X.  

Die Festung

Nun galt es, eine sichere Unterkunft zu finden. Lautlos glitten die Krähen über die Wipfel der Bäume, bis Tibana ihnen ein Zeichen gab. Sie hatte einen verlassenen Waldelfenhof gesichtet, der für ihre Zwecke gut geeignet schien. Vorsichtig trug Alrick die schlafende Flora zum Haus, das Tibana bereits mithilfe des Zauberstabes geöffnet hatte. Die ehemaligen Bewohner waren wohl erst vor Kurzem fortgezogen, um sich Farzanahs Armee anzuschließen, denn das Innere war sauber und intakt. Im Garten schreckten ein paar Hühner aus dem Schlaf und ließen gackernd ein Nest mit Eiern zurück. „Das kann nicht schaden“, sagte Lilly und sammelte sie in ihrem Pullover ein. Morgen würden sie Haus und Umgebung genauer unter die Lupe nehmen.

Nur Tibana blieb noch auf, um einen Schutzkreis um den Hof zu legen. So schnell würde sie hier niemand entdecken und das Böse, das von der Festung kam, würde auch vorübergehend abgewehrt sein.

Das laute Krähen eines Hahnes weckte die Kinder schon kurz nach Sonnenaufgang, und da heute ein denkwürdiger Tag war, hielt sie nichts in den Betten. Am Frühstückstisch bekamen Till und Lilly eine Lektion über die bauliche Beschaffenheit der Burg, über Wege und Umwege, die sie in den Rittersaal zum Licht von Arwarah führen würden.

„Das Herzstück des Rittersaales ist der große Kamin, vor dem die lange Tafel steht … stand. Hoffentlich noch steht!“, sagte Alrick, der sich zu erinnern suchte. „Mag sein, er ist in meiner Erinnerung so groß, weil ich noch jünger war, als ich ihn das letzte Mal sah. Jedenfalls wird der Sims von zwei wunderschönen, riesigen Steindrachen getragen. Auf dem Sims steht eine Schale und darin befindet sich der Lichtkristall!“

„Seid vorsichtig und steckt ihn sofort in die Schatulle. So ganz genau wissen wir nicht, welche Auswirkungen er hervorruft, wenn man unmittelbar mit ihm in Berührung kommt!“, mahnte Tibana. „Mir ist so unwohl bei der Sache! Ich wünschte wirklich, ich könnte selbst gehen!“

Nachdem sie alles noch einmal durchgegangen waren, brachen Lilly und Till auf. Alrick hatte die Nebelkrähen gerufen, zwei davon würden die Menschenkinder ungesehen bis zum Waldrand bringen. Von dort aus mussten sie laufen.

Nur ungern entließen sie die Krähen, um zu Fuß weiterzugehen, denn der Weg bis zur Festung war weit. Die erste Zeit über plauderten Lilly und Till über die verschiedensten Dinge, äußerten Vermutungen und schmiedeten Pläne, aber je müder ihre Beine wurden, umso ruhiger wurden sie.

Das weitläufige Gelände rund um die Festung war wohl vor Jahren ein Weinberg gewesen. Jetzt wuchs hier alles bunt durcheinander, aber der Weg war größtenteils frei. Wenn die beiden zurückschauten, freuten sie sich über die Strecke, die sie schon bewältigt hatten, schauten sie aber nach vorn, schien es, als wäre die Burg überhaupt nicht näher gekommen. Der Tag war hell und die Sonne schien warm auf ihre Köpfe. Zur Mittagszeit kamen sie an eine kleine Quelle und beschlossen, zu rasten.

„Ich bin das Laufen echt nicht gewöhnt!“, sagte Lilly und zog ihre schweren Schnürstiefel aus. „Ein Jammer, dass die Krähen nicht auch unsichtbar werden, wenn wir die Tarnkappen tragen! Dann hätten wir vor ihrer Nase, direkt auf dem Turm landen können!“

„Ja, und sobald wir abgestiegen wären, hätten sie die Krähe bemerkt. Es hilft alles nichts! Da müssen wir durch!“ Till hatte sich den Bauch mit Käse und Brot vollgeschlagen und legte sich genüsslich ins Gras. „Was die Ritter wohl jetzt gerade tun?“, fragte er.

„Das Gleiche wie wir! Sie hasten vorwärts und machen jetzt eine Mittagspause.“ Die beiden hingen ihren Gedanken nach. So vieles gab es, woran man denken konnte. Die warmen Sonnenstrahlen machten sie schläfrig. Zufrieden lauschten sie dem Gesang der Vögel und dem Summen der Bienen, da war es um ihre Wachsamkeit geschehen.

