II.  

Oma Gertrude

Gleich darauf ertönte Oma Gertrudes freundliche Stimme: „Till, mein Junge, bist du schon aufgestanden? Ich bin zurück! Wenn du willst, kannst du mir mit dem Mittagessen behilflich sein!“

„Ich komme!“ Till eilte die Treppe hinab und half der alten Dame, die schweren Einkaufstüten in die Küche zu tragen.

„Weißt du, wie man einen Pudding kocht?“, fragte sie, hängte ihre nasse Jacke an den Ofen und band sich eine Schürze um.

„Ja, hab’ ich schon gemacht!“

„Gut, dann würdest du mir sehr helfen, wenn du den Schokoladenpudding anrührst, während ich die Fleischbrühe ansetze. Eine Suppe, mag sie noch so lecker sein, ist doch nichts ohne einen süßen Schokoladenpudding!“, sagte sie und wischte sich mit einem Taschentuch die Regentropfen von der runzligen Stirn. Sie wollte ihm keine wirkliche Wahl lassen und schob alles Notwendige zu ihm hinüber. Till war froh, etwas tun zu können, denn obwohl er nicht schüchtern war, wusste er im Augenblick nicht, worüber er sich mit der fremden Verwandten unterhalten sollte.

Die Brühe war schnell angesetzt und Oma Gertrude machte sich daran, das Gemüse zu putzen. In der Küche begann es, lecker zu duften und Tills Befangenheit schwand.

„Welche Schalen soll ich für den Pudding nehmen?“, fragte er unter eifrigem Rühren, denn er wollte auf keinen Fall, dass der Pudding misslang. Es war schließlich seine erste Aufgabe im Haus.

„Nimm sie dir bitte aus dem Küchenschrank, gleich dort im ersten Fach!“, sagte Oma Gertrude und bezweckte damit, dass er sich heimisch fühlte.

Nachdem er die Schalen sorgsam mit kaltem Wasser ausgespült hatte, füllte er den heißen, süß duftenden Pudding hinein. „Du kannst sie zum Abkühlen aufs Fensterbrett stellen, aber gib auf Moritz acht! Er ist ein echtes Schlemmermäulchen!“

Und wirklich, kaum hatte Till die Schalen auf dem Fensterbrett postiert, sprang der kleine Kater mit einem Satz zu ihm hinauf. Mit seiner weichen Nase versuchte er an seiner Hand vorbei zu drängeln, um an die begehrte Süßigkeit zu gelangen, und Till musste über seine Beharrlichkeit lachen. Behutsam nahm er ihn auf die Arme und klappte das Küchenfenster an. Dann kratzte er die Reste aus dem Puddingtopf in Moritz‘ Fressnapf und freute sich, wie es dem Tier schmeckte.

Oma Gertrude konnte sich gut vorstellen, wie es um Tills Seele stand. Als sie vor ein paar Jahren ihren lieben Mann begraben musste, hatte das Leben lange Zeit keinen Sinn mehr für sie gehabt, und das, obwohl sie eine erwachsene, selbständige und kluge Frau war. Ihr mitleidiges Herz flog dem Jungen geradezu entgegen und da er im Augenblick mehr als empfänglich für jedes gute Wort war, kamen die beiden bestens miteinander aus. Till hatte Moritz kurzerhand in den Garten gescheucht. Nun saß er am Tisch und schnippelte Möhren, Kohlrabi, Blumenkohl und Sellerie in kleine Stücke, während Oma Gertrude sich mit ihm unterhielt.

