IV.  

Alrick Flötenspieler

Der Regen und das Gewitter ließen auch in der Nacht nicht nach. Es war beinahe Mitternacht, als Till von einem enormen Donnerschlag erwachte. Schlaftrunken stand er auf und ging zum weit geöffneten Fenster, um es zu schließen. Sein Blick fiel gerade auf den runden Mond, der ab und zu hinter den schwarzen Wolken hervorlugte, als er das Tapsen nackter Füße über den Boden hörte.

„Ach Flora, was machst du denn hier? Hast du dich vor dem lauten Donner erschreckt?“

Die Kleine stand mit ihrem Teddy im Arm da und schaute Till verschlafen an.

„Ich habe Angst! Kann ich bei dir schlafen? Mama ist nicht da und Oskar schläft doch bei seinem Freund.“

„Hm?“ Till wusste nicht, wie man sich in so einer Situation verhält, aber Flora setzte sein Einverständnis einfach voraus und krabbelte unter Oskars Bettdecke. Schulterzuckend klappte Till das Fenster an und wollte seinerseits ins Bett zurückgehen, als ihn Flora um etwas zu Trinken bat. Till reichte ihr das Glas, das neben seinem Bett stand. „Hier hast du, aber dann müssen wir schlafen. Du musst morgen wieder in den Kindergarten.“

„Aber nicht so früh wie sonst immer, hat Oma gesagt. Wir können gemütlich frühstücken und ich bin noch gar nicht müde!“

„Ach so! Hm, aber ich bin schon müde“, sagte Till, der nicht wusste, worüber er mit Flora reden sollte.

„Ach jetzt habe ich das Feenhaar vergessen, ich hole es schnell! Das wird mich vor dem Gewitter beschützen!“, sagte die Kleine und wollte schon wieder aus dem Bett klettern.

„Nee, lass mal. Ich mach das schon und dann wird geschlafen. Du brauchst keine Angst vor dem Gewitter haben. Siehst du, Alrick schläft auch!“, sagte Till, aber der Flötenspieler schüttelte deutlich verneinend den Kopf. „Vielleicht bin ich übermüdet oder so was?“, dachte Till erstaunt und holte das Gewünschte für Flora. „Hier, aber wickle es nicht so fest um deinen Finger, sonst stirbt er ab.“ Till reichte ihr die feinen, geringelten silbernen Fäden. Was immer es auch sein mochte, Lametta war es jedenfalls nicht! „Gute Nacht!“

„Gute Nacht! …Till?“

„Schlaf jetzt, ich bin müde!“

„Denkst du, dass wir die Feen irgendwann einmal sehen werden?“

„Keine Ahnung!“

„Oder den Zwerg?“

„Ich weiß es wirklich nicht! Warum fragst du?“

„Weil mir der arme Alrick so leid tut!“ Ehe Till etwas sagen konnte, stand Flora bereits wieder neben seinem Bett und hielt die silberne Dose, die auf Tills provisorischem Nachttisch gestanden hatte, in der Hand. „Schau mal, wenn er wirklich hier drin gefangen ist, dann müssen wir ihm doch helfen, herauszukommen. Wir dürfen ihn nicht im Stich lassen!“ Flora strich mit den Fingern über die kleine Figur. „Er sitzt darauf, weißt du“, sagte sie unvermittelt zu Till, der die Augen bereits wieder geschlossen hatte.

„Wer sitzt worauf?“, murmelte er und hoffte, die Kleine würde von allein wieder zu Bett gehen.

„Na Alrick, auf dem Schlüsselloch!“

„Ach was, du spi… du irrst dich! Wie sollte das denn gehen?“

„Nein, ich irre mich nicht! Er hat es mir gezeigt, aber das ist schon lange her.“

„Hm?“ Till hatte sich angewöhnt, lieber nichts zu sagen, als jemand anderen einen Lügner zu nennen.

