VI.  

Rückkehr und Aufbruch

„Alrick! Alrick! Mann … Mann hast du mich erschreckt!“, flüsterte er aufgeregt. „Hey, tut das gut, dich zu sehen!“ Er stellte die Dose zurück und stürzte sich geradezu in die Arme des Freundes. „Lilly und ich haben so viel an dich gedacht! Wie kommst du hierher und was ist geschehen? Wieso …?“

„Pst, Till! Pst! Ich freue mich auch, dich zu sehen, aber du alarmierst die ganze Nachbarschaft! Das sind ein bisschen viele Fragen auf einmal, denkst du nicht?“

„Ja schon, aber ich will trotzdem Antworten!“

„Ti-hill!“, rief Flora vom Flur aus. „Wo bleibst du denn? Ich soll doch jetzt schlafen und …!“

Ehe Till es verhindern konnte, trat Flora ins Zimmer und blieb wie angewurzelt stehen. Mit weit aufgerissenen Augen starrte sie Alrick an. Dann lief sie zu Till, griff nach seiner Hand und zog so lange daran, bis er sich zu ihr hinunterbeugte, damit sie in sein Ohr flüstern konnte: „Der Mann da, der sieht aus wie Alrick.“

„Ja, das muss so sein, denn ich bin es ja auch!“, sagte der Elf und hockte sich auf den Boden. „Guten Abend, Flora. Hast du mein Geschenk bekommen?“

„Ein Geschenk? Nein. Aber bist du denn nicht mehr verzaubert?“

„Ich wollte es ihr gerade bringen. Ich, äh, ich habe auf die richtige Gelegenheit gewartet“, sagte Till verlegen.

„Das ist schon in Ordnung. Dann kann ich es Flora auch selbst geben. Das ist sowieso viel schöner!“

„Und ich hole Lilly!“, sagte Till und flitzte davon.

War das eine Wiedersehensfreude! Lilly war sprachlos vor Glück und das sollte was heißen, denn sie war in der Regel alles andere als auf den Mund gefallen.

Die drei Menschenkinder und der junge Elf saßen im Kreis auf dem Boden und nachdem Flora ihren Ring erhalten und eine etwas verharmloste Geschichte über Alricks Rettung gehört hatte, kamen sie zu den neueren Ereignissen. Alrick war etwas verlegen, weil er Flora eigentlich nichts von den schlimmen Vorkommnissen im Feenreich erzählen wollte, aber die Kleine ließ sich partout nicht abweisen.

„Nun ja“, begann er, „als ich euch verabschiedet hatte, kehrte ich nach Arwarah zurück. Obwohl die Nacht schon beinahe vorüber war, beschloss ich, noch ein wenig zu schlafen, denn auch mich hatten die vergangenen Ereignisse erschöpft und ehrlich gesagt, genoss ich das herrliche Gefühl, nach so langer Zeit wieder ausgestreckt unter einem Baum oder Busch im weichen Gras zu nächtigen. Was für ein Elf wäre ich, liebte ich den feinen Duft von weichem Moos und würzigen Waldkräutern nicht? Den Dämmerzustand, in dem ich mich von Zeit zu Zeit auf der silbernen Dose befand, den kann man wirklich nicht mit Schlaf vergleichen!“

Alrick erschauderte, als er sich an die lange Zeit seiner Gefangenschaft erinnerte, dann berichtete er weiter: „Dennoch schlief ich nicht bis in den Tag hinein. Die innere Unruhe weckte mich bald und ich begab mich auf den weiten Weg zur Festung. Was ich unterwegs sah, liebe Freunde, das übertraf auch meine schlimmsten Befürchtungen. Ich kam nur langsam voran, denn die geheimen Waldpfade der Elfen und Feen waren von Pflanzen überwuchert, so als ob sie schon lange kein Fuß mehr betreten hätte. Die Bäume und Sträucher nahe der Behausungen waren ungepflegt. Mein Schritt wurde eiliger, mein Herz schlug wild bei jedem Meter. Ich betrat ein Dorf der Taurih-Waldelfen, bei denen ich früher schon oft und gern Gast gewesen war, aber sie bezeugten mir die gewohnte Aufmerksamkeit nicht. Im Gegenteil, sie waren mürrisch und unfreundlich und selbst dort, in ihren wunderbaren Baumhauskolonien, herrschte Streit und Verwahrlosung. Sie erwiderten meinen freundlichen Gruß nicht, boten mir weder Speise noch Trank an, obwohl sie sahen, dass ich durstig war und meine Kleider staubig von einer langen Reise. Und was das Schlimmste war, sie verweigerten mir die Auskunft über König Arindal und sein Gefolge. Getrieben von Angst und Bestürzung eilte ich weiter, bis ich zur Mittagszeit das nächste Dorf erreichte, in dem, so empfand ich mit Schrecken, die Unfreundlichkeit und Verwahrlosung noch größer war! Wie es schien, verschlimmerte sich alles, je tiefer ich ins Elfenland hineinlief.“

Die Kinder wagten nicht zu sprechen, so waren sie von Alricks Erzählung gefesselt, aber als Flora sah, dass eine Träne in seinem Augenwinkel glänzte, ergriff sie seine Hand und drückte sie fest. Alrick räusperte sich verlegen, bis er die Fassung wiedergewonnen hatte, und fuhr fort.

„Viele Gedanken schossen durch meinen Kopf und letztendlich befürchtete ich, dass dies die Auswirkungen eines dunklen Zaubers sein mussten. Und wer anderes als Farzanah webte sie? Und noch eine Ahnung wuchs in meinem Herzen, nämlich, dass ich mich selbst in große Gefahr bringen würde, wenn ich geradewegs zur Festung lief. Ich hockte mich auf einen Baumstumpf und überlegte angestrengt, wohin ich mich wenden könnte. Wer war stark genug, um einem dunklen Zauber zu widerstehen und mir dabei im Herzen wohlgesonnen?

Tibana! Beinahe hätte ich den Namen meiner alten Patin herausgeschrien. Erschrocken drückte ich meine Hand auf den Mund. Wieso hatte ich nicht gleich an sie gedacht? Tibana ist eine uralte, weise Fee, die in der äußersten Abgeschiedenheit des Waldes an einem Weiher lebt, der durch eine klare Quelle gespeist wird. Sofort fühlte ich mich ein bisschen besser, denn wenn jemand in der Lage war, sich gegen einen bösen Zauber zu schützen, dann war es Tibana. Und wenn sie unversehrt war, dann könnte sie mir auch Auskunft geben.

Gedacht, getan! Sofort machte ich mich auf den Weg. Es war ein anstrengender Marsch durch unwegsames Gelände, über dicht bewachsene Berge und schattige Täler, aber ich gönnte mir keine Pause. Die untergehende Sonne hing wie ein roter Lampion am Himmel und verfärbte die Wolken geheimnisvoll, als ich endlich Tibanas Lichtung betrat. Ich kann euch kaum beschreiben, wie groß meine Freude war, ihre Behausung und auch sie selbst unversehrt vorzufinden. Ach und nicht nur unversehrt, sondern gerüstet für den Besuch eines lieben Freundes. In ihrer unbegreiflichen Weitsicht hatte sie meine Ankunft vorausgesehen und erwartete mich bereits!

‚Alrick, mein Junge!‘, sagte sie und legte grüßend die Hand auf ihr Herz. ‚Sei willkommen! Ich habe auf dich gehofft. Nun ist die Zeit für König Arindals Rettung gekommen. Tritt herein, erfrische und labe dich. Wir haben vieles zu besprechen!‘ Sie zauberte warmes Wasser in einen Zuber und legte mir saubere Kleidung bereit.