„Verdammt!“ Till schnellte in die Höhe. Er war erwacht, weil ihn fröstelte und die aufsteigende Dämmerung traf ihn wie ein Hammerschlag.

„Lilly, wach auf! Schnell! Wir sind eingeschlafen!“

„Was? Nein! Wie konnte das passieren?“ Lillys Stimme klang beinahe weinerlich. „So ein Mist!“ So schnell sie konnten, rafften sie ihre Sachen zusammen und liefen los. Die aufkommende Dunkelheit erschwerte ihr Vorwärtskommen. Mit zusammengebissenen Zähnen stolperten sie über Wurzeln und Grasbüschel, hielten aber das Tempo bei. Weiter! Nur weiter! „Die anderen verlassen sich auf uns. Wir dürfen sie nicht enttäuschen!“, dachte Till.

Es war bereits Mitternacht, als sie die Burg vor sich liegen sahen. Einen Moment verschnauften sie und bedauerten, im Finsteren das herrliche Bauwerk mit seinen Wällen und Türmen nicht genau betrachten zu können. Alrick hatte ihnen erzählt, dass sich hinter den schützenden Mauern eine richtige kleine Elfenstadt befindet, die terrassenförmig an den Fels geschmiegt war. Erst ganz oben befand sich das Herrenhaus mit dem Hauptturm und dem Rittersaal.

Bevor Till und Lilly die Brücke zum Eingang erreicht hatten, setzten sie die Tarnkappen auf. Die Brücke war nicht hochgezogen, aber vor der verschlossenen Tür standen zwei Wächter, die ihren Dienst wohl ernst nahmen, denn sie schliefen nicht. „Da haben wir die nächste Schlappe!“, flüsterte Lilly. „Wir können unmöglich hineingehen, wenn nicht ein anderer das Tor öffnet.“

„Ja, es ist aber auch verhext. Was machen wir nun?“

„Wir hocken uns dort ins Gebüsch und dösen abwechselnd. Ich denke, wir hören, wenn das Tor geöffnet wird. Dann schlüpfen wir irgendwie durch. Pass nur immer auf, dass von mir nichts zu sehen ist!“, sagte Till mit prüfendem Blick. „Bei dir ist alles okay!“

Die restliche Nacht verbrachten die beiden im Halbschlaf, aber sooft sie auch aufhorchten, es gab einfach keine Gelegenheit, durchs Tor zu gelangen, bis am späten Vormittag endlich ein voll beladener Karren daherkam. Till und Lilly staunten nicht schlecht über den schmutzigen Troll, der ihn zog. „Was mag der wohl geladen haben?“, flüsterte das Mädchen.

„Ist doch einerlei! Lass uns hinten aufspringen!“ Holpernd und polternd bewegte sich das Gefährt die Brücke hinauf, sodass die Kinder richtig durchgeschüttelt wurden.

„Halt!“, rief einer der Wächter. „Wo willst du hin und was hast du geladen?“ Die Antwort des Trolls klang mehr wie das Brummen eines Bären, aber der Wächter schien ihn zu verstehen. „So, so! Proviant und Pulver für die Truppenführer, also! Wollen doch mal sehen!“ Ehe Till und Lilly begriffen, was der Mann vorhatte, war er schon an die Rückseite des Wagens getreten und hatte die Plane hochgerissen. Die beiden hatten gerade noch Zeit, sich zur Seite zu beugen, um nicht von ihm berührt zu werden. Tills Herz klopfte so laut, dass er befürchtete, der Elf würde es hören, aber der griff sich eine bauchige Flasche Rotwein und ein Stück Schinken, das gleich obenauf lag, zog die Plane glatt und ließ den Wagen passieren.

„Puh, das war knapp!“, flüsterte Lilly. „Aber wenn wir ein wenig Glück haben, dann fährt der uns bis zum Herrenhaus hoch!“

Und diesmal hatten sie Glück. Rumpelnd fuhr der schwere Wagen über das grobe Pflaster. Die kleinen Häuser rechts und links waren ursprünglich sicher von Handwerkern, Künstlern und Händlern bewohnt gewesen. Jetzt lungerten überall böse dreinblickende Elfenkrieger herum, die Farzanahs Zeichen auf ihren Mänteln trugen. Auch das Banner, das über dem Hauptturm wehte, zeigte die siebenköpfige Schlange.

