein uralter Faun, der auf einen Wurzelstock gestützt am Feuer stand, schien der Wortführer zu sein. „Sei uns willkommen, Hüterin der Quelle! Seid willkommen, Menschenkinder! Wir alle, die wir hier zusammengekommen sind, haben die Kunde von der Befreiung unseres Königs vernommen!“ Der Faun machte eine kurze Pause, bevor er, diesmal an alle gewandt, weitersprach.

„Wie ihr wisst, herrschte lange Zeit Unfrieden zwischen den Völkern im Flachland und denen der Bergwelt. Hier oben zählen vor allem die alten Traditionen. Das Rad der Zeit dreht sich langsam. Lange blieben wir von den Auswirkungen des schwarzen Zaubers verschont und haben nichts unternommen, um den Stämmen im Tal zu helfen. Später, als Farzanah schon so stark und Arindal gefangen war, fühlten wir uns machtlos und klein. Der rechte Augenblick schien verstrichen zu sein. Diese Menschenkinder haben uns aufgerüttelt. Sie haben uns gezeigt, was man mit Selbstlosigkeit, Einigkeit und Mut erreichen kann!“

Der alte Faun blieb vor Flora stehen und legte ihr die Hand auf den roten Schopf. „Du bist noch recht klein und hast doch keine Angst gezeigt!“, sagte er, wobei sein Ziegenbärtchen vor Bewunderung auf und nieder hüpfte. Hinter dem Rücken fasste Flora Lillys Hand, eine Geste, die dem Alten verborgen blieb. „Heute haben wir uns versammelt, um darüber abzustimmen, ob und wie wir den Stämmen im Flachland helfen können.“

Scheinbar hatte er damit genug gesagt, denn er schlurfte, auf seinen Stock gestützt, zurück zu seinem Platz. Eine geraume Weile herrschte Stille, dann aber meldeten sich gleich mehrere Vertreter zu Wort. Ein heißer Disput über das Für und Wider, das Wann und das Wie der Einmischung entbrannte. Die Kinder waren müde vom Flug und hatten auch Mühe, den verschiedenen Dialekten und Sprachen zu folgen. Lilly glaubte zu bemerken, dass selbst der alte Faun von Zeit zu Zeit einnickte. Endlich, da kein Ende in Sicht war, ergriff Tibana das Wort.

„Meine lieben Freunde!“, begann sie und blickte dabei liebevoll in die Gesichter der Anwesenden. „Warum seid ihr heute Abend hier? Wieso habt ihr die langen Wege und Strapazen auf euch genommen?“, fragte sie. „Ich will es euch sagen: In euren Herzen und euren Seelen habt ihr schon längst entschieden, dass ihr mithelfen wollt, Arwarah wieder zu dem zu machen, was es einst war. Im Augenblick sollten die alten Wunden vergessen sein, die unterschiedlichen Meinungen sollten zurücktreten vor dem Wunsch aller: Unsere fabelhafte Welt zu erlösen. Wenn wir dies gemeinsam vollbracht haben, dann werden wir mit Leichtigkeit Wege finden, um auch dem Einzelnen gerecht zu werden! Die heutige, denkwürdige Nacht wird in die Geschichtsbücher von Arwarah eingehen, denn es ist die Nacht, in der das Ratsfeuer zum ersten Mal für uns alle brannte. Ich schlage vor, dass wir dies zur Tradition machen und unsere Brüder und Schwestern aus dem ganzen Feenreich dazu einladen.“

Lauter Beifall beschloss diese Rede und weiterer Worte bedurfte es nicht. Der ein oder andere Gast blieb noch beim Feuer sitzen und sprach dem süßen Honigwein der Nymphen zu, Lilly, Flora, Till und Alrick aber wurden von den Zentauren in die nahe gelegenen Wohnhöhlen begleitet, in denen sie auf weichen Fellen eine angenehme Nacht verbrachten.

Der nächste Tag brach unfreundlich an. Kalte, starke Herbstwinde bliesen ihnen ins Gesicht. Der Himmel war grau und regenverhangen.

„Ich bedauere sehr, dass ich euch wecken muss“, sagte Tibana, „aber wir müssen aufbrechen. Die Zeit drängt.“

Mirphak kam herein und brachte den staunenden Freunden ein Paket, das in feines grünes Linnen gewickelt war.