„Wenn das Wetter etwas besser wird, dann können wir beide Mal hoch zum Waldrand laufen. Ich brauche noch ein paar spätwachsende Kräuter, die ich für den Winter trocknen will.“

„Ja, das können wir machen. Ich gehe gern in den Wald, er ist so anders als bei uns an der See. Sieht aus, als wäre es gar nicht weit.“

„Nun, da hast du recht. Wenn wir der Straße folgen, dann sind es höchstens 700 Meter, bis wir zu den Feengrotten kommen. Dort beginnt der Wald und dort sind auch die saftigen Wiesen, an deren Rain ich eine gute Stelle weiß!“

„Die Feengrotten? Was ist das? Irgendwie habe ich diesen Namen schon gehört, aber …“

„Das ist ein Schaubergwerk und es heißt ‚Jeremias Glück‘! Es könnte sein, dass du mit deinen Eltern dort warst! Obwohl, … nein! Das letzte Mal, als ihr hier wart, warst du noch zu klein dafür!“

„Und wonach hat man dort gegraben?“

„Nach Vitriol und Alaunschiefer. Alaun hat man früher zum Gerben und Färben von Leder benutzt, aber das ist schon viele, viele Jahre her. Als sich der Abbau nicht mehr lohnte, hat man das Bergwerk geschlossen und der Natur überlassen, die dort ungestört ein Wunderwerk schaffen konnte.“

„Ein Wunderwerk?“

„Aber ja! Weißt du denn nicht, dass die Natur selbst die größte Künstlerin ist?“

„Ja schon, aber bei einem Bergwerk?“

„Im Laufe der vielen Jahre haben sich dort herrliche Tropfsteine gebildet und das Besondere daran ist, dass sie farbig sind!“

„Oh, das interessiert mich!“

„Wusste ich’s doch! Du musst mit Lilly oder Oskar hingehen. Es wird dir gefallen. Es ist eine unterirdische Welt voller Geheimnisse und Abenteuer.“ Oma Gertrudes Augen leuchteten vor Begeisterung. „Das ist einer von diesen Plätzen, an dem man die Existenz andersartiger Lebewesen regelrecht spüren kann, weißt du!“

„Du meinst doch nicht etwa Feen und Elfen und so?“, fragte Till und konnte ein Grinsen nicht unterdrücken.

„Doch, doch, genau das meine ich. Der Wald birgt Leben von mannigfaltigster Natur. Du wirst schon sehen! Sei nicht von vornherein zu skeptisch!“, antwortete Gertrude mit einem seltsamen Lächeln und Till wusste nicht, ob sie es ernst meinte oder ihn einfach nur neckte.

„Und weißt du auch, wie man die Tropfsteine nennt?“, fragte sie weiter, froh darüber, ein unverfängliches Gesprächsthema gefunden zu haben.

„Peter, Klaus, Susi, Heinrich …?“

„Ach du! Die von der Decke nach unten wachsen, die nennt man Stalaktiten und die auf dem Boden, das sind die Stalagmiten“, sagte Oma Gertrude, ohne sich beirren zu lassen.

„Und wenn sie zu einer Säule zusammenwachsen?“

„Dann nennt man sie Stalagnat! Aber das kommt in den Feengrotten noch nicht so häufig vor. Es dauert eben eine lange, lange Zeit, bis so ein Tropfstein auch nur einen Zentimeter gewachsen ist.“

„Wie lange waren die Grotten denn geschlossen?“

„Genau weiß ich das nicht, lange eben. Anfang des 20. Jahrhunderts hat sie der ehemalige Besitzer Adolf Mützelburg erschließen und für Besucher begehbar machen lassen. Man hatte entdeckt, dass das mineralhaltige Wasser der Quellen gesundheitsfördernd ist. Seitdem sind sie ein beliebtes Ausflugsziel für Groß und Klein.“

„So wie du das sagst, klingt es, als ob du das bedauerst“, sagte Till und betrachtete Gertrude nachdenklich.

„Ja, ein bisschen vielleicht. Heutzutage sieht man weder Feen noch Elfen! Wegen der vielen Touristen. Weißt du, dies hier ist mein Elternhaus. Als ich ein kleines Mädchen war, lebte meine Oma bei uns, so wie ich heute bei meiner Tochter Lucie und ihrer Familie. Sie war eine weise Frau, die mir viel über Kräuter und Pflanzen, aber auch über Elfen und Feen erzählt hat.“

„Aber das waren doch nur Märchen!“, sagte Till und zog zweifelnd die Augenbrauen hoch.