Obwohl mich die Neugier wahrlich quälte, folgte ich der Etikette, wusch mich zunächst, aß und trank. Währenddessen saß Tibana still beim Feuer und wartete geduldig, bis ich fertig war. Dann wies sie stumm auf den Lehnstuhl ihr gegenüber und zündete sich ein Pfeifchen an. Ich nahm Platz und betrachtete ihr runzliges Gesicht im Schein des Feuers. Dem Alter war es nicht gelungen, die Spuren ihrer einstigen Schönheit zu verwischen und in ihren leuchtend blauen Augen blitzten noch immer der Glanz und das Feuer der Jugend. Ihr Haar war schneeweiß und fiel ihr in langen, duftigen Strähnen über die Schultern. Sie war in ein seidiges, lindgrünes Gewand gekleidet und obwohl sie sich beim Gehen auf einen Stab stützte, war ihre Gestalt nicht weniger grazil als vor Jahren. Wie alt mochte sie sein? Ihr müsst wissen, dass die Zeit im Feenreich ganz anders vergeht als im Menschenland. Überhaupt ist sie bei uns von viel geringerer Bedeutung als hier!

‚So, so. Es gibt also doch noch Sonntagskinder, die fest an uns glauben!‘, begann sie das Gespräch und paffte einige lustige Rauchkringel in die Luft. ‚Wie freue ich mich, dass du Farzanahs Bann entronnen bist.‘

Da sie so offensichtlich von euch wusste, zögerte ich nicht, ihr haarklein zu berichten, wie sich alles zugetragen hat.

‚Diese Menschenkinder waren sehr mutig! Ich glaube, du hast gute Freunde gefunden und gute Freunde sind mehr wert als alle Schätze der Welt. Wir werden ihre Hilfe brauchen!‘, sagte sie nachdenklich. ‚Während du weg warst, hat sich hier leider nichts zum Guten gewandelt. Farzanah hat nicht nur die Zwerge und Kobolde auf ihre Seite gezogen, auch die Trolle, Gnome und die Dryaden haben sich ihr unterworfen. Das Heer der Dunkelelfen wächst mit jedem Tag.‘

‚Wie ist das nur möglich?‘, fragte ich. ‚Auf dem Weg hierher wollte ich beim Volk der Taurih rasten, aber sie begegneten mir abweisend, fast möchte ich sagen feindlich. Und nicht nur das, ich glaube auch, dass sie ihre Wohngebiete vernachlässigen.‘

‚Mein lieber Junge!‘, sagte Tibana mit einem Ernst in der Stimme, der mich das Schlimmste erwarten ließ. „Ich weiß nicht genau, wie sie es getan hat, aber Farzanah hat das Elfenlicht von Arwarah verzaubert! Glücklicherweise ist ihr ursprünglicher Plan, den Lichtkristall zu zerstören, gescheitert, doch anstelle des segenreichen, reinen Lichtes strahlt nun ein alles verderbendes, bösartiges, schwarzes Gift in die Herzen der Lichtelfen von ganz Arwarah. Wer damit in Berührung kommt, wird bösartig und schließt sich der dunklen Fee bedingungslos an!‘

‚Das Licht verhext?! Beim allmächtigen Feenzauber, wie konnte ihr das gelingen? Es steht seit Elfengedenken im königlichen Rittersaal und wird praktisch ständig bewacht!‘

‚Bis jetzt fehlte mir jede Gelegenheit, einen Zeugen zu befragen. Doch soweit ich weiß, spielte die Hinterlist der Zwerge eine große Rolle dabei. Sie haben ihr geholfen, Zutritt zu erlangen. Farzanahs böser Zauber hat den Rest erledigt. Er war so stark, dass er selbst die edlen Elfenritter lähmte, die sich zum Schutz Arindals in der Halle versammelt hatten. Wer in den Bann des dunklen Zaubers geriet, verlor die Kontrolle über seinen klaren Verstand.‘

‚Und was bezweckt sie damit?‘

‚Sie will das Reich der Lichtelfen auslöschen und ihre dunkle Herrschaft über das gesamte Elfenland ausbreiten!‘

‚Und König Arindal? Weißt du etwas über ihn?‘

‚Nur so viel, dass Farzanah ihn nicht getötet hat. Offenbar bereitet es ihr Vergnügen, ihn leiden zu sehen und darum hat sie ihn bisher vom schwarzen Zauber ausgeschlossen. Nun ist er gezwungen, dem Verfall seines Landes hilflos zuzusehen. Ich nehme an, dass sie ihn in ihr Reich Darwylaân verschleppt hat, damit sie sich täglich an seinem Unglück weiden kann.‘

‚Woher hast du nur all diese Informationen? Und vor allem, wie konntest du dich vor ihrem Zauber schützen?‘

‚Diese beiden Fragen kann ich dir mit einem Mal beantworten, mein Sohn! Durch die magische Kraft meiner Quelle. In all den Jahren, in denen ich hier lebe, hat sich mein Geist mit dem Geist der Quelle verbunden. Ihre Reinheit und ihre Kraft haben mich vor dem bösen Zauber bewahrt. Die Herrin der Quellen ist sehr weise und gütig! In den frühen Morgenstunden, wenn der Nebel vom Wasser aufsteigt, besucht sie mich und manchmal vermag ich durch sie Bilder in der geglätteten Oberfläche zu sehen.‘

‚Ach, daher wusstest du, dass ich komme!‘

‚Jawohl! Entfernung oder Zeit, nichts spielte je eine Rolle bei diesen Visionen, doch wenn ich jetzt versuche, Arindals Festung zu sehen, dann ist alles in ein undurchdringliches Schwarz gehüllt.‘

‚Wir müssen etwas unternehmen!‘, rief ich verzweifelt. Ihr müsst wissen, dass das Licht von Arwarah seit Anbeginn der Welt im Besitz der Lichtelfen und Feen ist. Es ist praktisch das, was uns überhaupt zu Lichtelfen macht! Ein Symbol dafür, dass Liebe, Friedfertigkeit und Standhaftigkeit in unseren Herzen niemals versiegen.

Wir saßen beisammen und sprachen die halbe Nacht lang. Wir schmiedeten waghalsige Pläne, nur um sie im nächsten Augenblick wieder zu verwerfen. Erst als uns die Müdigkeit zu übermannen drohte, gingen wir zu Bett.

Der kurze Schlaf brachte mir nicht die gewünschte Erholung, denn selbst im Traum war mir bewusst, dass der böse Zauber mit jedem Atemzug wächst und die Herzen der Einwohner Arwarahs vergiftet. Es war nur eine Frage der Zeit, bis alle, mich eingeschlossen, betroffen sein würden.

Das blasse Licht des jungen Morgens tauchte jeden Gegenstand des Zimmers in matte Farben, als Tibana mich sacht aus meinem unruhigen Schlummer weckte.

‚Alrick, mein Sohn‘, sagte sie, ‚lass uns keine Zeit verlieren! Beim ersten Tagesschein habe ich die Quelle befragt und was ich gesehen habe, gefällt mir nicht! Der schwarze Zauber breitet sich aus. Immer mehr Landstriche Arwarahs werden von ihm verschlungen. Gestern war ich nicht fähig, die Festung zu sehen und heute war mir schon der Blick in die Täler der Floraden verwehrt!‘

Das Volk der Floraden ist für die Zucht und die Hege der verschiedenartigsten Pflanzen bekannt. Seine Felder und Wiesen sind schöner als die prächtigsten, berühmtesten Gärten und seine Saatgüter und Pflanzen sind weit über die Grenzen Arwarahs hinaus begehrt. Doch lange Rede, kurzer Sinn. Tibana und ich kamen zum Schluss, dass jedes weitere Zögern die Lage verschlimmern würde. Wir müssen handeln, aber wir wissen auch, dass wir dabei Hilfe brauchen. Tibana und ich können es allein nicht schaffen und darum bin ich hier!“

Einen kurzen Moment lang schwiegen Lilly, Flora und Till, erschüttert von Alricks Bericht. „Aber wie bist du nur so schnell wieder zurückgekommen?“, wollte Till dann wissen.