„Ein Geschenk der Nymphen!“, donnerte er mit seiner kräftigen Stimme. „Wir haben es für euch in Auftrag gegeben, denn in den höheren Gebieten wird es heute sogar noch kälter sein als hier.“ Tibana wickelte das Päckchen auf und fand darin passende Fellwesten, ganz in der Art, wie die Zentauren sie über ihren nackten Oberkörper trugen, für alle.

„Wie wunderbar! Bitte entrichtet den fleißigen Näherinnen unseren Dank und unsere aufrichtige Bewunderung!“, sagte Tibana.

„Algol, Cauda, Prokyon und ich werden euch so nah wie möglich an die Wiege der Drachen bringen!“, sagte der Zentaur. „Die Nebelkrähen können unmöglich gegen den starken Wind ankommen! Seid ihr so weit?“

Wenige Minuten später ging die Reise los – zuerst leichtfüßig und schnell, dann, je höher sie kamen, langsamer und beschwerlicher. Das Gras wurde dünner, die Steine dafür umso größer. Bald verschwand der Pfad gänzlich und sie mussten absteigen. Zu groß war die Gefahr, dass die Hufe der Zentauren im scharfen Geröll ausrutschen und sie sich verletzen könnten.

„Es ist nicht mehr weit“, sagte Cauda, „aber der Weg wird immer steiler. Ihr müsst zu Fuß weitergehen. Wir werden ein kleines Stück weiter unten auf eure Rückkehr warten. Wenn Ihr wollt, Hüterin der Quelle, dann bleibt mit Flora bei uns.“

Die alte Fee blickte zum Gipfel des Berges hinauf und bedachte wohl, dass die anderen ohne sie schneller vorankämen.

„Magst du bei mir bleiben?“, fragte sie Flora, aber das kleine Mädchen schüttelte den Kopf. „Ich komme doch gleich wieder!“, sagte sie und griff nach Alricks Hand.

„Alrick, dass du mir gut auf die drei achtest. Und du, Till, du trägst die Schatulle. Denke an die Worte der Herrin der Quellen. Der Stein wird dir den Weg weisen.“

Je höher die vier Wanderer kamen, umso wärmer wurde es. Wie durch ein Wunder hörte das Pfeifen des Windes auf und eine wohltuende Ruhe trat ein. Sie hatten ein Plateau erreicht, an dessen Ende sie die Ausläufer des Lyncaburh-Vulkans bemerkten. Die Drachenwiege war gefunden! Beeindruckt blieben die Freunde stehen.

„Das ist etwas anderes als Geografiebücher und Fernsehen!“, meinte Till. Unablässig stiegen weiße Rauchwolken aus dem Inneren des Berges und leiser, rollender Donner mahnte zur Vorsicht.

„Der wird doch wohl nicht ausgerechnet dann ausbrechen, wenn wir dort sind?“, fragte Lilly besorgt.

„Nein, das ist eher unwahrscheinlich“, meinte Alrick. „Soweit ich weiß, hat er das vor 800 Jahren zum letzten Mal gemacht.“

„Naja, das könnte aber auch bedeuten, dass es gerade jetzt an der Zeit ist, es wieder zu tun!“ Lilly war skeptisch.

„Ein Drache! Ein Drache!“, rief Flora mit einem Mal. „Seht ihr ihn? Dort oben, er fliegt um die Spitze!“

Fast gleichzeitig legten Till, Lilly und Alrick den Kopf in den Nacken und spähten zum Himmel hinauf. In diesem Augenblick riss der Wind ein Fenster in die Wolkendecke, sodass die Herbstsonne hindurch blinzelte und alles in ein freundliches Licht tauchte. Und da waren sie!

„Fünf, sechs, nein … es sind sogar acht von ihnen!“, jubelte Flora. „Was machen wir nun?“

Da war guter Rat teuer. Ratlos blickten die Kinder sich an. Wieso hatten sie mit niemandem besprochen, was zu tun sei?

„In den Märchen opfert man ihnen eine Jungfrau!“, sagte Till grinsend und zwinkerte Flora schnell zu, die schon den Mund aufmachte, um zu heulen.

„Du bist doof, Till Rudloff!“, rief Lilly, musste dann aber über sich selbst lachen.

„Warum fragen wir die Drachen nicht einfach? Im Kindergarten haben wir gelernt, dass man mutig fragen soll, wenn man etwas möchte!“, schlug Flora vor.

Lilly lag eine spöttische Antwort auf der Zunge, aber ein bittender Blick Alricks ließ sie verstummen.