„Hm? Teils, teils. Weißt du, ich glaube, es gibt einige wenige Menschen, die in der Lage sind, derartige Wesen zu sehen und zu verstehen, aber da die meisten anderen es nicht können, glaubt ihnen keiner. Ich denke, meine Oma gehörte zu den wenigen Auserwählten, die es konnten. Sie hatte ein Gespür für feinstöffliche Wesen.“

„Feinstöffliche Wesen? Was in aller Welt ist das denn?“

„Die Naturgeister und Zauberwesen natürlich!“

„Unmöglich!“, rief Till, überrascht, dass jemand wie Oma Gertrude an so etwas glaubte.

„Da bin ich anderer Meinung! Oma hat mich oft zum Beerensammeln mitgenommen. Dabei hat sie mir die alten, geheimen Stellen gezeigt, wo man sie beobachten konnte. Und überhaupt, warum zweifeln wir die Existenz von Feen, Elfen, Berg- und Baumgeistern an, obwohl ganze Völkerstämme an Engel und dergleichen glauben.“

„Hm? Und diese geheimen Stellen waren in der Nähe der Feengrotten?“ „Aber ja, was denkst du, warum sie so heißen! Elfen und Feen lieben den Tanz. Sie haben ganz besondere Festtage, da konnte man sie beim Reigen beobachten und natürlich lieben sie den Vollmond!“

„Das glaub ich nicht, nee, nee! Bei uns zuhause gibt es auch Geschichten über Wassergeister und Nixen und so, aber das ist nichts als Seemannsgarn!“

„Naja, jeder entscheidet selber, woran er glaubt oder nicht“, sagte Gertrude ein ganz klein wenig pikiert darüber, dass Till sich weigerte, ihr zu glauben, doch ihre gute Laune kehrte sofort zurück, als sie einen weiteren Einfall hatte. „Aber du, du bist eigentlich besonders geeignet mit ihnen Kontakt aufzunehmen. Du bist doch ein Sonntagskind, nicht wahr?“

„Ich weiß nicht genau, ich kann mich nicht so gut erinnern“, grinste Till übers ganze Gesicht und Gertrude bemerkte die positive Veränderung voll Freude. „Wenn wir ihn gut füttern und recht lieb haben, dann werden die schwarzen Ringe um seine Augen bald verschwinden“, dachte sie gutmütig.

„Na, dann finde es heraus. Du hast doch bestimmt auch so einen Computer!“

„Ja, wenn wir meine Sachen holen, bringe ich ihn mit!“

„Apropos Sachen … Die Suppe köchelt jetzt von allein! Wir räumen schnell auf, decken den Tisch und dann zeige ich dir, wo wir dein Zimmer einrichten werden! Hast du Lust?“

„Ja, klar!“, sagte Till ehrlich erfreut, denn er wollte nicht wirklich gern viel länger mit in Oskars Zimmer wohnen. Irgendwie war ihm das unangenehm und ungewohnt. Aber dann fiel ihm wieder ein, dass sein zukünftiges Zimmer ja eigentlich Oma Gertrudes Nähzimmer war und sie vielleicht traurig war, es herzugeben.

„Wird dir dein Nähzimmer denn nicht fehlen?“, fragte er besorgt.

„Ach, wo denkst du hin? Für die alte Nähmaschine ist Platz in der ehemaligen Futterküche. Dort ist es auch im Winter schön warm und wenn ich mal Sehnsucht nach dem Raum habe, dann komm ich zum Strümpfe stricken zu dir!“

„Ja, dagegen ist nichts einzuwenden!“

„So, nun decke ich den Tisch und du bist so gut, und holst den Pudding. Der müsste ja inzwischen kalt geworden sein.“

„Es hat aufgehört zu regnen!“, bemerkte Till, als er das Fenster öffnete.