„Wie passend gewählt!“, bemerkte Till sarkastisch. „Hoffentlich wachsen die Köpfe nicht nach, wenn Arindal sie abhaut!“

In der Nähe des Haupthauses sprangen die beiden vom Wagen und liefen zur Tür, die, wie Alrick ihnen gesagt hatte, über einen langen Flur zum Rittersaal führte. Ein Wächter war nicht zu sehen, aber das war auch nicht nötig, denn die Tür war verschlossen.

„Dann folgen wir eben dem Wagen weiter. Der wird seine Ladung sicherlich an der Küchentür abgeben, ehe er zum Pulverturm fährt.“

Die leckeren Güter wurden offenbar bereits erwartet, denn ein rundlicher Koch mit hochrotem Kopf sprang wie ein Gummimännchen um den Wagen herum, wobei er seinen Rührlöffel wie ein Zepter schwang. Mit überschlagender Stimme rief er die Mägde zum Abladen und trommelte mit dem Löffel auf den Troll ein, der ein Bierfass in die Küche tragen sollte. Es war urkomisch anzusehen.

„Hmmm! Riechst du das? Lass uns was essen. Ich habe so einen Hunger!“, wisperte Lilly in der Küche.

Staunend liefen die beiden an fertigen und halbfertigen Speisen vorbei und naschten hier und da, so wie es ihnen beliebte. Das war eine angenehme Seite des Abenteuers!

„Was meinst du?“, murmelte Lilly kauend. „Ob Tibana uns erlaubt, die Tarnkappen mal mit in die Menschenwelt zu nehmen?“

„Na das wäre ein Spaß!“, flüsterte Till grinsend. „Aber ehrlich gesagt, glaube ich es nicht! Bist du satt? Dann lass uns gehen. Je eher wir hier weg kommen, desto besser!“

Nun galt es die Schritte zu dämpfen, falls ihnen jemand begegnen würde. Aber der Flur war leer. Wo lang sollten sie gehen? Sie waren weitab vom Weg, den Alrick ihnen beschrieben hatte. Dieser Teil der Festung gehörte wohl mehr dem Gesinde als den Herrschaften. Eine lange Zeit irrten sie durch Gänge und Räume, lauschten den Gesprächen der Vorübergehenden, doch den Weg zum Rittersaal fanden sie nicht.

„Warte!“, rief Till leise und hielt Lilly fest. „Was wir hier tun, das hat keinen Sinn! Die Festung ist riesig und gerade hatte ich das Gefühl, dass wir hier schon einmal vorbei gelaufen sind.“

„Und was machen wir nun?“

„Wir gehen zur Küche zurück!“

„Aber wie willst du die wiederfinden? Mit dem Stein?“

„Nicht nötig“, grinste Till. „Riechst du nichts?“

„Doch! Jetzt wo du's sagst!“

Ihrer Nase folgend fanden sie den Weg in die Küche zurück, in der während ihrer Abwesenheit schon so manches geschafft worden war. Abgesehen davon, dass der Troll völlig betrunken in einer Ecke lag und schlief, waren die Speisen jetzt vorzüglich angerichtet. Die Mägde hatten ihre schmutzigen Schürzen gegen saubere eingetauscht und waren im Begriff, eine Prozession zu bilden, um die Speisen aufzutragen.

„Das ist die Gelegenheit!“, wisperte Lilly. „Die gehen bestimmt in den Rittersaal!“

„Du hast recht, und wir gehen mit! Stell dich schon mal an, ich bin gleich wieder da!“

„Was hast du denn vor?“, wollte Lilly wissen, aber Till war schon fort. Die Mägde nahmen die schweren Schüsseln und Schalen auf und der Zug setzte sich in Bewegung. Lilly hatte keine Ahnung, wo Till war, und blieb vorsichtshalber an der Stelle stehen, an der er sie verlassen hatte. „So ein Mist!“, dachte sie verärgert. „Wieso geht er jetzt nochmal weg? Wie sollen wir uns wieder finden, wo wir uns doch nicht sehen können?“

Ungeduldig trat sie von einem Fuß auf den anderen. Als die letzte Magd im Begriff war, hinauszugehen, beschloss Lilly, nicht länger zu warten. Sie hatte die Schatulle in ihrem Rucksack, also würde sie jetzt das Licht holen. Auf keinen Fall wollte sie die Gelegenheit, den Saal zu finden, ungenutzt verstreichen lassen.