„Tibana bat die Herrin der Quellen mir zu helfen. Die Wasserfee ist sehr mächtig. Sie hat dem Bach befohlen, anzuschwellen, und als er gewaltig genug war, um ein Floß zu tragen, bin ich bis in die Nähe des Tores getragen worden.“

„Wie in aller Welt …?“

„In Arwarah ist alles anders als hier. Wenn ihr es seht, dann werdet ihr es verstehen!“ Aufgeregt blickte er in die Gesichter seiner Freunde. „Es gefällt mir ehrlich nicht, euch zu fragen und noch mehr missfällt mir, euch in Gefahr zu bringen, aber solange Farzanah nicht von euch weiß, seid ihr als Menschen gegen diesen Feenzauber gefeit, und leider kenne ich sonst niemanden, der mir helfen könnte!“

Nach dieser für einen Elfen unüblich langen Rede, blickte Alrick stumm in die Gesichter seiner Freunde. Die Kinder sagten zunächst nichts, da ihre Gedanken noch bei seiner Geschichte weilten. Nach geraumer Zeit endlich, räusperte sich Lilly und sprach: „Wenn ich dir eine Hilfe sein kann, dann werde ich mit dir kommen! Obwohl ich dich erst so kurze Zeit kenne, weiß ich doch, dass du uns nicht unüberlegt in Gefahr bringen würdest, wenn du eine andere Wahl hättest.“

„Dem schließe ich mich voll und ganz an!“, sagte nun Till. „Aber dazu müssen wir einige Dinge genau klären und …“

„Und ich komme auch mit!“ Flora kämpfte verbissen gegen die Müdigkeit. „Und wenn ihr sagt, ich bin zu klein, dann sage ich alles Oma Gertrude!“

Till und Lilly sahen sich vielsagend an.

„Das würdest du nicht wagen!“, zischte die große Schwester.

„Doch!“ Die Antwort war so kurz und bündig, dass sie keinen Zweifel aufkommen ließ.

„Du bist viel zu klein! Du würdest uns nur hinderlich sein! Wer soll denn die ganze Zeit auf dich aufpassen?“ Lilly war wütend. „Ich muss hier schon dauernd für dich da sein!“, fauchte sie unüberlegt und wünschte sich schon im nächsten Augenblick, die Worte zurücknehmen zu können. „Du bist so gemein!“, rief Flora den Tränen nahe. „Wenn ich nicht an Alrick geglaubt hätte, dann wäre er noch immer verzaubert. Und überhaupt, ich geh jetzt ins Bett!“

Unsicher ging sie zur Tür, aber als niemand etwas sagte, drückte sie die Klinke nieder und ging hinaus.

„Ich schau mal, ob sie zugedeckt ist“, meinte Till gespielt lässig. „Ich … ich will nicht, dass sie traurig ist!“

Nur zu gut erinnerte er sich an den Tag auf dem Friedhof, als Flora ihm ohne zu fragen seine Hand gehalten hatte. Hier war guter Rat teuer. Eigentlich war er der gleichen Meinung wie Lilly, aber musste sie Flora das so hart sagen? Gerade jetzt hatten sie keine Zeit zum Streiten!

Als er in Floras Zimmer kam, hörte er leises Schluchzen unter der Bettdecke. Er fühlte sich befangen, denn er war es nicht gewohnt, eine schutzbefohlene kleine Schwester zu haben. „Was hätte Mama jetzt getan?“ Vorsichtig zog er die Bettdecke zurück und strich mit der Hand über das seidige, rote Haar seiner kleinen Cousine.

„Ach, weine doch nicht!“, sagte er sanft. „Lilly meint es nicht so. Wir sind alle müde und aufgeregt. Sie hat dich lieb und darum will sie nicht, dass dir etwas geschieht.“ Flora sagte nichts, aber das Schluchzen hatte aufgehört. „Am besten wir schlafen erst einmal. Heute wird eh nichts mehr entschieden. Morgen haben wir neue Kraft und dann sehen wir weiter!“

Plötzlich spürte er Floras Arme um seinen Hals. Das Mädchen hatte sich aufgesetzt.

„Ich habe Alrick sooo lieb!“, sagte sie. „Und dich auch!“ Nachdenklich spielte Flora mit dem Ring, den Alrick ihr geschenkt hatte.

„Verlier ihn nicht im Schlaf!“, sagte er und strich Flora liebevoll übers Haar. Sekunden später war das kleine Mädchen bereits eingeschlafen.

Unsicher kehrte er zu Lilly und Alrick zurück, die beide still auf ihn gewartet hatten.

„Sie ist eingeschlafen“, sagte Till leise.

„Ich wollte das nicht! Ehrlich!“ Lilly war traurig und wütend zugleich.

„Ich habe einfach nur gedacht, dass es schwierig ist, sie mitzunehmen. Es ist auch hier manchmal hinderlich und dabei handelt es sich um ungefährlichere, alltägliche Wege.“

„Das ist eine blöde Situation, wirklich!“ Till war ratlos.

„Ich könnte schon auf sie aufpassen!“, meinte Alrick. „Sie ist kein Baby mehr! Und wenn wir ein wenig Glück haben …?“

„Was müssen wir denn tun?“, fragte Till. „Ich habe so gar keine Vorstellung von den Dingen, die auf uns zukommen!“

„Tja, ganz genau kann ich es auch nicht sagen. Es wird sich … äh … es wird sich irgendwie entwickeln, denke ich!“

„Irgendwie?“, fragte Lilly. „Ist das nicht ein wenig vage?“

„Ja, das ist es. Aber nur vorübergehend. Tibana wollte die Quelle befragen, während ich euch hole. Sie meinte, die Herrin der Quellen würde wissen, was zu tun ist.“

„Oh, dann werden wir die Fee kennenlernen! Wie schön!“

„Aber ja! Natürlich werdet ihr sie kennenlernen. Wir gehen direkt zu ihr.“

„Da wäre noch ein Problem und ich bin mehr als gespannt, wie du das lösen willst“, sagte Lilly.

„Und das wäre?“

„Wie können wir über eine längere Zeit von hier weggehen, ohne dass es Oma Gertrude, Oskar und die Eltern merken, und sie würden es niemals erlauben!“

„Ach so, das!“, grinste Alrick verschmitzt. „Das mache ich schon! Aber jetzt muss ich ausruhen. Ich bin so müde! Ich habe fast gar nicht geschlafen, seit ich von euch weg bin. Habt ihr ein Plätzchen für mich?“

„Du kannst bei mir auf dem Sofa schlafen. Da bist du sicher. Oskar oder Oma gehen niemals in mein Zimmer!“, sagte Lilly.

„Oh!“, entfuhr es Till grinsend.

„Was denn, oh?“, wiederholte Lilly mit leicht drohendem Unterton.

„Und was ist mit: ‚Kein männliches Wesen kommt jemals in mein Zimmer‘?“ Till konnte vor Lachen fast nicht an sich halten.

„Das ist die Ausnahme der Ausnahmen! Oder hast du eine bessere Idee?“

„Nun, ich könnte auch im Stall …“, sagte Alrick, der den scherzhaften Disput zwischen den beiden nicht recht deuten konnte. „Ich kann mich verkleinern, dann brauche ich nicht viel Platz, es wäre nur so viel bequemer, wenn ich …“

„Papperlapapp!“, rief Lilly. „Bist du nicht die letzten hundert Jahre klein gewesen?“, fragte sie Alrick, der schüchtern nickte. „Na also! Bei Till geht es nicht wegen Oskar. Bei Flora ist kein Platz. Im Elternschlafzimmer lüftet Oma täglich. Hier ist noch kein Bett und eine weitere Möglichkeit gibt es nicht. Also los! Ich gehe zuerst ins Bad!“

Till und Alrick sahen sich schulterzuckend an. Hier war jede Widerrede zwecklos und in Wahrheit waren alle froh, endlich ins Bett gehen zu können.