„Am besten wir gehen erst einmal näher. Vielleicht fällt uns unterwegs was ein.“ Im Gänsemarsch setzten sie sich in Bewegung: Alrick an der Spitze, dann Lilly, gefolgt von Flora und zuletzt Till. Nur langsam verringerte sich die Distanz zum Gipfel. Alrick wollte gerade fragen, ob er Flora auf die Schulter nehmen sollte, da fiel ein gewaltiger Schatten auf sie. Einer der Drachen, der Anführer wahrscheinlich, war auf sie aufmerksam geworden und landete nun genau zwischen den Ankömmlingen und dem Nest.

„Er ist so groß wie ein Haus!“, flüsterte Flora und verkroch sich hinter Alricks Rücken.

Da dem jungen Elf nichts anderes einfiel, verbeugte er sich vor dem Tier und grüßte es. Der Drache richtete sich in seiner vollen Größe auf und spreizte die gigantischen Schwingen. Sein kräftiger Schweif fegte über den Boden, sodass Steine und Sand aufgewirbelt wurden. Er riss das gewaltige Maul auf, fauchte und schrie, dass die Erde zu beben begann. Hinter Alricks Rücken fing Flora lautlos zu weinen an.

„Was soll das?“ Lilly trat einen Schritt auf den Drachen zu. „Warum brüllst du so und machst uns Angst? Es ist keine Kunst, kleine Mädchen zum Weinen zu bringen!“ Eigentlich war Lilly selbst dem Weinen nahe, aber Floras zuliebe musste sie stark sein. Sofort stellte sich Alrick neben sie und legte schützend den Arm um Lillys Schultern. Till hielt Flora fest. Niemand wusste, ob der Drache Lillys Worte verstanden hatte, aber er senkte sein Haupt so, dass sein Gesicht mit den Kindern auf einer Höhe war. Kleine Dampfwolken stiegen bedrohlich aus seinen Nüstern und die gelben Augen funkelten böse.

„Wer wagt es, so mit mir zu sprechen?“ Das große, mit Zähnen gut bestückte Maul war ganz dicht vor Lillys Gesicht, sodass sie den Atem des Tieres spürte, der stark nach Schwefel roch.

„Ich bin Lilly, die Sternensucherin, und das sind meine Schwester Flora und mein Bruder Till!“, sagte Lilly tapfer. Und weil sie sah, wie Tills Augen strahlten, wiederholte sie noch einmal. „Unser Bruder Till!“

„Eine ganze Familie also!“, knurrte der Drache, schon ein winziges bisschen freundlicher. „Und der da?“, er stupste Alrick unsanft mit der Nase an, sodass der Elf auf seinen Hintern fiel.

„Ich bin Alrick Flötenspieler, und wenn du das noch einmal machst, dann … dann …“

„Was dann?“, fauchte der Drache.

„Dann kann ich vermutlich auch nichts dagegen tun“, sagte der Elf etwas kleinlaut.

Was war das? Der Drache sprang auf seine Beine und ließ den Schweif zischend durch die Luft sausten. Er hustete und pustete, sodass kleine Flämmchen aus seinen Nüstern stoben. Dann brach er zur Verwunderung der Freunde in schallendes Gelächter aus, sodass ihm Tränen aus den Bernsteinaugen tropften.

„Dann kann ich auch nichts dagegen tun!“, wiederholte er schallend.

„Wie wahr, wie wahr! Wie ehrlich gesprochen!“

Die Freunde schauten einander an und wussten nicht, was sie sagen oder tun sollten. Als der Drache sich beruhigt hatte, sagte er ernst: „Du bist der erste Elf, der nicht lügt, und du und deine Geschwister, ihr haltet so gut zusammen, ihr könnt nicht aus Arwarah sein.“

„Wir sind Menschen!“, antwortete Lilly. „Wir sind durch das Tor der Feengrotten gekommen.“

„Menschen! Ah! Das letzte Mal, dass ich Menschen sah, ist fast tausend Jahre her. Damals gab es eine Friedensvereinbarung zwischen den Welten und auch zwischen den Einwohnern Arwarahs und den Drachen. Sie wurden alle gebrochen! Hochmut, Eitelkeit und Gier waren euch wichtiger als Bescheidenheit und Güte. Ihr habt das uralte Wissen der Drachen verspottet und mit Füßen getreten!“

Schon wollte er sich wieder in Zorn reden, da hob Alrick die Hand.