„Komm, wir sagen ihm das Gedicht auf! Vielleicht zeigt er es dir dann.“ „Morgen, ja? Ich bin schon so müde und kann mich nicht erinnern.“

„Bitte, bitte! Nur einmal, ja?“

Langsam dämmerte es Till, warum Lilly Flora immer einen Quälgeist nannte. Na gut. Damit ich meine Ruhe habe. „Aber nur einmal und dann wird geschlafen! Versprochen?“

„Ja, versprochen! Lass mich unter deine Decke!“

„Nee, du gehst in dein … in Oskars Bett und wir sagen es zusammen, klar?“

So weit war er nun wirklich noch nicht, dass er sie mit in sein Bett nehmen wollte.

Flora stellte die Dose auf den Stuhl zurück, wo sie im fahlen Mondlicht schimmerte.

„Bei drei fangen wir an! Eins, zwei, drei!“

„Torwächter vom Feenland,

Farzanah dich ans Silber band,

ohne deiner Flöte Lied,

kein Mensch das Feenland mehr sieht.“

Flora hatte den Text schon nach der zweiten Zeile vergessen, aber Till wusste zu seiner eigenen Verwunderung den gesamten Vers aufzusagen. Seine Augen waren fest auf die kleine Figur gerichtet.

„Großen Schmerz es dir bereitet,

denn du weißt dein König leidet,

aber nur ein Sonntagskind

eines Tages den Schlüssel find!“

Täuschte er sich, oder war die kleine Figur gerade aufgestanden? Weiter!

„Huckeduûster Grindelwarz,

seine Seele ist so schwarz,

seine Leidenschaft ist Gier

und der Schlüssel seine Zier!“

Heiliger Klabautermann! Nein, er täuschte sich nicht! Bei dem Namen „Grindelwarz“ stampfte der Flötenspieler wütend mit dem Fuß auf und Till konnte deutlich ein winziges Schlüsselloch unter seinem Schuh sehen. Vor Entsetzen hätte er den letzten Vers beinahe nicht herausgebracht, aber die Figur forderte ihn mit heftigem Winken auf weiterzusprechen.

„Suche …“,

er stotterte und verhedderte sich in den Worten.

„Suche ihn im dunklen Berg,

fang dir diesen geizigen Zwerg,

reiche Alrick deine Hand

und betritt das Feenland!“

Ein weiterer gewaltiger Blitz erhellte die Dunkelheit und Till war für einen Augenblick geblendet. Er spürte, wie Flora ihm die Ärmchen um den Hals legte und als sich seine Augen wieder an das Halbdunkel gewöhnt hatten, hätte er vor Schreck fast laut geschrien. Der kleine Flötenspieler stand, jetzt eher etwas größer als er selbst, unmittelbar vor seinem Bett und reckte und streckte seine Glieder. Als er Tills und Floras entsetzte Gesichter sah, musste er herzlich lachen und Till bemerkte, dass einer seiner Schneidezähne ein wenig abgebrochen war. Das gab seinem Grinsen eine sympathisch-freche Note.

„Beim allmächtigen Feenzauber, das wurde aber auch Zeit! Ich dachte schon, ich muss für immer hier drin bleiben!“

Till hatte sich mit Mühe im Bett aufgesetzt. Flora hing noch immer so fest an seinem Hals, dass er sich fast nicht bewegen konnte. Träumte er? Nein, das konnte nicht sein. Träume gehen nicht im Doppelpack!

„Hallo Till!“, sagte der Flötenspieler, als wäre es das Normalste auf der Welt und streckte Till eine silbrige Hand entgegen. „Hallo kleine Flora!“ Im Gegensatz zu Till ergriff Flora schweigend die Hand. „Das muss euch merkwürdig vorkommen, aber bitte habt keine Angst. Ich bin Alrick, der Wächter aus dem Feenreich, und ich brauche eure Hilfe! Wir haben nicht viel Zeit!“

„Aber …“ Till fand nur langsam seine Sprache wieder. „Aber haben wir dir nicht schon geholfen?“ Er starrte Alrick an. Der Flötenspieler war noch immer aus durchscheinendem Silber. Till sah, dass er sich bewegen konnte und hörte seine Stimme, aber es dämmerte ihm langsam, dass dies noch nicht die Erlösung des Elfen war.