Till blinzelte mit einem Auge, als Oskars Wecker am Morgen klingelte. Dann drehte er sich, im Bewusstsein nicht aufstehen zu müssen, genüsslich auf die andere Seite. Als er zum zweiten Mal erwachte, war es seltsam ruhig im Haus. Richtig, heute war der letzte Schultag und alle waren ausgeflogen. Alle bis auf Oma Gertrude und … Alrick! Beim Gedanken an den Elfen sprang Till sofort aus den Federn. Er schlich über den Flur zu Lillys Zimmer und spähte durchs Schlüsselloch. Im selben Moment öffnete sich die Tür von Omas Stube und Till machte einen Satz Richtung Bad.

„Guten Morgen, Till!“, sagte sie freundlich wie immer. „Wie geht es dir heute?“

„Gut, danke. Ich wollte gerade ins Bad.“

„Ja, nutze die Zeit, so lange du allein bist. Später wollen die jungen Leute wieder alle duschen und sich für den Freitagabend herausputzen!“

„Wie gut, dass endlich Ferien sind! Ich kam mir schon richtig faul vor!“

„Ach so, du meinst, gemeinsam faulenzt es sich besser?“ Gertrude schmunzelte vor sich hin. „Ich hoffe, du gehst wieder mit den anderen mit. Nicht, dass ich denke, die Trauer sei vergangen, aber dein Herz heilt mit etwas Ablenkung besser!“

„Wenn sie wüsste!“, dachte Till und biss sich auf die Lippen, weil er Oma Gertrude sehr mochte. „Mal sehen, was Lilly so geplant hat. Heute kommen doch alle schon eher aus der Schule. Dann werden wir sehen!“

„Genau! Darum habe ich auch eine Bitte an dich. Ich habe jetzt einen Friseurtermin und wollte dich bitten, um halb zwölf Uhr den Herd anzustellen. Ich habe Auflauf vorbereitet. Er braucht nicht länger als eine halbe Stunde zu garen, und zu Mittag bin ich wieder zurück.“

„Ja, geht klar!“, antwortete Till, froh darüber, dass sich manche Probleme von selbst lösten.

„Auf dem Rückweg bringe ich Flora mit. Du bist heute ein Glückspilz! Frühstück steht auf dem Tisch!“

„Danke sehr!“

Gertrude hatte ihre leichte Herbststrickjacke übergezogen und stieg die Treppe hinab.

„Also dann, bis später Till!“

„Bis später!“

Till hatte die Worte noch nicht ganz ausgesprochen, als die Tür zu Lillys Zimmer einen Spalt weit geöffnet wurde und Alricks strubbliger Kopf zum Vorschein kam.

„Du kannst ruhig rauskommen! Die Luft ist rein!“, sagte Till grinsend.

„Die Luft ist rein? Du hast keine Ahnung, wie reine Luft riecht!“, antwortete Alrick, der Tills Ausspruch wörtlich nahm. „Die gute Luft Arwarahs kann man nicht mit der schlechten Luft hier vergleichen!“

„Ach komm“, sagte Till, der fand, dass nicht alles auf der Erde schlecht ist. „So schlimm ist es ja nun auch wieder nicht. Lass uns frühstücken. Ich habe einen Bärenhunger! Was isst du denn überhaupt?“ Till sprang immer gleich zwei Stufen auf einmal hinab und erschrak, weil der Elf trotzdem schon unten auf ihn wartete.

„Ambrosia und Tautropfen“, antwortete Alrick und musste vor Lachen losprusten, als er Tills fassungslose Miene sah. „Nein, aber von der Menschennahrung vertrage ich nicht alles. Ich brauche eigentlich nichts, ich habe noch genug von Tibanas Elfenbrot in meiner Tasche.“

Till blickte von Alrick nach oben zum Treppenabsatz und wieder zurück. „Wie hast du das gemacht?“

„Was denn?“

„Na, wie bist du hierunter gekommen? Du warst doch eben noch hinter mir!“

„Ach so, das! Das können alle Elfen!“

„Das ist fantastisch! Kann ich das lernen?“

„Ich fürchte, nein!“

„Was für Tricks hast du denn noch auf Lager?“, fragte Till und setzte sich auf die Küchenbank.

„Du meinst, Magie?“

Till nickte gespannt.

Alrick schaute sich suchend um und entdeckte Moritz, der zusammengeringelt vorm Herd schlief. „Schau auf den Kater!“

Langsam streckte er die Hand aus und zeichnete mit dem Zeigefinger eigenartige Kringel in die Luft. Sein Gesicht glühte vor Eifer und Till hörte ihn leise in der Elfensprache flüstern. „Mahyr wilhwaár dahyr doorh ze gwynlathum! Dahyr var ter Luûmghi!“

Im selben Augenblick löste sich ein leuchtender Funken von seiner Fingerspitze. Till traute seinen Augen nicht und rieb sie, aber der Funke blieb. Als Alrick die Worte wiederholte, schwebte er lautlos durch die Küche, bis er Moritz‘ kleines spitzes Ohr erreichte. Der Kater war inzwischen aufgewacht und versuchte den glitzernden Punkt mit seinen Pfötchen zu fangen. Es war so lustig anzusehen, dass Till lachen musste. Im nächsten Moment wuchs der Stern, wobei sein Licht heller und heller strahlte, sodass Till letztlich die Augen schließen musste. Als er sie wieder öffnete, war das Licht verschwunden und Lilly saß vor dem Herd.

„Lilly? … Wieso bist du …? Wo ist Moritz?“

Verwirrt drehte er sich nach dem Kater um, konnte ihn aber nirgends entdecken.

„Das ist ein Gwynlath Luûmghi“, sagte Alrick mit vor Stolz geschwollener Brust. „Ein Illusions- oder Verwandlungszauber! Ich habe dir doch schon davon erzählt.“

„Ja, im Märchendom, aber ich hätte nicht gedacht, dass es auch bei Lebewesen geht. Das ist ja voll abgefahren!“

„Ja, und so ähnlich werden wir auch eure Abwesenheit vertuschen.“

„Aber du kannst Moritz nicht auf Dauer in Lilly verwandeln. Oma Gertrude würde ihn vermissen und sehr traurig sein.“

„Wen würde Oma vermissen?“, fragte Lilly, die gerade zur Tür hereinkam.

„Moritz!“, antworteten die beiden wie aus einem Mund und zeigten auf das verwandelte Tier.

Deutlich hörte Till, wie Lilly den Atem anhielt. Dann hob sie die Hand und zeigte auf ihr Abbild, welches noch immer vorm Ofen kauerte.

„Waa… was in aller Welt ist das?“ Ihre Stimme klang vor Schreck heiser. Sie machte einen Schritt auf das Mädchen zu, blieb aber dann unsicher stehen.

„Das ist ein Gwynlath Luûmghi, erinnerst du dich nicht? Ein Zauber, so wie in den Feengrotten. Um etwas vorzutäuschen“, sagte Till stolz, etwas besser zu wissen.

„Ja, ich erinnere mich! Aber es ist komisch, sich selbst zu sehen, und noch dazu, wie ich mir genüsslich die Hände ablecke.“

Die drei mussten herzlich lachen. Nur Moritz' Äußeres hatte sich verändert, nicht aber seine Gewohnheiten und Charakterzüge.