Auf leisen Sohlen schloss sie sich den Mägden an. Der Weg ging über einige Flure, die Lilly bekannt vorkamen, und endete schließlich an einer versteckten Wendeltreppe, die in die obere Etage führte. „Kein Wunder, dass wir die nicht gefunden haben“, dachte Lilly und stieg hinauf. Die Treppe endete an einer kleinen Tür, die mitnichten der Haupteingang war, aber in den Rittersaal führte. Lautes Stimmengewirr drang aus dem Inneren und erst jetzt machte sich Lilly Gedanken, für wen die vielen Speisen eigentlich bestimmt waren.

Sie betrat den Saal als Letzte, gerade noch rechtzeitig, ehe ihr ein Torsteher die Tür vor die Nase gestoßen hätte. Vorsichtig sah sich Lilly nach dem Kamin um und entdeckte das Elfenlicht auf dem Sims, in einer Schale, die wie zwei emporgestreckte Hände aussah. Sie hatte erwartet, dass es in irgendeiner Weise beeindruckend leuchten würde, aber es sah eher unspektakulär nach glimmender Kohle aus, mit dem Unterschied, dass die Glut blutrot, violett und sogar giftgrün flackerte.

Eine große Anzahl von Elfen füllte den Saal. Sie saßen an einer T-förmigen Tafel und waren eifrig in Gespräche vertieft. Lilly umrundete die Tische, lauschte hier und da und fand, dass es eine grimmige Gesellschaft war. „Wo ist Till nur? Wie soll ich das Licht vor all diesen Augen stehlen und in die Schatulle stecken? Das schaff ich nicht allein!“, jammerte sie in Gedanken. „Wenn Till bloß nichts zugestoßen ist!“ Lilly lief zum Kamin. Dort war ihr gemeinsames Ziel und dorthin würde er mit Sicherheit kommen! Sie musste nur warten. Aufgeregt verkroch sie sich in der Nische neben dem rechten Sandsteindrachen des Kaminsimses und hoffte, dass niemand ausgerechnet dorthin wollte, wo sie gerade stand.

Sie hatte das Gefühl für die Zeit verloren. Kein Licht schimmerte mehr durch die hohen Fenster in den Raum. Es musste bereits Abend sein. Ungeduldig trat Lilly von einem Fuß auf den anderen. Das Essen war längst aufgetragen. „Worauf warten die nur?“, dachte Lilly gerade, als ein lauter Fanfarenstoß durch die Halle schallte. Im nächsten Augenblick wurden beide Flügel des großen, silberbeschlagenen Haupttores geöffnet und Farzanah schritt unter dem Beifall der Anwesenden zum Kopf der Tafel.

„Das träum‘ ich jetzt nur!“, flüsterte Lilly verzweifelt, aber der Höhepunkt ihres Entsetzens war erst erreicht, als die siebenköpfige Schlange, die Farzanah überallhin begleitete, plötzlich zischend auf sie zukam. Zitternd und vor Angst halb gelähmt, verpasste Lilly den Moment, in dem sie dem schlängelnden Tier noch hätte ausweichen können. Nun sah sie sich von sieben angriffslustigen Köpfen umringt. Mit weit aufgerissenen Augen starrte das Mädchen auf die verwirrte Schlange, die sie wohl witterte, aber nicht sah. Da schreckte diese auf einmal zurück, weil etwas Schweres ihren empfindlichen Schwanz getroffen hatte. Und noch einmal! Wütend fauchte das Monster auf, schnellte herum und Farzanah wurde aufmerksam. Sie kam herüber und sprach beruhigend auf das Tier ein. Dann fasste sie es am Halsband und zog es mit sich zur Tafel.

„Alles klar so weit! Es tut mir leid!“, hörte Lilly Tills Stimme neben sich wispern. Glücklicherweise war es ihm Rittersaal recht laut und die Tische standen weit genug vom Kamin entfernt, sodass niemand sie hören konnte.

„Du heiliger Bimbam! Bist du ihr etwa auf den Schwanz gesprungen?“

„Ja! Und zwar mit Anlauf! Was sonst hätte ich tun können? Sie hat dich gewittert. Ist ein schlaues Vieh!“

„Danke sehr! Aber wo warst du denn eigentlich? Ich hab‘ mir vor Angst fast in die Hose gemacht!“ Lillys Stimme klang ärgerlich.