„Ja und nein! Mit dem Spruch habt ihr mir die Möglichkeit gegeben, in den Vollmondnächten mit euch zu sprechen. Wir haben von Mitternacht bis ein Uhr Zeit. Dann bin ich wieder auf die Dose gebannt.“

Till schaute auf seine Uhr. „Dann haben wir noch eine halbe Stunde! Woher kennst du unsere Namen?“

„Ich bin weder blind noch taub! Aber das sind Nebensächlichkeiten. Über solche Dinge können wir sprechen, wenn ich erlöst bin!“

„Können wir dich denn erlösen?“, fragte Till, da Flora es vorzog, Alrick einfach nur anzustarren.

„Wir brauchen den Schlüssel. Wir müssen den Zwerg finden!“

„Du meinst, es gibt diesen ‚Huckeduûster Grindelwarz‘ wirklich?“, fragte Till.

„Hast du vor fünf Minuten geglaubt, dass es mich gibt?“, Alrick grinste wieder schelmisch und Till fühlte sich irgendwie ertappt.

„Nein, ehrlich gesagt, nicht! Entschuldige!“

„Und dabei habe ich mir die allergrößte Mühe gegeben, deine Aufmerksamkeit zu erringen. Beim allmächtigen Feenzauber, was habe ich nicht alles für Grimassen gezogen, aber viel Bewegungsfreiheit ist mir nicht erlaubt. Welches Menschenjahr haben wir?“

„2010!“

„Allmächtiger Feenzauber! Dann habe ich ja fast 100 Jahre verloren! Wir müssen etwas tun! Wie weit sind wir vom Eingang entfernt?“

„Die Haustür ist unten. Das sind …“

„Ich meine doch nicht den Eingang zu eurem Haus. Den Eingang zum Feenreich natürlich! Die Grotten, wie weit sind sie von hier entfernt?“

„Die Grotten? Ach so, du meinst die Feengrotten! Ungefähr 15 Minuten Fußmarsch, aber die sind jetzt sowieso zugeschlossen!“

„Die Zeit ist zu knapp! Was meinst du mit ‚zugeschlossen‘?“

„Na die Tür ist doch nachts abgeschlossen. Sie lassen doch so ein Schaubergwerk nicht offenstehen, damit jeder darin herumspazieren kann!“

„Ein Schaubergwerk? Was ist das denn?“

„Etwas Schönes, aber wir haben nicht genug Zeit, um es dir jetzt zu erklären.“ Tills Lebensgeister waren erwacht und weigerten sich nicht mehr, Alricks Existenz anzuerkennen. Er sah auf die Uhr. Noch zehn Minuten. „Die Vollmondnächte sind drei, nicht? Kann ich dich morgen wiedersehen?“

„Ja, Sonntagskinder können mich mit diesem Reim zu jedem Vollmond sehen. Es gibt halt nur nicht so viele in 100 Jahren, die sonntags geboren sind und außerdem den Spruch kennen. Fast eine Unmöglichkeit. Fast!“

„Das ist gut zu wissen. Und hast du eine Ahnung, wo ich diesen Zwerg finden kann? Ich meine, ich muss ihn doch finden, um dich zu befreien, oder gibt es einen anderen Weg?“

„Nein, ich glaube nicht! Farzanah hat genau gewusst, was sie tat, als sie ihm den Schlüssel gab! Er wird ihn nicht freiwillig hergeben!“

„Wer ist eigentlich diese ‚Farzanah‘?“

„Oh, das ist eine wirklich lange Geschichte, aber eines kannst du dir merken: Sie ist böse und gefährlich. Es ist besser, du bekommst sie niemals, wirklich niemals zu Gesicht!“

„Wo finde ich diesen Zwerg und wie erkenne ich ihn?“

„Wie viele Zwerge hast du schon gesehen?“

„Soll das ein Witz sein? Außer im Fernsehen oder in Büchern keinen natürlich!“

„Es gibt Bücher über Zwerge? Doch ja, in der Bibliothek von Arwarah habe ich schon mal eines gesehen, aber …“