„Tolles Ding, das ist aber nicht ausreichend, um unser Verschwinden zu verschleiern. Stell dir vor, Oskar brummt mich an, und statt ihm die kalte Schulter zu zeigen, wie er’s gewohnt ist, fange ich an zu schnurren und zu miauen. Nicht ganz unauffällig, oder?“

„Nein, wir haben noch eine bessere Möglichkeit, aber die könnten wir beim Frühstück besprechen. Ich habe jetzt doch Hunger!“

Alrick klatschte leise in die Hände und Moritz verwandelte sich zurück. Anscheinend hatte er genug davon, Versuchskaninchen zu sein, denn er suchte so plötzlich das Weite, dass die drei wiederum lachen mussten.

„Wann wollen wir aufbrechen?“, fragte Till mit vollen Backen kauend. „Ich denke, dass ist der wichtigste Punkt, den wir klären sollten.“

„Nein, das Wichtigste ist, was wir mit Flora machen!“, antwortete Lilly. „Kannst du ihr nicht auch einen Vergessenszauber anhexen?“

„Das wäre bestimmt möglich, aber ich würde es nur sehr ungern tun. Ich denke, wir nehmen sie mit. Wir könnten sie bei Tibana lassen.“

„Das ist eine super Idee. Das würde ihr bestimmt gefallen und dort kann sie keinem was verraten.“

Lilly war mit Alricks Idee mehr als zufrieden.

„Vielleicht kann sie etwas über Blumen und andere Pflanzen lernen. Das macht sie recht gern. Wann wollen wir also aufbrechen?“

„Ich dachte, so bald wie möglich. Da wir auf Flora warten und noch ein paar Sachen einpacken müssen, könnte es nach dem Essen losgehen, wenn es euch recht ist.“

„Müssen wir denn den Zauber nicht irgendwie vorbereiten?“, fragte Till, dem alles zu leicht erschien.

„Das hat Tibana schon gemacht! Sie hat einen Kräutertrunk vorbereitet, den ich in meiner Tasche habe.“

Er schnipste mit dem Finger und war im nächsten Augenblick verschwunden, doch bevor Lilly Till fragen konnte, wohin er sei, war er bereits wieder zurück.

„Also, das mit der Magie, das macht einen wirklich verrückt! Du solltest uns ein bisschen vorbereiten, wenn du sie anwendest. Man erschrickt immer so!“, schmollte Lilly.

„Ach was, daran müsst ihr euch gewöhnen!“, antwortete Alrick und zog eine kleine, seltsam aussehende Flasche hervor. „Ich meine, du würdest auch nicht darauf verzichten, wenn du es könntest und du damit schneller ans Ziel kämst, oder?“

„Na gut, das gebe ich zu. Angeblich gewöhnt man sich ja an alles! Und was hast du nun eigentlich in der kleinen Flasche da?“

Lilly öffnete den Korken und roch vorsichtig daran. „Es riecht fremdartig, aber gut!“

„Von so etwas habe ich null Ahnung!“ Till nahm auch eine Nase voll. „Riecht fast wie der Kräuterschnaps, den die Seeleute immer trinken.“

„Wie gesagt, diesen Trunk hat Tibana gebraut. Ich weiß nicht genau, was drin ist. Mit Sicherheit jede Menge Alraune! Doch ihr müsst verzeihen“, fuhr er verlegen fort, „es ist uns nicht erlaubt, die Elfenrezepte an die Menschen weiterzugeben! Menschen haben ihre eigene Magie!“ Dabei strahlte er Lilly so liebevoll an, dass selbst die kleine Besserwisserin zustimmte.

„Ist ja auch egal. Hauptsache es wirkt.“

„Darauf kannst du dich verlassen! Wichtig ist nur, dass du deinem Doppelgänger möglichst nicht begegnest. Sie haben das Verlangen in den Ursprungskörper zurückzukehren, sobald sie ihn erblicken und wenn das vorzeitig geschieht, dann sind wir angeschmiert. Man darf diesen Trunk nämlich nur in großen Abständen zu sich nehmen, sonst wird man krank!“

„Dann brauchen wir einen guten Zeitplan. Was ist mit Essen und Klamotten?“, fragte Lilly, während sie Papier und Bleistift zückte.

„Und was ist mit Waffen?“, fragte Till vorsichtig. „Wir werden Farzanah doch nicht ohne irgendwas entgegentreten?“

„Also Essen und Kleidung nur so viel, wie ihr mit Leichtigkeit tragen könnt und worauf ihr nicht verzichten wollt. Tibana wird euch einkleiden, und die Wälder und Flüsse Arwarahs bieten reichlich Nahrung.“

„Gut! Apropos Essen. Ich muss ja den Herd anmachen. In einer halben Stunde kommt Oma mit Flora!“

Till beeilte sich, seine Aufgabe zu erledigen, und während sie den Tisch deckten, ging die Beratung weiter.

„Mit welcher Art von Waffe könnt ihr denn umgehen?“, fragte Alrick. „Ich bin ein ganz guter Schwertkämpfer, aber am liebsten benutze ich den Bogen wie die meisten Elfenjäger!“

„Ach du meine Güte, da können wir wohl nicht recht mitreden!“, antwortete Till verlegen. „Ich kann ganz gut mit einem Luftgewehr schießen, aber so etwas kommt sicher nicht infrage, oder?“

„Ich weiß nicht, was das ist, aber wenn du gut im Schießen bist, dann kannst du auch lernen, den Bogen zu benutzen. Was ist mit dir, Lilly? Können Erdenmädchen auch Fechten und Bogenschießen?“

„Ich bin mir nicht sicher. Einmal habe ich bei Ritterspielen mit der Armbrust geschossen, da war ich ganz gut. Aber ich kann etwas Karate und ich kann reiten!“

„Du kannst Karate?“, fragte Till beeindruckt.

„Naja, nicht so wie die Kämpfer im Fernsehen, aber gut genug, um einen Kerl wie dich aufs Kreuz zu legen, denke ich. Das war mal so ein Trend an der Schule. Alle Mädchen wollten sich verteidigen können und da hab ich mitgemacht!“

„Ich sehe schon, da müssen wir unterwegs noch etwas tun, aber immerhin. Ich denke, wir kriegen das hin.“

„Gut, dann treffen wir uns nach dem Essen in Tills Zimmer, das ist am günstigsten, weil wir notfalls zum Balkon runter können. Ich ziehe mich um und suche auch für Flora Sachen zusammen. Brauchen wir Schlafsäcke?“

„Was ist das?“

„Das sind warme Decken, die man an der Seite zumachen kann.“

„Das kann nicht schaden! Aber denkt dran: Ihr müsst tragen, was ihr mitnehmt, und der Weg ist weit!“

„Der Weg wohin ist weit?“, fragte Oma Gertrude, die im selben Augenblick in die Küche getreten war. Die Kinder waren so in ihre Vorbereitungen vertieft gewesen, dass sie ihr Kommen nicht bemerkt hatten. Lilly und Till erschraken und drehten sich sofort nach Alrick um, aber von dem Elfen war keine Spur zu sehen.

„Äh, ach wir suchen nur nach einem geeigneten Ziel für den nächsten Wandertag! Is‘ nicht wirklich wichtig!“, log Lilly mit schlechtem Gewissen.

„Danke, dass ihr den Auflauf nicht vergessen habt. Er duftet schon gut, findet ihr nicht? Und den Tisch habt ihr auch schon gedeckt, das ist ja prima.“

„Wo ist denn Flora?“, fragte Lilly.

„Sie muss schon nach oben gegangen sein!“

„Dann gehen wir mal und begrüßen sie“, meinte Lilly ganz unverfänglich, wie sie hoffte.