„Das ist gut. Wollen doch hoffen, dass es noch einen schönen Altweibersommer gibt, dieses Jahr!“

Der Tisch war schnell gedeckt und die beiden gingen nach oben. Till, der immer gleich zwei Stufen auf einmal nahm, musste auf Oma Gertrude warten, die ein wenig außer Atem kam. Die beiden wendeten sich dem Teil des Hauses zu, den Till noch nicht besichtigt hatte. Der lange Flur lag über der alten Futterküche und einem Stück des ehemaligen Schweinestalles. Er hatte rechts und links je zwei Türen, von denen Till nur wusste, dass hinter der ersten das geräumige Bad und die Toilette waren. Die anderen drei Zimmer gehörten Oma Gertrude.

„Dies ist meine kleine Wohnstube. Manchmal will ich auch für mich sein, und dann ziehe ich mich hierhin zurück.“ Sie öffnete die Tür und Till blickte in ein behaglich eingerichtetes Zimmer. „Als mein Mann noch lebte, da hatten wir Oskars großes Zimmer für uns. Aber mir allein reicht das kleine. Es ist gemütlich hier.“

Till fand, dass das Zimmer die gleiche Liebenswürdigkeit ausstrahlte wie Oma Gertrude selbst. Viele Möbel waren nicht vorhanden, aber die brauchte sie ja auch nicht. Für Besucher hatte sie ein kleines Sofa mit einem Couchtisch davor. An der gegenüberliegenden Wand stand ein schönes altes Büfett, in dessen Glasteil Till hübsche Gläser und Sammeltassen entdeckte.

„Siehst du, das ist mein Lieblingsplatz!“, sagte sie und zeigte auf einen majestätischen Ohrensessel aus rotem Plüsch, der am Fenster stand. „Von dort kann ich fernsehen oder zum Fenster hinaus schauen! … Und ich habe das beste Licht zum Stricken oder Stopfen!“

Dass sie dieser Tätigkeit erst kürzlich nachgekommen war, bewies ein Wollkörbchen mit bunter Sockenwolle, in dem ein angefangener Strumpf lag. Damit die Maschen nicht von den Nadeln rutschten, hatte Gertrude sie hochkant in den Wollknäuel gesteckt.

„Jeder hier im Haus bekommt seine Strümpfe von mir“, sagte sie stolz. „Kinderfüße wachsen ständig und gute Strümpfe sind teuer! Auf diese Weise kann ich mich nützlich machen!“

Sie ging zum Wollkörbchen und holte ein paar dunkelblaue Strümpfe, die mit einem Band liebevoll zusammengebunden waren und reichte sie Till. „Die habe ich für dich gemacht. Ich hoffe, sie passen!“

„Danke sehr!“, sagte Till überrascht.

Für einen kurzen Moment standen die beiden stumm nebeneinander. „Hier, koste einen Keks! Du bist bestimmt schon hungrig“, unterbrach Gertrude die unangenehme Stille als Erste. „Wir haben es uns angewöhnt, nach der Arbeit so ein Zwischending zwischen Mittag und Kaffee zu machen. Dafür essen wir dann nicht so viel zum Abendbrot. Aber komm, wir wollten ja eigentlich das Zimmer ansehen!“

Den nächsten Raum, der Gertrudes Schlafzimmer barg, ließen sie unbesichtigt und kamen zum Nähzimmer.

„Die Wände brauchen natürlich einen neuen Anstrich, aber sonst ist hier alles modernisiert worden. Gut, die Fußbodendielen sind alt, aber das wollte Phil so lassen, weil es zum Stil des Hauses passt.“ Sie blickte sich um. „Im Laufe der Zeit hat sich hier so einiges angesammelt, was auf den Speicher gebracht oder weggeworfen werden kann.“

„Ich will aber keine Umstände machen!“, sagte Till und zu seinem Ärger spürte er, wie ihm die Tränen in die Augen stiegen. Jetzt bloß nicht heulen! Das wäre zu peinlich. So gut kannte er keinen hier, dass sie ihn beim Heulen sehen sollten.

„Das Besondere an diesem Zimmer ist der kleine Balkon hier. Siehst du?“ Oma Gertrude zog die Gardine zur Seite und jetzt sah er, dass der Raum nicht zwei Fenster besaß wie er geglaubt hatte, sondern ein Fenster und eine kleine Tür.