„Ich will ja auch alles über Arwarah und so wissen, aber wie finde ich den Zwerg und was mache ich mit ihm? Wir haben drei Minuten!“ Till hatte sich vor Aufregung aus Floras Armen befreit und war aufgestanden. Er stand Alrick jetzt genau gegenüber und konnte jede feine Linie in dessen Gesicht sehen. Er bemerkte die kleinen spitzen Ohren, die aus dem langen, feinen Elfenhaar hervorschauten und die schmalen, scharf geschnittenen Augenbrauen. Alrick überlegte.

„Es ist beinahe 100 Jahre her, dass ich ihn zum letzten Mal sah! Er ist klein und runzlig würde ich sagen, hat filziges, langes, strubbliges Haar und einen Bart.“ Das durchsichtige Bild Alricks begann vor Tills Augen zu flimmern. „Er hat eine riesige, krumme Nase und lange gelbe Zähne. Er ist schmutzig vom Erdreich. Früher trieb er sich immer am Tor herum. Er kann ohne die Hilfe einer Fee oder eines Elfen nicht hinaus.“ Wieder flimmerte die Erscheinung und Alrick wurde zusehends blasser.

„Er liebt alles, was glitzert! Ich will nicht zurück!“, rief er. Till versuchte, seine ausgestreckte Hand zu fassen, aber er griff ins Leere.

Eine Wolke schob sich vor die leuchtende Kugel des Mondes und als das fahle Licht zurückkehrte, saß Alrick wieder bewegungslos auf der Zauberdose. Till nahm das Gefäß ganz vorsichtig in die Hände und hielt es dicht vor seine Augen. Alles schien wie zuvor und doch war es anders. Till konnte den Schrecken und die Verzagtheit über seine Rückverwandlung deutlich in Alricks Gesicht sehen.

„Hab keine Angst, wir sehen uns morgen um die gleiche Zeit. Vielleicht weiß ich dann schon mehr!“ Er stellte die Dose auf ihren Platz zurück und wollte Flora trösten, die sicherlich noch immer Angst hatte, aber als er sich seinem Bett zuwandte, war sie bereits eingeschlafen.

„Na toll!“, schmunzelte er. „Und wohin soll ich jetzt?“ Floras Bett war entschieden zu klein, also blieb ihm nichts anderes übrig, als unter Oskars Decke zu schlüpfen. Er war so aufgeregt, dass er glaubte, niemals Schlaf zu finden, aber noch ehe er diesen Gedanken zu Ende gedacht hatte, war auch er eingeschlafen.

Vergebens tastete Till nach dem schrillenden Wecker, der am Morgen durch seine wirren Träume schellte. Verwundert öffnete er die Augen und nach und nach kehrte die Erinnerung zurück. Natürlich, er schlief in Oskars Bett, weil Flora zu ihm gekommen war. Alrick! Mit einem Satz war er auf den Beinen. Er nahm die Dose und flüsterte leise: „Habe ich das alles nur geträumt oder werden wir uns wirklich heute Nacht wieder sehen?“ Deutlich sah er die Reaktion in Alricks Gesicht und er konnte es noch immer nicht fassen.

„Müssen wir jetzt aufstehen?“, fragte Flora und richtete sich auf.

„Ja, klar! Heute ist doch der Drachenwettbewerb!“ Till hoffte, die Kleine damit von Alrick abzulenken, aber sein Versuch schlug fehl.

„Hallo lieber Alrick!“, rief sie und drückte die Dose an ihr Gesicht. „Am liebsten würde ich dich mit in den Kindergarten nehmen!“

„Oh nein!“, rief Till schnell. „Das geht auf gar keinen Fall! Alrick ist unser Geheimnis, verstehst du? Du darfst niemandem etwas von ihm erzählen. Kannst du das?“

„Ja, aber warum denn nicht?“

„Weil … weil es dir sowieso niemand glauben würde! Verrate es nicht, bis wir ihn erlöst haben, dann können wir mit ihm gemeinsam beraten, ob er mitgehen will oder nicht!“ Till hoffte, die Kleine zu überzeugen und er hatte Erfolg.