„Nanu, was ist denn mit euch los? Wenn ich’s nicht besser wüsste, würde ich denken, ihr habt was ausgefressen?“ Oma Gertrude begann, ihre Einkaufstasche zu leeren. „Wie war der letzte Schultag?“

„Das erzähle ich dir gleich!“, kam die Antwort bereits von der Treppe.

Wie Lilly sich gedacht hatte, war Flora sofort zu Alrick gerannt. Die beiden unterhielten sich einträchtig im Flüsterton und hatten begonnen, ein paar Kleidungsstücke aus dem Schrank zu nehmen.

„Ich will aber auch meine Puppe und den Bären Brumm mitnehmen!“, sagte sie gerade zu Alrick, als die beiden eintraten.

„Genau so habe ich’s mir vorgestellt!“, maulte Lilly gleich los. „Wir können doch nicht den ganzen Puppenkram mitnehmen! Mann, so klein bist du nun auch nicht mehr. Immerhin kommst du nächstes Jahr in die Schule!“

„Na gut, dann lasse ich die Lissy-Puppe hier, aber Brumm kommt mit! Ich gehe niemals ohne Brumm irgendwohin.“

„Ich gehe niemals ohne Brumm irgendwohin“, äffte Lilly sie nach.

„Hey, das ist doch kein Problem! Deswegen muss man nicht streiten …“, sagte Alrick versöhnlich. Er holte eine kleine Dose aus der Tasche seines Wamses und streute eine winzige Prise des Inhaltes auf Brumm, der augenblicklich auf eine Größe von 15 Zentimetern schrumpfte.

„Nun binden wir ihm einen Schal um, damit du ihn am Rucksack festmachen kannst.“

„Trallala! Sieh doch mal! Nun kann ich ihn doch mitnehmen! Ätsch! Wie wunderbar. Trallala!“

Flora hüpfte vor Freude vor ihrer Schwester hin und her, die davon aber kaum Notiz nahm, sondern Alrick bewundernd anstrahlte.

„Du findest auch für jedes Problem eine Lösung, oder?“

„Naja, so lange sie so leicht zu lösen sind! Ich denke, wir haben dann alles, bis auf diese Schlaftaschen.“

„Schlafsäcke!“

„Ja, genau! Und nun möchte ich euch sicherheitshalber noch einmal fragen: Seid ihr gewiss, dass ihr das für mich tun wollt? Flora, vor allem du? Wirst du Sehnsucht nach Hause bekommen? Wenn wir erst unterwegs sind, dann können wir nicht umkehren!“

„Nein! Ihr seid doch alle bei mir! Und du hast gesagt, du passt auf mich und Brumm auf!“

„Versprochen! Lilly? Till?“

„Ich mache keinen Rückzieher!“

„Ich auch nicht!“

„Gut, dann geht jetzt essen. Wir treffen uns bei Till! Bringt bitte drei Becher und ein feuerfestes Gefäß mit!“

Das Mittagessen verlief ein wenig schweigsamer als sonst. Jedes der Kinder hatte irgendwie ein schlechtes Gewissen, Oma Gertrude und sogar Oskar gegenüber, aber der Wunsch, Alrick zu helfen und Arwarah zu befreien, wog viel schwerer. Glücklicherweise pflegte die Großmutter nach dem Essen ein Mittagschläfchen zu halten und somit verschaffte sie den Kindern eine günstige Gelegenheit für den Zauber. Oskar ging wie gewöhnlich an sein Schlagzeug, um zu üben, und dabei war er meistens so vertieft, dass an eine Störung seinerseits nicht zu denken war.

Nachdem sie den letzten Teller in den Geschirrspüler geräumt hatten, kamen sie in Tills Zimmer zusammen. Sie setzten sich im Kreis auf den Boden und stellten die Becher und eine irdene Schale erwartungsvoll vor sich hin.

„Wir brauchen noch etwas Wasser, und wenn du so gut bist Till, dann schließ die Tür hinter dir ab. Es wäre etwas unangenehm, wenn wir jetzt erwischt würden!“

Nachdem auch dies geschehen war, zog Alrick ein kleines sichelförmiges Messer aus der Tasche und legte es zu den anderen Dingen in die Mitte des Kreises.

„Liebe Freunde“, begann er feierlich, „ich muss euch bitten, mich während der Zeremonie nicht zu unterbrechen, denn sie verlangt allerhöchste Konzentration. Ein Fehler meinerseits könnte schwerwiegende Folgen haben!“

„Du meinst, wir wachen auf und haben einen Katzenschwanz?“, grinste Lilly.

„Naja, so ungefähr! Zuerst werde ich die Elfenmächte rufen, damit sie unserem Zauber freundlich gesonnen sind. Das Wohlwollen der Mächte bedarf natürlich eines Opfers, deshalb werde ich jedem von euch eine Haarsträhne abschneiden und verbrennen. Das Nächste und das Wichtigste, das ich benötige, ist ein Tropfen eures Blutes. Habe keine Angst Flora, es tut nicht sehr weh! Du musst dabei ganz fest an König Arindal denken, den wir aus den Händen der bösen Fee Farzanah retten wollen. Wirst du tapfer sein?“

Man sah deutlich, wie das Kindergesichtchen um eine Schattierung blasser wurde, aber dennoch nickte Flora ernst.

„Alles, was eure spezifischen Eigenheiten, euren Charakter ausmacht, das ist im Blut verankert. Ich brauche es, damit euch euer Ebenbild nicht nur haargenau gleicht, sondern auch so handelt und denkt, wie ihr es tut! Das alles wird euch wunderlich vorkommen, doch bitte ich euch, mir einfach zu vertrauen. Ist der Zauber erst einmal vollbracht, müssen wir das Haus so schnell wie möglich verlassen!“

Da keines der Kinder Einwand erhob, setzte er sich bequem in den Schneidersitz und begann, seine magischen Kräfte zu zentrieren, indem er sich sanft mit dem Oberkörper hin und her wiegte. Er hatte die Augen geschlossen und summte leise eine wohlklingende Melodie. Die Energie im Raum steigerte sich, bis sie förmlich als Prickeln auf der Haut zu spüren war. Ein Knistern lag in der Luft, dass sich die kleinen Härchen im Nacken aufstellten. Nach einer Weile stand Alrick auf, ging zu Flora und schnitt ihr vorsichtig eine kleine Haarlocke ab, die er in die irdene Schale legte. Die kleine Opfergabe verglühte mit leisem Zischen zu Staub. Würdevoll schritt der Elf zum Fenster und streute die verbliebene Asche in den Herbstwind.

Als Nächstes nahm Alrick Floras kleine Hand fest in die seine und während die Augen des Mädchens ehrfurchtsvoll auf ihn gerichtet waren, machte er mit dem Zeremonienmesser einen winzigen Schnitt in ihren Handballen. Flora zuckte ein wenig und drückte mit der anderen Hand Brumm an ihr Herz, aber es kam keine Klage über ihre Lippen und als Alrick ihr aufmunternd zunickte, lächelte sie erleichtert. Der Elf ließ den glitzernden Blutstropfen in Floras Becher fallen und bevor er ihn in den Kreis zurückstellte, goss er etwas vom magischen Kräutersud hinzu. Eine seltsam feierliche Ruhe herrschte im Zimmer, während er dieses Ritual mit Lilly und Till wiederholte.