„Verzeiht, edler Drache, aber wir sind alle sehr jung und können nichts für die Fehler unserer Vorväter! Doch ist der Frieden, der dir so am Herzen liegt, der Grund unseres Besuches! Bitte nenne uns deinen Namen, damit wir dich würdig ansprechen können!“

„Mein Name ist Sefnaâr, doch bitte, sprich weiter und stehle nicht meine Zeit!“

„Gestern haben wir einen großen Schritt für den Frieden getan! Das erste gemeinsame Ratsfeuer des gesamten Feen- und Elfenreiches brannte und wird künftig alle Jahre mindestens einmal brennen! Die Belange aller Einwohner werden dort erörtert und beraten werden. Bald wird wieder Frieden unter den Stämmen herrschen!“, erläuterte Alrick.

„Die Stadt der Wissenschaften soll wieder eröffnet werden, dann kannst du die Weisheit deiner Väter an alle weitergeben, die es wissen wollen!“, ergänzte Lilly.

Lilly und Alrick hatten sich in Fahrt geredet und die Realität ein wenig mit ihren eigenen Wünschen vervollständigt. „Auch du sollst deine Vertreter schicken, damit sie am Ratsfeuer sitzen und mitentscheiden können.“

„Ist das auch wahr? Werdet ihr euch auch noch in einer Woche daran erinnern, in einem Jahr, in 100 Jahren?“

Der Drache ging aufgeregt vor den Kindern auf und ab. Regenbogenfarbig glänzten seine Schuppen im Licht der Abendsonne, grün, blau und rot. Die Freunde spürten, wie er mit sich rang. Er wollte ihnen so gern glauben, aber die Erfahrung vergangener Jahrhunderte hatte ihn Anderes gelehrt. Till hatte eine Idee.

„Ehrenwerter Sefnaâr“, begann er etwas unsicher, „um deine berechtigten Zweifel zu zerstreuen, bittet dich König Arindal, das Licht von Arwarah zu reinigen und damit den Bund zwischen den Stämmen zu besiegeln. Nur deinesgleichen ist in der Lage, dies zu tun.“

Ohne eine Antwort abzuwarten, nahm er den Rucksack vom Rücken, holte die Schatulle hervor und stellte sie dem Drachen vor die Füße.

„Da drin ist das Licht?“

„Ja! Das Licht, das Farzanah mit einem schwarzen Zauber verflucht hat. Wenn der Orion am Herbsthimmel erscheint, dann wird der Zauber auf ewig unabwendbar!“

„Hm! Das Erscheinen des himmlischen Ritters steht unmittelbar bevor! Da darf ich keine Zeit vergeuden! Tretet zurück! Ich werde tun, worum der König mich bittet! Aber wehe euch, wenn ihr wieder abtrünnig werdet!“

„Du hast mein Wort!“, rief Alrick.

„Und meins!“, sagte Till.

„Und unseres auch!“, fügten Lilly und Flora hinzu.

Sefnaâr schickte die vier zur Sicherheit hinter einen dicken Felsbrocken. Dann postierte er die Schatulle mit seinen Krallen und holte tief Luft. Rauch stieg aus seinen Nüstern und bald darauf schlugen helle, züngelnde Flammen hervor. Sie schlossen die Schatulle ein und ließen erst nach, nachdem von Farzanahs Fluch nichts übrig war als feiner Staub, der vom Wind davongetragen wurde. An seiner Stelle leuchtete das Licht von Arwarah hell und klar in die Herzen der Anwesenden, sodass sie von Freude und Glück erfüllt wurden. Selbst der alte Drache konnte sich nicht davor verschließen. Argwohn und Schmerz der Vergangenheit verblassten vor dem gemeinsamen Triumph.

Noch einmal bekräftigten die Freunde den Bund und flogen dann auf dem Rücken des Drachen ins Tal, in dem Tibana und die Zentauren sie bereits erwarteten. Schon von Weitem hielt Till das Licht in die Höhe, sodass der Jubel und das Lob für Sefnaâr kein Ende nahmen. Unter dem Schutz des Lichtes saß man am Abend ums Feuer und erzählte Geschichten aus alten Zeiten. Einige der Anwesenden aber schmiedeten lieber Zukunftspläne.