„Ja, Lilly und Oskar haben mir auch nie geglaubt. Jetzt habe ich Hunger, kommst du mit?“

„Ja klar! Geh schon vor. Oma Gertrude ist bestimmt schon in der Küche. Ich gehe hier oben ins Bad. Okay?“

„Okay!“ Flora sauste die Treppe hinab.

„Wir sehen uns später“, sagte Till zu Alrick und eilte ins Bad. Er war mehr als aufgeregt. Heute würde er in die Feengrotten gehen und wer wusste, was es da zu sehen gab? Er hoffte nur, dass es ihm gelingen würde, allein zu gehen.

Nachdem er Flora zum Kindergarten gebracht hatte, bat ihn Oma Gertrude, ihr beim Kuchenbacken zu helfen. Die gesammelten Brombeeren mussten verarbeitet werden. Da konnte er sich nur schlecht drücken, aber die ganze Zeit über waren seine Gedanken bei Alrick und dem, was er erzählt hatte. Sollte er Oma Gertrude einweihen? Nein, noch nicht. Dafür wäre immer noch Zeit. Ach du meine Güte! Jetzt hätte er beinahe die doppelte Menge Zucker in den Teig gerührt, als er sollte. So ein Mist, er hatte Wichtigeres zu tun!

„Was ist denn heute mit dir los, Till?“ Oma Gertrude schaute ihn liebevoll an.

„Ach nichts weiter, ich … ich habe nur schlecht geschlafen, weil … weil ich dauernd husten musste.“

„Ich verstehe, aber heute beginnt ja deine Kur in der Hustengrotte. Wenn Oskar zurück ist, dann muss er gleich mit dir hingehen.“

Das war der Augenblick, auf den Till gewartet hatte. Er wischte ein Mehlstäubchen von seiner Nase und schaute Gertrude fragend an.

„Kann ich nicht allein dort hingehen? Ich meine jetzt, wenn wir hier fertig sind? Ich bin doch kein Baby mehr!“

„Hm, Lucie hat es gut gemeint, als sie dich nicht allein gehen lassen wollte!“

„Das ist mir schon klar, aber ich kann das wirklich allein machen. Ich bin Selbständigkeit gewohnt! … Und außerdem haben weder Oskar noch Lilly wirklich Lust, mitzugehen.“

Oma Gertrude überlegte eine Weile. Eigentlich war es gut, wenn der Junge eigenständig war. Andererseits sollten die Kinder zusammenwachsen. Gestern beim Drachensteigen hatte es schon gut geklappt. Vielleicht sollten die Erwachsenen sich nicht so viel einmischen? Ach, wer konnte schon wissen, was in so einer Situation richtig war?

„Den Weg kann ich nicht verfehlen und wenn irgendetwas ist, dann komme ich eben wieder und Oskar begleitet mich.“

„Na gut! Dann gehst du jetzt, aber wisch dir das Mehl aus dem Gesicht. Ich kann den Rest hier allein machen.“

„Danke sehr! Ich bin ja eigentlich auch fertig.“

Till hatte den Teig schon auf dem vorbereiteten Kuchenblech ausgerollt und die Beeren darauf verteilt. Oma nahm ihm lächelnd den Kochlöffel aus der Hand.

„Ich weiß schon, das ist keine richtige Männerarbeit! Dann lauf! Und erzähl mir, wie dir das Reich der Feen gefallen hat.“

„Mach ich!“, versprach Till und rannte die Treppe hinauf, um das Rezept und seine Jacke zu holen.

„Hey, Alrick, ich gehe jetzt in die Feengrotten. Wir sehen uns dann!“, rief er der kleinen Figur zu und dabei fiel ihm mit Schrecken ein, dass Oskar ja heute Nacht wieder in seinem Bett schlafen würde. Ein Problem nach dem anderen, dachte er und sauste die Treppe wieder hinunter. „Also bis dann, Oma Gertrude!“ Und schon war er zur Tür hinaus.