Als alle drei Becher gefüllt waren, kniete Alrick nieder, hielt die ausgestreckten Hände darüber und sprach: „Vanmari mahyr wethro zawin dahyr owland!“, was in menschlicher Sprache „So lange ich will, wirst du andauern!“ bedeutete. Dann zog er ein kleines Päckchen aus seiner Jackentasche und als er die aus Seide gearbeitete Hülle entfernte, kam ein hübscher silberner Spiegel zum Vorschein. Alrick nahm Floras Becher und reichte ihn dem Mädchen mit der stummen Aufforderung, ihn zu leeren. Gehorsam setzte das Mädchen den Becher an die Lippen und trank. Dann nahm er den Spiegel und hielt ihn vor Floras Gesicht. „Hauche ihn an!“, forderte er das kleine Mädchen auf, das seinem Wort wiederum Folge leistete und zusah, wie ihr Bild im Spiegel verblasste.

„Dilbaar ambare!“, rief Alrick leise. Und noch einmal: „Flora, dilbaar ambare!“ Abbild erscheine!

Mit weit aufgerissenen Augen blickte Flora in den beschlagenen Spiegel und da, ganz, ganz langsam kehrte ihr Spiegelbild zurück. Aber was war das? Sollte der Spiegel nicht genau das zeigen, was sie gerade tat? Nur andersherum? Die Flora im Spiegel, die glich ihr wie ein Ei dem anderen, aber sie lachte, ja wirklich, sie lachte und das, obwohl doch alles eine so ernste Angelegenheit war! Schon öffnete Flora den Mund, um etwas zu sagen, doch Alrick legte warnend den Finger auf seine Lippen, bevor er zu Lilly und Till ging und den Zauber noch zweimal wiederholte.

„Seid ihr dann so weit?“, flüsterte er. „Ich werde jetzt die Abbilder befreien, während ihr bitte eure Sachen holt. Wir treffen uns ein kleines Stück oberhalb der Feengrotten!“

Till nahm Flora bei der Hand und ging folgsam mit ihr auf den Flur hinaus. Lilly folgte ihnen auf dem Fuß, aber der Wunsch zu sehen, was Alrick als Nächstes tat, war größer als ihr Gehorsam, darum blieb sie auf der Schwelle stehen und schaute zurück. Der Elf stand ihr seitlich gegenüber, aber ein Vorhang aus schönem Haar verhinderte, dass sie sein Gesicht sehen konnte. Er hatte den silbernen Spiegel auf den Boden gelegt und rief leise: „Mahyr wilhwaár dilbaar meok ambare!“ Ich befehle dir zu erscheinen! und noch zweimal: „Mahyr wilhwaár dilbaar meok ambare!“

Auf einmal sah es aus, als ob sich die silbergraue Oberfläche des Spiegels verflüssigte. Lilly, die vor Aufregung nicht zu atmen wagte, beobachtete erstaunt, wie sich zunächst eine Hand, dann ein Arm und schließlich eine perfekt aussehende Flora aus dem Spiegelinneren lösten. Das Doppelgängermädchen strich sich in aller Seelenruhe die Kleider glatt, lächelte Alrick an und strebte dann der Zimmertür zu.

„Unglaublich!“, Lilly flüsterte nur, aber es war laut genug, dass Alrick sie bemerkte und sie sofort durch Zeichen aufforderte, den Raum zu verlassen. Mit klopfendem Herzen folgte sie der Anweisung des Elfen und ging zu Till und Flora, die bereits fertig ausgerüstet auf sie warteten.

„Ihr glaubt nicht, was ich gesehen habe!“, flüsterte sie aufgeregt, während sie die Jacke überzog. „Deine Doppelgängerin, so perfekt wie nur irgend möglich!“

„Aber Alrick hat gesagt …“, wollte die Kleine zurückflüstern.

„Ja, ja! Ich weiß doch, was er gesagt hat. Es war nicht meine Absicht! Ist einfach so passiert. Aber ich will mein eigenes auch sehen!“

„Kommt nicht infrage! Du kannst doch nicht alles riskieren, nur weil du dich selber mal sehen willst!“ Till schüttelte den Kopf.

„Ach, und dir ist es wohl gleichgültig, ja? Du stehst sozusagen über den Dingen?“, antwortete Lilly spitz, weil sie wusste, dass Till eigentlich recht hatte.

„Nein, aber lass uns nicht streiten! Komm jetzt lieber!“

Sie nahmen ihr Gepäck und schlichen sich leise zur Tür hinaus. Es war ein ungutes Gefühl, die freundliche Großmutter und sogar Oskar so zu hintergehen, aber sobald der frische, noch warme Herbstwind um ihre Nasen wehte, packte sie die Abenteuerlust und sie liefen so schnell sie die Füße trugen den Berg hinauf Richtung Feengrotten. In der goldenen Nachmittagssonne war Lillys Unmut schnell verflogen und im Geheimen musste sie sich eingestehen, dass sie töricht gehandelt hatte. Sie nahm sich vor, heute besonders nett zu Till zu sein.

Verwundert schaute sich Till auf dem halb verlassenen Parkplatz um. Noch vor einer Woche hatte es hier von Touristen nur so gewimmelt. Wo waren sie alle? Lediglich ein einzelner Reisebus und zwei PKW warteten auf die Rückkehr ihrer Insassen.

„Im Herbst haben sie veränderte Öffnungszeiten“, sagte Lilly, die Tills Verwunderung bemerkt hatte. Sie ging an die große Informationstafel und fuhr mit dem Zeigefinger die Zeilen entlang. „Die letzte Führung hat schon begonnen. Lass uns hochgehen und auf Alrick warten!“

Flora an den Händen haltend liefen die drei Kinder den steilen Weg zum Bergwerk hinauf. Niemand nahm Notiz von ihnen. Die Ladeninhaber waren eifrig damit beschäftigt, die bunten Auslagen einzuräumen und die Geschäfte für den heutigen Tag abzuschließen. Selbst die Fenster der Mantelausgabe waren bereits verschlossen.

Die drei Kinder gingen ein Stück weit am Eingang vorbei, so als wollten sie den Weg zum Wald weiter folgen.

„Ich bin gespannt, was Alrick erzählt!“, sagte Flora und hob einen Tannenzapfen auf. „Den nehme ich Tibana mit. Sie wird sich freuen, etwas aus unserer Welt zu bekommen!“

„Das ist eine gute Idee! Vielleicht sehen die Tannenzapfen im Elfenreich anders aus. Was meint ihr, wie wir hineinkommen?“, fragte Till, während er ungeduldig den Weg zurückblickte.

„Ich dachte, wir gehen zur Quelle am Tanzplatz.“

„Dann hätten wir uns auch dort treffen können, oder?“

„Ja, dann hätten wir uns auch dort treffen können!“, sagte Alrick, der plötzlich lachend hinter ihnen stand. „Zur Feier des Tages wollte ich aber lieber den alten Eingang nehmen. Sozusagen als gutes Omen und aus Tradition.“

„Aber die Tür ist schon abgeschlossen!“, antworteten Flora und Lilly wie aus einem Mund.

„Elfen und Feen lassen sich nur selten von Türen aufhalten. Seid ihr bereit?“ Alrick hatte unterdessen etwas aus einem kleinen Lederbeutel genommen.

„Ja!“

„Gut, dann gib mir die Hand, Lilly, und fasst auch einander an!“

Folgsam bildeten die drei mit Alrick eine Kette. Der Elf holte aus und streute den funkelnden Inhalt seiner Hand in hohem Bogen über die Köpfe der staunenden Kinder. „Mahyr wilhwaár salen chmer!“ Ich befehle dir, lass mich hinein! Mit der freien Hand zeichnete er ein Symbol über den Fels, der sich daraufhin wie von Zauberhand öffnete. Nein, als Öffnen konnte man es eigentlich nicht bezeichnen. Es war vielmehr so, als ob der harte Fels durchsichtig wurde und sie mitten hineinlaufen konnten!

„Heiliges Kanonenrohr!“, flüsterte Till. „Das gibt’s doch nicht!“

„Alrick kann eben alles!“, sagte Flora hinter ihm.