„Früher waren das mal die Gesinderäume und es gab eine Holztreppe zum Stall hinunter. Phil hat das alles erneuert. Du kannst ruhig auf die kleine Balustrade hinausgehen.“

„Das ist ja prima! Da wundert es mich aber, dass keiner von den anderen das Zimmer für sich wollte!“

„Naja, Oskar hatte schon ein Auge darauf geworfen, aber Phil und Lucie haben gesagt, du sollst etwas Neues haben, etwas, das extra für dich gemacht worden ist.“

Draußen vor dem Haus klappten Autotüren und laute, fröhliche Stimmen wurden hörbar.

„Ah, sie kommen! Dann wollen wir nach unten gehen. Kommst du mit?“

„Ja!“ Till lauschte auf das Lachen in der Diele und da war es wieder, dieses unangenehme Gefühl, nicht dazuzugehören. Egal wie nett er sie fand und egal wie viel Mühe sie sich gaben, er gehörte nicht dazu. Da er nicht einmal mehr Großeltern hatte, gehörte er eigentlich nur sich selbst. Dieser Gedanke machte ihm Mut. Warum war er nicht schon früher darauf gekommen. Er gehörte sich selbst. Er brauchte niemanden! Doch noch ehe die harten Gedanken sein Herz verschließen konnten, stapften kleine Füße die Treppe hinauf und Flora kam ihm mit wehenden Zöpfen entgegengerannt.

„Till, Till!“, rief sie. „Komm wir wollen essen. Was hast du den ganzen Tag gemacht? Hast du dich gelangweilt?“

„Hallo mein Liebling!“, rief Oma Gertrude ihr entgegen. „Nun frag dem Till nicht gleich ein Loch in den Bauch!“

„Ich will aber wissen, was er gemacht hat. Ich habe ihm ein Geschenk gebastelt!“ Sie zog ein zusammengefaltetes Stück Papier aus der Hosentasche, das sich als ein Papierdeckchen entpuppte, auf dem mit Pinseldruck ein Muster gearbeitet war. „Eigentlich wollte ich es als Tischdecke für meinen Puppentisch, aber nun sollst du es haben!“ Sie streckte ihm das Deckchen entgegen, das er etwas ungeschickt ergriff.

Er betrachtete es und sagte diplomatisch: „Danke sehr, aber im Augenblick habe ich noch keinen richtigen Platz dafür. Wie wäre es, wenn du es so lange für mich aufhebst, bis mein Zimmer fertig ist.“

„Gute Idee! Komm! Wir legen es so lange auf den Tisch!“

Sie zog Till kurzerhand hinter sich her in ihr Zimmer, geradewegs zur kleinen Teegesellschaft.

„Hallo meine Lieben!“, begrüßte sie die Püppchen und Plüschtiere. „Was habt ihr nur ohne mich gemacht?“ Geschickt rückte sie die Tassen und Teller zurecht, um Platz für das Deckchen zu machen. Dabei drückte sie Till die Zuckerdose in die Hand, die dieser nun zum zweiten Mal mit Erstaunen betrachtete, war ihm doch so, als ob sich die kleine Figur gerade bewegt hätte! Aber nein, das war unmöglich. Er hob den Gegenstand unmittelbar vor seine Augen und war wiederum von seiner Schönheit fasziniert, aber sonst hatten ihm wohl seine überreizten Nerven einen Streich gespielt. Und überhaupt, was für ein winziger Mechanismus wäre nötig, um eine so kleine Figur zu bewegen!

Tante Lucie rief aus der Küche und eilig stellten sie Dose und Puppengeschirr wieder an ihren Platz. Ein letzter Blick und sie gingen nach unten.

In der Küche herrschte ein lustiges Tohuwabohu, das bei Tills Eintreten jäh verstummte. Oskar und Lilly, die gemeinsam das Böll-Gymnasium besuchten, hatten ihre Tageserlebnisse ausgetauscht und fanden ihre gute Laune in Tills Gegenwart irgendwie unangebracht.