„War 'ne dumme Idee, ich weiß. Ich bin noch mal raus zum Wagen und wollte mir so ein Pulverhorn holen. Man weiß ja nie, wozu man es brauchen kann. Als ich zurückkam, da wart ihr schon weg! Ich bin wie verrückt hinter euch her, muss aber falsch abgebogen sein. Ich irrte herum und auf einmal, ich hatte es schon fast aufgegeben, stand ich vor dem Saal. Ich habe Farzanah gesehen und bin mit ihr hereingekommen. Mich hätte die Schlange auch schon beinahe erwischt!“

Vorerst blieb den beiden nichts anderes übrig, als still zu verharren und die Gesellschaft zu beobachten. Farzanah hatte ihr Glas erhoben und hielt eine feurige Rede in der Elfensprache. Lilly und Till strengten sich an, den Inhalt der Rede wenigstens zu erraten, aber das war vollkommen unmöglich. Niemand hatte von dem Zwischenfall mit der Schlange Notiz genommen und da Farzanah sie noch immer am Halsband hielt, waren die beiden momentan nicht in Gefahr, aber sie sahen, dass das schlaue Tier den Kamin nicht aus den Augen ließ.

„Wenn die nicht bald fertig werden, dann sitzen wir um Mitternacht immer noch hier, oder das Biest hat uns verschlungen. Sieh nur, wie die fünf Köpfe dauernd herüberschauen und züngeln, während die anderen von Farzanah gestreichelt und gefüttert werden! Das ist so eklig, aber irgendwie auch cool!“

„Wenn ich nur einen Blick auf die Uhr werfen könnte! Ich fühle sie, aber ich sehe sie nicht. Hast du die Schatulle bereit?“

„Ja, aber du willst doch das Licht nicht vor allen Augen stehlen?“

„Hast du eine bessere Idee? Wir warten noch, bis sie richtig betrunken sind, dann schnappen wir es und sind weg!“

„Hm …“

„Was denn? Die saufen doch wie die Löcher! Und sieh nur in ihre Gesichter! Nichts als die pure Bosheit. Das kommt mit Sicherheit von dem Licht!“

Runde um Runde kreisten die Becher, Trinkspruch folgte auf Trinkspruch und schließlich sank mancher Kopf auf die Brust. Endlich erhob sich Farzanah und verließ den Saal.

„Gott sei Dank, sie nimmt das Vieh mit!“, jubelte Lilly. „Sieh nur, wie es sich noch mal nach uns umdreht. Die Schlange weiß genau, dass wir hier sind! Pech für sie!“

Sie warteten noch ein Weile, dann sagte Till: „Ich finde, wir sollten es jetzt tun. Die Kerzen sind heruntergebrannt und das Feuer im Kamin auch. Wenn die Diener nachlegen, dann ist die Chance vorbei.“

„Okay! Wir machen es so: Ich nehme die geöffnete Schatulle in die Hand und du hebst mich hoch, sodass ich an das Licht herankomme. Ich schnappe es mir, schließe die Schatulle und wir rennen zum Dienstbotenausgang. Der ist der einzige, der offensteht. Danach laufen wir über die Wendeltreppe in die Küche und hinaus. Dann sehen wir weiter!“

„Gut! Pass auf, dass du nichts umstößt oder sonst irgendwie Krach machst“, sagte Till überflüssigerweise, denn das Tohuwabohu der Betrunkenen würde jedes Geräusch übertönen.

Vorsichtig nahm Lilly die Schatulle aus dem Rucksack und schulterte ihn sogleich wieder, damit er unsichtbar blieb. Dann tastete sie nach Till, der sie so weit wie möglich nach oben hob. Ein letzter Blick in die Runde, aber von den Anwesenden nahm keiner Notiz von dem Licht. Flink steckte Lilly es in das Kästchen und ließ den Deckel zuschnappen. So weit war es geschafft! Vorsichtig half Till Lilly herunter und steckte die Schatulle in ihren Rucksack. Dann fassten sie sich bei den Händen und rannten so schnell es ging aus dem Saal.

„Rechts herum!“, rief Lilly leise. „Die Treppe ist dort!“

Glücklich gelangten sie zum Ausgang und wähnten sich bereits in Sicherheit, als sie das Zischen der Schlange hinter sich hörten. Eiskalte Angst bemächtigte sich ihrer, als sie in die vierzehn boshaft funkelnden Augen der Bestie blickten. Geistesgegenwärtig zog Till das Mädchen in den nächstgelegenen Flur. Ohne auf den Weg zu achten, rannten sie vorwärts, das verhängnisvolle Biest stets dicht auf den Fersen.