„Ja, es scheint mir auch so!“

Gedämpftes Licht drang durch die Spalte und Till sah, dass sie sich unmittelbar in der Nähe der Heilgrotte befanden.

„Bleibt einen Moment hier stehen! Ich weiß, wo es Leuchtkristalle gibt.“ Alrick verschwand lautlos in der Dunkelheit.

„Ich wette, dass das Feenstaub war!“ Lillys Augen glänzten vor Aufregung. „Ich habe im Almanach davon gelesen. Sie benutzen ihn, um …“

„Wir haben gesehen, wofür sie ihn benutzen! Es war unglaublich, und ich frage mich, ob es noch immer wirkt?“ Till lief auf den nächstbesten erkennbaren Felsen zu und fluchte leise, als er von der harten Steinwand abprallte. „Schade, es geht nicht mehr!“

„Natürlich nicht, man muss auch die richtigen Zeichen und Worte dazu kennen.“ Alrick stand grinsend hinter ihm. „Aber es war ein netter Versuch. Hier bitte, nehmt jeder einen davon!“ Er öffnete seine Hände, die er bis dahin schützend über etwas gehalten hatte und sofort erhellte sich die Grotte in ihrer Umgebung. „Das sind Leuchtkristalle. Sie wachsen in dem Gang, den die Menschen Barbarastollen nennen. Es sind leider noch Menschen im Berg, darum sind wir hier oben hineingegangen. Lauft vorsichtig, damit sie uns nicht hören!“

„Es ist wie am Martinstag!“, flüsterte Flora aufgeregt, während sie an Alricks Hand durch die Gänge stiefelte und mit der anderen den Kristall vor sich her trug.

„Martinstag? Was ist das?“

„Ein Fest! Ein Fest für die Kinder. Da gibt es die Martinshörnchen, die sind zum Teilen, und jeder trägt eine Laterne. Mama sagt, der heilige Martin hat seinen Mantel mit einem Bettler geteilt und wir Kinder sollen auch lernen, wie man teilt.“

„Dann war dieser Martin ein guter Mensch! Und ihr seid auch gute Menschen, denn ihr teilt die Sorge und die Gefahr mit mir! Pst! Hört ihr? Sie sind noch da vorn. Wir müssen einen Augenblick warten“, sagte er und hielt im langen Stollen inne. „Sie sind schon auf dem Weg nach draußen!“

Schnell steckten die Kinder die Leuchtkristalle in die Jackentaschen und warteten aneinandergedrückt in der Dunkelheit. Schwacher Lichtschimmer huschte gespenstisch an den schroffen Wänden entlang, dann war es vorbei.

„Sie sind weg! Wir können weitergehen!“, sagte der Elf und stieg die steile Treppe hinab.

Endlich erreichten sie den Märchendom und obwohl sie diesmal auf den bezaubernden Anblick vorbereitet waren, blieben sie dennoch staunend am Eingang der Grotte stehen.

„Ist das schon das Feenland?“, fragte Flora leise.

„Noch nicht ganz, aber wir sind schon ganz nah. Hier haben wir mit Huckeduûster Grindelwarz gekämpft und Alrick befreit“, sagte Lilly stolz.

„Hier? Wo ist er jetzt?“

„Gute Frage! Siehst du den spitzen Stein dort oben, gleich neben der Mauer?“

„Ja!“

„Dort ist sein verzauberter Gang. Dort ist er herausgekommen.“

Flora versteckte sich hinter Alricks Beinen. „Ich will aber nicht, dass er jetzt kommt. Er ist böse und er könnte uns etwas tun!“

„Nein!“, antwortete Alrick und beugte sich zu Flora hinab. „Er ist jetzt nicht hier. Ich wette, er ist auf dem Weg zu Farzanah. Du brauchst dich nicht zu fürchten! Und schon gar nicht, wenn ich bei dir bin. Außerdem ist er ein Zwerg. Er ist viel kleiner als du!“

„Kleiner als ich?“

„Ja, sogar wenn er seine Mütze auf hat!“

„Wirklich? Dann habe ich keine Angst mehr vor ihm!“

„Gut! Seid ihr bereit?“

„Ja!“

„Dann rufe ich das Boot.“

Till, Lilly und Flora traten an die Seite der kleinen Staumauer und obwohl die beiden größeren Kinder das Schauspiel bereits kannten, beobachteten sie Alrick mit unumwundener Ehrfurcht.

Der junge Elf stand aufrecht am Ufer und streckte seinen Arm wie beim ersten Mal gebieterisch über das Wasser. Leise flüsterte er die elfische Formel und sogleich tanzten die Lichtfunken von seinen Fingerspitzen bis in den Hintergrund der Grotte.

„Das ist wie im Märchen!“, rief Flora. „Wie bei Sterntaler!“ Und gleich darauf: „Au! Warum puffst du mich!“

„Pst! Wie soll er sich denn konzentrieren?“ Lilly hatte die kleine Schwester etwas unsanft in die Seite gestupst. „Du darfst nicht immer so laut sein. Wer weiß, wer uns alles hört!“

Flora vergaß die Worte der Schwester und der Unmut, der gerade in ihr aufsteigen wollte, schwand, als sich die Tropfsteine an der gewölbten Decke hundertfach im Wasser widerspiegelten. Alrick zog die silberne Flöte hervor und spielte dieselbe feine Melodie, die sie bei ihrer ersten Fahrt schon einmal gehört hatten. Ein sanfter Wind erhob sich und trug den Duft süßer Blüten zu ihnen herüber. Dann kam das Boot. Lautlos und majestätisch glitt es über die spiegelglatte Wasseroberfläche bis an die kleine Staumauer heran.

„Oh sieh nur!“ Diesmal hauchte Flora ihre Worte nur. „Es ist aus lauter Blättern gemacht und an seinem Mast hängen Glockenblumen! Wie schön!“

„Also dann, meine Freunde!“ Alrick hatte sich umgedreht. „Dann wollen wir den Übergang wagen! Und diesmal wird euer Besuch länger dauern!“

Vorsichtig hob er Flora auf die Mauer, von der aus sie problemlos ins Innere des Bootes kletterte. Dann schwebte er selbst hinauf, um Lilly von oben die Hand zu reichen. Till sprang als letzter behände über die Reling und nahm neben Lilly auf der Bootsbank Platz. Als Alrick den Zauberspruch wiederholte, nahm das Boot geräuschlos Fahrt auf. Noch einmal setzte er die Flöte an die Lippen und mit jedem zarten Ton verdichtete sich der aufsteigende Nebel über dem Wasser. Als er sich nach einer Weile wieder auflöste, war der schützende Illusionszauber verschwunden, und vor den erwartungsvollen Augen der Kinder lag das bezaubernde Ufer Arwarahs in der sanften Nachmittagssonne.

„Willkommen in Arwarah!“, sagte der Elf feierlich, als das Boot am Ufer anlegte. „Mögen die Geister uns wohlgesonnen sein und im Kampf gegen das Böse beistehen!“

Einen Moment lang herrschte ergriffenes Schweigen, dann fuhr Alrick fort: „Nehmt das Gepäck und lasst uns gehen. Bis die Dunkelheit kommt, würde ich gern noch einen ordentlichen Teil des Weges zurücklegen. Gib mir deinen Rucksack, Flora, und bleibe immer in meiner Nähe!“

„Es ist wunderschön hier! Wie im Märchenland!“, antwortete die Kleine und nickte eifrig.

„Naja, irgendwie ist es das ja auch“, meinte Till und blickte sich neugierig um. „In welche Richtung gehen wir?“

„Nach Westen! Wir brauchen nur der Sonne folgen. Sie hat den Zenit schon überschritten und wird in ein paar Stunden untergehen.“