Als sie am anderen Morgen zum Aufbruch rüsteten, kamen viele ihrer neuen Freunde herbei, um sie zu verabschieden. Das Händeschütteln wollte und wollte kein Ende nehmen, aber endlich erhoben sich die Nebelkrähen in die Luft. Sefnaâr begleitete sie ein Stück, dann glitten sie allein dahin. Till fühlte den Lichtkristall angenehm warm auf seinem Rücken. Zum allerersten Mal seit dem Unfall seiner Eltern fühlte er sich richtig wohl. Gedankenverloren ließ er den Blick über die Schönheiten des Feen- und Elfenreiches gleiten, und ganz weit hinten in seinem Herzen spürte er den Abschiedsschmerz nahen.

Die Burg Darwylaâns lag verlassen in der Herbstsonne. König Arindal war wohl auf dem Weg nach Hause. Bis jetzt war Farzanah nirgendwo entdeckt worden, aber keiner glaubte daran, dass sie diese große Niederlage einfach so einstecken würde. Noch war das Heer der Dunkelelfen nicht zerfallen. Arindal rechnete damit, dass sie irgendwo hockte und ihre Krallen wetzte. Großzügig hatte der Elfenkönig all jenen Straffreiheit versprochen, die Abbitte tun und ihm einen Treueeid leisten würden. Wie hätte er auch diejenigen, die unter dem Einfluss des Zaubers standen von denen, die Farzanah freiwillig gefolgt waren, unterscheiden sollen? Darwylaân hatte jedenfalls seine Eigenständigkeit verloren und gehörte von jetzt an fest zu Arwarah.

Je näher sie der Festung kamen, umso mehr Bewegung bemerkten sie unter sich. Heimkehrer, meinte Tibana. Der stundenlange Flug hatte sie gänzlich ermüdet und deshalb brachen die Reisenden in Begeisterung aus, als sie endlich die Lagerfeuer des Königs erblickten. Sie waren sich sofort einig, dass sie die Nebelkrähen entlassen und gemeinsam mit dem König auf der Festung Einzug halten wollten.

Die Kunde ihrer Ankunft verbreitete sich wie ein Lauffeuer im Lager und alles, was Beine hatte, strömte herbei. Beinahe schüchtern schritten die Menschenkinder durch die Elfengasse, die sie direkt zum König führte.

König Arindal konnte es kaum erwarten, sie zu treffen, und eilte ihnen mit ausgestreckten Armen freudig entgegen. Lilly sagte später, dass er beinahe nicht wiederzuerkennen war, so schön und ehrfurchtgebietend hatte er gewirkt, in dem königlichen Gewand und mit dem fein gekämmten Haar, in dem er nun den goldenen Elfenreif, das Zeichen seiner Würde, trug. Aber obwohl er lächelte, waren seine Gesichtszüge noch immer von den erlittenen Qualen gezeichnet.

„Tibana! Hüterin der Quelle und meines persönlichen Schatzes!“, begrüßte er die alte Fee herzlich. „Wie froh und wie dankbar ich bin, dich wohlauf zu sehen! Wo ist er? Wo sind seine Freunde?“

Verwundert schauten sich Lilly, Till und Alrick an. Was meinte der König mit ‚persönlichem Schatz’? Das Licht vielleicht? Tibana trat zur Seite und als Arindal auf Alrick zuging, da hätte wohl auch ein Blinder gesehen, dass die beiden zumindest verwandt waren.

„Da bist du also, Alrick, genannt der Flötenspieler.“ Alrick war im Begriff, sich vor dem König zu verneigen, aber der hielt ihn an der Hand zurück. „Was bin ich froh, dass du wieder bei mir bist und dass du scheinbar keinen Schaden durch Farzanah genommen hast. Du hast Großartiges geleistet, kleiner Bruder! Selbstlos und mutig, so wie es einem Prinzen von Arwarah gebührt!“

Ein erstauntes Raunen ging durch die Reihen der Anwesenden. Davon hatte scheinbar keiner gewusst – nicht einmal Alrick selbst.