Krampfhaft umfasste Till seinen Stein, der um seinen Hals hing, und flehte, dass er ihm den richtigen Weg zeige. Nur vorwärts um Ecken, nach links und nach rechts. Doch das Tier war nicht abzuwimmeln. Da, eine Tür! Till riss sie auf und zerrte Lilly hinein. Er spürte den Widerstand eines Schlangenkopfes, der schmerzhaft eingeklemmt und dann zurückgezogen wurde. Nun rastete das Schloss ein. Für den Augenblick waren sie gerettet, aber vor der Tür hörten sie die Bewegungen der Bestie. Obwohl Till bezweifelte, dass das Tier in der Lage war, die Klinke zu drücken, ließ er sie nicht los.

„In meiner Jacke ist ein Feuerzeug!“, sagte er zu Lilly. „Lass mal sehen, wo wir sind!“

„Mist!“, entschlüpfte es ihr, als das Licht aufflackerte.

Sie waren im Turmaufgang. Die einzige Treppe, die es gab, führte hinauf zu den Zinnen und vor dem einzigen Ausgang lauerte das siebenköpfige Biest! Sie saßen in der Falle!

„Was nun?“, fragte Lilly nach einer Weile zaghaft. „Vielleicht ist die Schlange schon weg? Sollen wir nachsehen?“

„Nein! Hörst du nicht, wie sie hin und her schlängelt? Ich schlage vor, wir gehen ganz leise nach oben. Vielleicht gibt es ja doch noch eine Tür zu einer anderen Etage! Lauf du schon ein Stück vor. Ich halte so lange die Klinke fest!“

Auf Zehenspitzen schlich Lilly mit dem Feuerzeug in der Hand die Treppe hinauf, aber so weit der Lichtschein reichte, waren weder Fenster noch Türen zu sehen.

„Hier ist nichts!“, rief sie leise. „Komm jetzt lieber nach. Sonst stehst du völlig im Dunkeln.“

Vorsichtig löste Till einen Finger nach dem anderen von der Klinke und wischte den Angstschweiß an seiner Hose ab. Rückwärts, die Tür immer im Auge, ging er lautlos zur Treppe und begann den Aufstieg. Schon wollte er sich in Sicherheit wiegen, als ein Lichtstrahl durch den Türspalt drang, dem zischend der erste Kopf folgte.

„Lauf!“, schrie er, alle Vorsicht vergessend. „Lauf, Lilly und bete, dass dort oben auch eine Tür ist!“

Immer zwei Stufen auf einmal nehmend rannten sie die Treppen empor. Ihre Beine schmerzten, ihre Lungen pumpten und hinter sich hörten sie das verhängnisvolle Zischen näher kommen. Tills Blick hetzte nach oben, wo er den nächtlichen Himmel durch eine weit geöffnete Tür sah. Schon glaubte er die zuckende Zunge der Bestie im Rücken zu spüren, da wurde er von starken Armen nach oben gerissen. Dankbar und ungläubig zugleich drückte er sein Gesicht in das weiche Federkleid der Nebelkrähe. „Das war nicht eine Sekunde zu früh!“, lachte Alrick leise. Schattenhaft sah er Tibana und Lilly neben sich dahingleiten.

„Dieses Mistvieh!“, entfuhr es Till. „Wie gerne würde ich es damit füttern!“ Er zog das Pulverhorn aus der Jacke und wollte den unnützen Ballast schon fallen lassen, da rief der Elf: „Warte! Diesen Spaß machen wir uns!“

Kühn lenkte er den Vogel in einer Schleife bis dicht über den höchsten Kopf der Schlange. Geschickt ließ er das Pulverhorn in den weit aufgerissenen Rachen fallen und während sie versuchte, das Maul zu schließen, schoss ein Funke von seiner Fingerspitze zum Maul der Bestie, die mit lautem Knall explodierte. Mehrere Minuten hing ein heller, feuerroter Ring um den Turm, der mit Sicherheit sogar bis ins Dunkelelfenland zu sehen war. Als er verlosch, waren die Flüchtlinge schon längst außer Sichtweite.

Zuerst schaute Tibana nach Flora, die aber süß wie ein Engel schlief und von dem nächtlichen Ausflug der Fee und ihres Freundes Alrick nichts bemerkt hatte. Dann entfachte sie das Feuer im Herd neu, brühte Tee auf und erhitzte die Suppe. Für die Heimkehrer war augenblicklich an Schlaf nicht zu denken! Immer wieder drückte Alrick die Hände der Freunde.