„Hallo Till!“, sagte Tante Lucie, um die unangenehme Stille zu unterbrechen. „Oma Gertrude hat mir erzählt, wie gut ihr den Tag zusammen verbracht habt. Danke für deine Kochhilfe! Setz dich und lass es dir schmecken!“

Während des Essens legte sich die Befangenheit der Kinder und das Gespräch wendete sich wieder den alltäglichen Dingen zu. Till war froh, nicht im Mittelpunkt des Geschehens zu stehen. Normalität war genau das, was er jetzt brauchte. Später am Nachmittag kam Onkel Phil nach Hause. Er hatte einen Anruf aus Hamburg erhalten. Der Hausherr von Tills elterlicher Wohnung hatte bereits einen Nachmieter gefunden und drängte darauf, dass die Wohnung geräumt werden sollte.

„Auf der einen Seite ist es von Vorteil, die Miete nicht länger bezahlen zu müssen“, erklärte er Till. „Auf der anderen Seite ist es vielleicht noch zu früh für dich, den Haushalt aufzulösen. Ich kann mir gut vorstellen, dass es dir große Schmerzen bereitet.“

„Ich, ich weiß nicht genau …“, stotterte Till.

„Wenn du möchtest, kannst du hier bei Oma Gertrude bleiben, während Lucie und ich nach Hamburg fahren, um die Angelegenheit für dich zu regeln. Du müsstest uns aber sagen, wie wir in deinem Sinne verfahren sollen. Wir wollen, dass alles so ist, wie du es dir wünschst.“

„Danke sehr! Ich denke, ich wäre froh, hier zu bleiben. Ich, ich …“, antwortete Till mit zitternder, versagender Stimme. Plötzlich brach der Damm und die so lang zurückgehaltenen Tränen bahnten sich ihren Weg. Schluchzend stand er in der Küche und fand sich im nächsten Moment in Tante Lucies Armen wieder. Es dauerte lange, bis sich die einmal geöffneten Schleusen wieder schlossen und danach fühlte sich Till so zerschlagen, dass Tante Lucie ihn mit einer gehörigen Portion Baldriantropfen zu Bett brachte.

Oskar, der eigentlich an seinem Schlagzeug üben wollte, maulte und machte ein saures Gesicht. „Ach Ma, ich hab‘ doch am nächsten Samstag das Vorspiel!“, sagte er vorwurfsvoll, als seine Mutter ihn mit einem Kopfnicken hinausschickte. „Wie soll ich da bestehen, wenn ich nicht üben kann?“

„Darüber sprechen wir später! Jetzt komm, wir wollen Till schlafen lassen.“ Zärtlich strich sie ihm mit der Hand über das strubblige Haar. „Ruh dich aus, ja, und wenn irgendwas ist, dann rufst du mich!“

Till nickte erschöpft und beschämt. Er wollte einfach nur allein sein und weinen.

„Aber ich brauche meinen Computer!“, protestierte Oskar noch einmal. „Kann ich nicht wenigstens leise daran arbeiten?“

„Hast du Hausaufgaben zu machen?“

„Nee! Ich wollte nur chatten.“

„Dann gehst du ins Arbeitszimmer und wenn das nicht geht, dann chattest du heute mal nicht. Du sitzt sowieso viel zu oft und zu lange an dem Ding!“

„An Papas Computer kann man nicht gescheit arbeiten. Das Teil ist lahm wie sonst was!“, maulte er beim Hinuntergehen. „Am besten wir legen Till mit in Floras Zimmer, die muss sowieso auch gleich ins Bett!“

„Du weißt so gut wie ich, dass dort kein Platz ist. Und außerdem ist es nicht für lange. Sobald Papa Zeit hat, werden wir das Nähzimmer renovieren.“

„Wenn er Zeit hat? Na dann dauert es hundert Jahre.“

In der Küche trafen sie Lilly, die Moritz auf den Knien hatte und wohlig sein weiches Fell kraulte.