„Vater hat dich bei Tibana vor Farzanah versteckt. Wenn diese alte Hexe gewusst hätte, dass du mein jüngerer Bruder bist, dann wärst du wahrscheinlich heute nicht mehr am Leben. Aber darüber können wir später noch sprechen. Willkommen daheim!“ Er nahm den verdutzten Alrick in die Arme und drückte ihn herzlich. „Nun stelle mir deine tapferen Freunde und Retter vor. Für sie müssen wir uns etwas ganz Besonderes ausdenken.“ „Das sind die Geschwister Lilly, Flora und Till Rudloff“, sagte Alrick, der immer noch wie vom Donner gerührt neben dem König stand. „Sie haben mich gerettet und auch das Licht von Arwarah!“

Bei diesen Worten holte Till den Lichtkristall aus seinem Rucksack und hielt ihn mit ausgestreckten Armen über den Kopf. Der Anblick des gereinigten Lichtes brachte das ganze Lager zum Jubeln. Viele der Anwesenden fielen einander in die Arme, lachten und weinten gleichzeitig. Unter dem Beifall der Elfen nahmen die Freunde am Feuer des Königs Platz.

Die Rückkehr zur Festung dauerte drei weitere Tage, denn die meisten der Heimkehrer waren zu Fuß unterwegs. Dies gab den Brüdern Gelegenheit, sich in aller Ruhe auszutauschen und neu kennenzulernen. Nun wunderte sich keiner mehr, wieso Alrick in der Lage gewesen war, die Nebelkrähen zu rufen.

Auch Lilly, Till und Flora kamen nicht zu kurz. So bestätigte sich beispielsweise, dass Oma Gertrudes Vorfahren schon früher mit dem Feen- und Elfenreich in Verbindung gestanden hatten und dass Tibana den verzauberten Alrick zu seinem Schutz selbst in die Menschenwelt gebracht hatte.

Als der König mit seinem Volk auf der Festung Einzug hielt, wurde ein Fest gefeiert, das drei Tag andauerte und zu dem Groß und Klein geladen war. Das Licht von Arwarah erhielt seinen angestammten Platz auf dem Kamin und leuchtete fortan wieder in die Herzen der Lichtelfen.

Schließlich sandte König Arindal die Elfenritter aus, um Farzanah suchen zu lassen. Sie sprengten in alle Himmelsrichtungen, aber keiner von ihnen fand eine Spur von ihr.

So gut es Lilly, Flora und Till auch auf der Festung gefiel, irgendwann mussten sie sich verabschieden. Schließlich konnten sie die Eltern nicht ewig mit den Doppelgängern sitzenlassen. Und wer weiß, was in der Zwischenzeit zuhause alles geschehen war?

„Lilly!“, rief Alrick mit klopfendem Herzen. Er hatte das Mädchen im Garten entdeckt und wollte die letzte Gelegenheit, allein mit ihr zu sprechen, nicht verstreichen lassen. Lilly schaute auf. Der junge Elf, der jetzt vor ihr stand, war nicht mehr der Elfenjunge, den sie gerettet hatten. Ihre gemeinsamen Abenteuer hatten ihn reifer und erwachsener gemacht. In dem feinen grünen Gewand und mit dem schlichten Goldschmuck sah er wie ein wirklicher Prinz aus. Verlegen räusperte er sich und grinste. „Lilly, ich … ich weiß nicht, wie ich es sagen soll, und … vor allem weiß ich nicht, wie du es siehst, aber … ich … ich hab‘ mich in dich verliebt!“ Sein leuchtendes Gesicht färbte sich rot und Lilly musste trotz der Purzelbäume, die ihr Herz gerade schlug, schmunzeln.

„Alrick, ich weiß auch nicht, wie es gehen soll, aber ich habe mich auch in dich verliebt“, antwortete sie nicht weniger verlegen.

Glücklich zog der junge Elf das Mädchen in seine Arme und küsste sie.

„Dann ist ja alles klar!“, rief er so begeistert, dass Lilly wiederum lachen musste. Dann wurde sie ernst.

„Alles klar? Nichts ist klar! Ich habe keinen Schimmer, wie wir je zusammenkommen könnten!“

„Das lass mal meine Sorge sein“, meinte er zuversichtlich. „Arindal hat etwas von einem neuen Bündnis mit den Menschen erzählt und was wäre ein besseres Pfand dafür als unsere Liebe?“

Nun war es Lilly, die bis hinter die Ohren krebsrot wurde.

„Aber du bist ein Prinz. Hier in deiner Welt bist du ein Prinz. Arindal will, dass du die Burg in Darwylaân bewohnst und ich bin nur ein Mädchen aus einem Bauernhaus – und aus einer völlig anderen Welt!“

„Ein Mädchen mit einem Teleskop, das es in der neu entstehenden Stadt der Wissenschaften weit bringen wird. Und bis es so weit ist, möchte ich dir diese zwei Dinge schenken. Das hier ist ein magischer Spiegel. Wenn du hineinblickst und meinen Namen mit Liebe aussprichst, dann können wir uns sehen und miteinander sprechen.“

Wie ein Blitz durchzuckte Lilly der Gedanke, dass sie von ihrer Urgroßmutter einen ähnlichen Spiegel geerbt hatte. Womöglich war sie auch in einen Elfen verliebt gewesen?