„Das war unglaublich! Woher wusstet ihr, dass wir in diesem Moment auf dem Dach sein würden?“ Lilly strahlte Alrick an. „Nicht auszudenken, was ohne euch geschehen wäre!“

„Es war Tibana!“, antwortete Alrick. „Sie konnte meine Angst um dich …, um euch nicht länger ertragen und hat in die Schale gesehen!“

„In die Schale gesehen? Was bedeutet das?“

„Das ist ein sehr alter Zauber, mit dem man in einer Wasserschale andere Orte sehen kann, wenn er gelingt“, antwortete Tibana, die gerade mit den Suppenschüsseln hereinkam. „Esst etwas und dann geht schlafen. Ehe wir morgen früh aufbrechen, können wir versuchen, die Ritter zu sehen. Jetzt, da der Fluch eingesperrt ist, kann man es wieder ohne Gefahr wagen.“ Genüsslich zündete sie sich ein Pfeifchen an und trank ihren Tee. Auch sie war innerlich aufgeregter, als sie zugeben wollte.

„Und in der Schale habt ihr uns gesehen?“, fragte Lilly weiter.

„Nein, nicht richtig gesehen. Ihr wart ja unsichtbar! Aber wir haben den Kamin nicht aus den Augen gelassen. Es war so eine Mischung aus Wissen und Fühlen. Als das Licht verschwand, wussten wir, dass auch seine Wirkung nachlassen würde, und haben uns auf den Weg gemacht. Das ist alles!“

„Das ist alles? Nicht zu glauben, wie einfach das klingt! Um ein Haar hätte uns dieses Biest verspeist.“ Lilly schüttelte es bei diesem Gedanken.

„Und wenn ihr den Stein nicht geholt hättet, dann wäre Arwarah verloren. Habt ihr nicht gesehen, wie bedingungslos die Elfen Farzanah folgen? Ich möchte zu gern wissen, was dort jetzt passiert!“, sagte Alrick mit einem Seitenblick zu Tibana.

„Das wäre zu gewagt, mein Sohn!“, sagte sie. „Farzanah ist eine hervorragende Zauberin. Sie könnte mich bemerken und unser Versteck ausfindig machen. Es ist nicht nötig, zu sehen, was geschieht. Du kannst es auch so erraten. Farzanah wird toben, dass die Funken sprühen. Sie hat den Zauber verloren und ihr Schoßtierchen dazu! Sie weiß, dass ihre Armee auseinanderfallen wird, wenn die Wirkung des Zaubers nachlässt. Sobald sie kann, wird sie nach Darwylaân aufbrechen, um zu retten, was zu retten ist. Wollen wir hoffen, dass die Ritter König Arindal schon befreit haben. Auch wenn der Zauber bröckelt: Die ursprünglichen Dunkelelfen bleiben Farzanah treu ergeben.“

Nachdenklich schlürften die drei ihre Suppe. Wohlige Wärme breitete sich aus und mit ihr kam die Schläfrigkeit. Zufrieden klopfte Tibana ihre Pfeife in die Glut. Im Haus herrschte nächtlicher Frieden.

„Woher weiß der nur, dass wir aufstehen müssen?“, murmelte Till am Morgen, als der Hahn wie verrückt krähte. Er nahm sein Kopfkissen und warf es zum offenen Fenster. Das Kissen verfehlte die Öffnung und landete auf Lilly, die es lachend zurückfeuerte. Schon war die schönste Kissenschlacht im Gange. Vergessen war die Müdigkeit. Flora hüpfte zu Till auf die Bettkante und drückte ihn immer wieder.

„Da kann man ja richtig neidisch werden!“, sagte Lilly, die die beiden beobachtete. „Ihr habt das Licht, ihr habt das Licht!“, sang die Kleine, ohne auf ihre Schwester zu achten und hüpfte durchs Zimmer.

Wie so oft in den letzten Tagen hatte Tibana beim Frühstück machen gemogelt und den Zauberstab zu Hilfe genommen. Normalerweise lehnte sie solche Bequemlichkeit schlichtweg ab, aber heute war Eile geboten. „Könnten wir nicht einen kleinen Blick auf die Elfenritter werfen?“, fragte Alrick Tibana. „Ich wüsste so gern, wie es bei ihnen steht und ob sie unser kleines, nächtliches Feuerwerk bemerkt haben!“

„Hm“, Tibana machte ein nachdenkliches Gesicht. „Ich auch, mein Junge, ich auch!“ Hoffnungsvoll hingen die Augen ihrer vier Schützlinge an ihren Lippen, sodass die liebevolle Alte laut lachen musste. „Los, los! Worauf wartet ihr noch? Packt alles zusammen und zieht euch warm an. In den Bergen von Sinbughwar weht ein kalter Wind. Wenn ihr fertig seid, treffen wir uns beim Brunnen.“ Die jugendliche Schar stob auseinander und so schnell, dass man es kaum glauben konnte, waren die Rucksäcke gepackt. Viel hatten sie freilich auch nicht dabei.