„Oder wir legen ihn so lange mit in Lillys Zimmer. Die zwei sind fast gleich alt und Platz ist genug.“

„Du hast wohl ein Rad ab!“ Lilly hielt abrupt in ihrer Tätigkeit inne. „Nichts gegen Till, aber kein hirnloses, männliches Wesen wird auch nur einen Tag lang in meinem Zimmer wohnen!“, sagte sie aufgebracht. „Er ist doch gut aufgehoben, wo er jetzt ist. Da kann er gleich noch maskulinen Unsinn dazulernen, den er bis jetzt nicht weiß!“

„Und von dir kann er lernen, wie ein emanzipierter Eiszapfen aussieht!“, zischte Oskar zurück.

„Aber hallo!“ Lucie ging stirnrunzelnd zwischen die beiden Kampfhähne. „Was soll denn das? Könnt ihr eure pubertären Anwandlungen nicht mal für ein, zwei Wochen unterdrücken? Hier ist eine Tragödie geschehen und ihr benehmt euch wie Egoisten! Der Junge hat alles verloren, was ihm lieb war und außer uns hat er niemanden! Ihr solltet euch wirklich schämen!“ Beinahe hätte sie vor Wut mit dem Fuß aufgestampft. In der Küche war es still.

„Du hast ja recht“, flüsterte Oskar schließlich und sah seine Schwester hilfesuchend an.

„Ja, du hast recht, Ma! Es tut uns leid!“, pflichtete diese ihrem Bruder ausnahmsweise bei.

„Ab und zu verstehe ich euch nicht!“, fuhr Lucie die Gelegenheit ausnutzend fort. „Wieso seid ihr nur manchmal wie Hund und Katze zueinander?“

„Na weil Lilly alles hasst, was männlich ist! Die ganze Schule weiß es.“

„Ja und du bist so ein Frauenversteher! Dauernd werde ich von irgendwelchen Weibern angequatscht. Kannst du mir ein Date mit deinem coolen Bruder vermitteln, Lilly? Hast du nicht ein Bild von ihm? Gib mir doch mal seine Handynummer. Er sieht sooo gut aus. Nicht auszuhalten!“, fauchte Lilly zurück.

„Was kann ich dafür? Es gibt halt auch Mädchen, die Kerle wie mich mögen! Und sie mögen meine Musik!“ Ärgerlich ging Oskar in die Diele hinaus und zog seine alte Lederjacke über. „Ich esse bei Tom!“, sagte er und schlug die Tür zu.

Phil kam aus der Garage und Lilly nutzte die günstige Gelegenheit, sich aus der Gefahrenzone zurückzuziehen.

„Ich hatte das Gefühl, dass der Astra komische Geräusche beim Fahren macht“, sagte er, während er zur Spüle ging, um sich die Hände zu waschen. „Ich werde morgen früh zum Autohaus fahren! Die sollen mal nachsehen. Da kann ich gleich fragen, ob wir einen Transporter mieten können und was es kostet. In den Astra passt nicht genug rein.“

„Gute Idee, Phil! Du machst das schon.“

„Was war denn los? Warum ist Lilly so sauer?“

„Ach, es gab mal wieder einen Bruder-Schwester-Disput. Wir fahren also am Samstag?“

„Tja, in Anbetracht der langen Fahrtzeit und der Wege, die zu erledigen sind, ist es besser, ich nehme eine Woche Urlaub. Wir brauchen bestimmt ein paar Tage vor Ort, denkst du nicht auch?“

„Hm, dann müssen wir Oma Gertrude aber lange mit der ganzen Bande allein lassen. Ob sie das schafft?“

„Ach, deine Mutter hat ein goldenes Händchen, was die Kinder angeht, und die zwei Großen können sich doch verdammt noch mal zusammennehmen. Wieso gehen die nur andauernd aufeinander los? Von wem haben die das nur?“

„Von niemandem! Es ist nur so eine Phase, die vorübergeht. Wenn es hart auf hart kommt, dann halten sie zusammen, da bin ich mir ganz sicher, Phil!“

„Ja, ich eigentlich auch. Ich würde es auch nicht anders ertragen! Habe so schon genug um die Ohren!“

„Ich weiß! Geh in die Stube und mach es dir bequem. Ich bring Flora ins Bett!“