„So, so, mit Liebe!“, grinste Lilly, die wusste, dass Alrick sie neckte. „Und das andere?“

„Das andere ist meine Flöte! Ich habe mit Arindal vereinbart, dass, wann immer du sie spielst, das Boot kommt und dich abholt! An unserem Ufer wird dann eine von Arindals Nebelkrähen auf dich warten und zur Burg bringen!“

„Na sieh mal einer an!“, sagte Lilly beeindruckt. „Du bist dir aber deiner Sache sicher!“

Alrick erblasste, aber Lilly drückte ihm einen Kuss auf die Lippen. „Reingefallen! Natürlich werde ich kommen! Versprochen!“

Als die Stunde des Abschieds nahte, begleiteten Tibana und Alrick die drei bis zum Feengrottentor. Die Herzen aller waren schwer und gleichzeitig voller Sehnsucht. Lilly probierte die Flöte aus, und als das Boot lautlos über den See zu ihnen herüber glitt, flossen auch ein paar Tränen. Flora klammerte sich an Tibana und wollte das Versprechen, sie und die Wichtel bald besuchen zu dürfen, immer und immer wieder hören.

„Hast du noch deine Kette?“, fragte die alte Fee, obwohl sie es natürlich wusste.

„Ja!“, antwortete das kleine Mädchen.

„Dann bist du auch immer bei mir! Und ich kann in deine Träume schauen! Till, vertraue auf Metâbor! Wir werden uns alle bald wiedersehen!“

Leise stieß das Boot vom Ufer ab und schaukelte, von Zauberhand getrieben, der Menschenwelt entgegen. Ohne Zwischenfälle stoppte es an der kleinen Mauer im Märchendom.

„Weißt du noch, wie wir den Grindelwarz hier gefangen haben?“, fragte Till.

„Ja, aber es kommt mir vor, als wäre es Jahre her. Ob er noch immer ein Eichhörnchen ist?“ Kichernd warfen die drei einen letzten Blick auf die Gralsburg, die im Licht ihrer magischen Laterne wunderschön aussah. Dann schickten sie das Boot zurück. Lilly streute ein wenig Elfenstaub auf die Wand und schon standen sie auf dem Weg, der sie nach Hause führte.

Mit Bedacht hatten sie diese nächtliche Stunde für ihre Rückkehr gewählt, denn schließlich mussten sie ihre Doppelgänger noch nach den Ereignissen daheim ausfragen und dann ohne Aufsehen verschwinden lassen. Zum ersten Mal würden sie die Magie allein anwenden, aber seit Lilly wusste, dass schon ihre Urgroßmutter mit Elfen befreundet war, hatte sie keine Bedenken mehr. Lilly Sternensucherin, Till Menschenkind und Flora Wichtelfreundin waren nicht aufzuhalten! Hinzu kam, dass sie gewissermaßen die offizielle Freundin des Elfenprinzen von Arwarah war, auch wenn sie vorerst keinem Menschen davon erzählen konnte. Till und Lilly nahmen Flora in die Mitte und so, Hand in Hand, liefen sie heimwärts.

Wie anheimelnd kam ihnen das kleine Haus mit dem duftenden Garten vor, das so friedlich im silbernen Mondlicht lag. Vertraut und sicher wie ein Hafen im Sturm.

„Willkommen im schönsten Zuhause, das es auf der ganzen Welt gibt“, sagte Lilly feierlich. „Ihr seid die besten Geschwister, die man sich vorstellen kann. Das gilt sogar für Oskar!“, fügte sie spontan hinzu.

„Und nun ist es auch Tills Zuhause und das von Tibana und den Wichteln, wenn sie mögen. Und Alricks natürlich.“ Flora flüsterte, so feierlich war ihr zumute. „Zu unserer Familie gehört, wen wir dazu aussuchen!

„Vielen Dank! Nach alldem sehe ich es auch so“, sagte auch Till, „und unser Zuhause ist der beste Platz auf der gesamten Menschenwelt!“

Adhaweé Meldaras et Meldari!