„Mahyr wethro, ras sella si eyw rawh!“, flüsterte Tibana. „Ich will, dass alles so ist, wie es war!“

Während sich die Tür knarrend verschloss, flogen Teller und Becher, Töpfe und Besteck an ihren ursprünglichen Platz zurück. Wenn die Bewohner heimkehrten, würden sie nichts von den heimlichen Besuchern bemerken.

Am Brunnen zog Tibana eine silberne Schale aus ihrem Gepäck und stellte sie auf den gemauerten Rand. „Wenn ihr mir helft, dann gelingt es schneller!“, sagte sie. „Nicht sprechen, nur schauen. Bitte fasst euch an den Händen! Und jetzt denkt, so fest ihr könnt, an Lindriel, Alarion und Emetiel. Lasst sie vor eurem inneren Auge aufsteigen und lebendig werden!“

Mit der Schale in der Hand umkreiste Tibana den Brunnen, wobei sie die Augen schloss und eine leise monotone Melodie summte. Es schien, als ob alle anderen Geräusche ringsum verstummten. Die Luft knisterte förmlich und ein magischer Hauch streifte die Gesichter der Freunde. Ehrfürchtig tauchte Tibana die Schale ins Wasser und füllte sie bis zum Rand. Dann malte sie mit der Hand ein Elfensymbol darüber.

Die Wasseroberfläche erzitterte wie unter einer Berührung und als sie sich wieder glättete, sahen die Kinder das leuchtende Gesicht eines fremden Elfen. Die Züge waren schön, aber augenblicklich von Müdigkeit und erlittener Qual gekennzeichnet. Sein Haar war wirr, seine Kleidung schmutzig und blutverkrustet. Er wurde beim Laufen von zwei starken Männern gestützt, die ihn über eine steile, alte Treppe ans Tageslicht führten. Das warme Licht der aufgehenden Sonne streifte die Männer und unter dem lauten Jubel der umherstehenden Gefolgsleute wendete ihr der befreite Elf sein Antlitz zu. Da erkannten die Freunde, dass es Lindriel und Alarion waren, die ihren König gestützt hielten.

Ringsumher sah es wüst aus. Überall lagen Waffen, umgestürzte Gegenstände und Tote, die man respektvoll zur Seite getragen hatte. Da ertönte ein scharfer Pfiff über den Köpfen der Männer und alle Blicke wandten sich nach oben. Es war der tollkühne Emetiel, der von den Zinnen aus zu ihnen herab winkte. Zum Zeichen ihres Sieges über die Dunkelelfen der Burg hatte er König Arindals Flagge mit dem Zeichen des Drachen gehisst.

Die heimlichen Zuschauer wollten gerade in Jubel ausbrechen, als das Wasser in der Schale von Neuem erzitterte und urplötzlich Farzanahs wutverzerrtes Gesicht darin erschien.

„Du bist das! Hüterin der Quelle, ich erkenne dich und deine Werke. Diesmal bist du zu weit gegangen! Was kümmern mich Arindal und seine Handvoll Männer? Wenn ich das Licht wieder habe, werde ich sie mit einer einzigen Handbewegung vernichten. Du und deine Freunde, ihr seid jetzt meine wahren Gegner! Fürchtet meinen Hass! Der Zauber lebt, und ich werde ihn mir wiederholen!“

Das Wasser in der Schale begann zu dampfen und zu beben. Plötzlich schnellte eine Hand daraus hervor, die tastend um sich griff. Die Anwesenden standen wie zu Stein erstarrt. Alle, bis auf Flora! Das kleine Mädchen schnellte förmlich nach vorn, packte die Schale und leerte ihren Inhalt aus. Der Spuk war beendet.

„Beinahe wäre es übergekocht!“, sagte sie und schaute unsicher in die erschütterten Gesichter ihrer Geschwister. Wortlos riss Tibana das Kind in ihre Arme und herzte und küsste es. Dann gab sie eilig das Zeichen zum Aufbruch. Alrick rief die Krähen und binnen fünf Minuten befanden sie sich in der Luft.