Draußen empfing ihn die warme Herbstsonne und er kam bei seinem schnellen Marsch den Berg hinauf beinahe ins Schwitzen. Der Weg war nicht zu verfehlen, denn es gab eigentlich nur einen, und an der Kreuzung war ein großes Hinweisschild aufgestellt. Von dort war es nur noch ein Katzensprung. Die Straße führte unter den ausladenden Ästen alter Bäume entlang, deren Blätter sich schon herrlich bunt verfärbt hatten. Till wählte den Fußweg an der kleinen Schokoladenfabrik entlang. „Hm, wie gut es hier riecht“, dachte er, aber seine Neugierde trieb ihn weiter. Später wäre auch noch Zeit, um hier einzukaufen, jetzt war erst einmal der Vollmond auszunutzen.

Er überquerte den Besucherparkplatz und schaute sich um. Rechts von ihm war ein wunderschönes altes Fachwerkhaus, das mit herrlichen Schnitzereien verziert war, und linker Hand führte eine breite Treppe den Berg hinauf. Er betrachtete das faltige Gesicht eines alten Knappen, der kunstvoll in Eiche geschnitzt worden war, und folgte dann dem allgemeinen Besucherstrom die Treppe hinauf.

Der Weg führte zunächst an einem Spielplatz vorüber, von dem lautes Lachen und fröhliches Treiben herüberklangen, und dann zum sogenannten Handwerkerhof, in dem man einem Edelsteinschneider und einem Glasbläser bei der Arbeit zusehen und ihre Waren kaufen konnte. Till ging zur Kasse und fragte die freundliche Angestellte, wie er vorgehen solle.

„Ah, ein Rezept hast du. Ja, das ist ganz einfach. Du kommst jeden Tag zu mir, damit ich es abstempeln kann. Dann bekommst du von mir eine Eintrittskarte, mit der gehst du zu einem der Grottenführer, der bringt dich dann ins Emanatorium.“

„Danke sehr!“

„Am besten du wartest mit den anderen Besuchern, bis die nächste Führung aufgerufen wird. Das ist in ungefähr 15 Minuten.“

„Danke, auf Wiedersehen!“ Till nahm seine Karte und schaute sich neugierig um. Das Erste, was ihm ins Auge fiel, waren die Zwerge und Wichtelmänner, die hier überall in den lustigsten Varianten zum Kauf angeboten wurden.

„Wissen sie denn von Grindelwarz?“, fragte er sich. „Wahrscheinlich nicht wirklich, aber das liegt laut Oma Gertrude daran, dass die Menschen im Allgemeinen die Wahrnehmung für Naturgeister und Zauberwesen verloren haben. Doch die Geschichten darüber, die sind geblieben.“

Aus einem kleinen Café duftete es nach selbstgebackenem Kuchen und Kaffee, doch Till verspürte keinen Hunger. Interessiert betrachtete er die Auslagen in einem kleinen Souvenirgeschäft namens „Grottenlädchen“, in dem es jede Menge hübscher Dinge gab. Er mustere die zierlichen Nachbildungen der Feen und Elfen und fand, dass sie Alrick in ihrer Zartheit durchaus ähnelten.

Am Sammelpunkt für die Führungen warteten schon einige Besucher, zu denen Till sich gesellte. Von diesem Platz aus hatte er einen guten Blick auf den „Feenweltchen-Park“, der eine weitere Attraktion für Kinder darstellte. Schon der Eingang, der über eine geschwungene Brücke führte, sah abenteuerlich aus. Plötzlich ertönte der Aufruf zur nächsten Führung aus dem Lautsprecher und Till folgte dem Besucherstrom zum Grotteneingang.

Ein junger Mann in einer traditionellen Bergmannsuniform schickte die Besucher zum Mantelverleih. Er erklärte, dass die herabfallenden Tropfen Flecken auf der Kleidung verursachten und half jedem der Gäste, einen passenden Mantel überzuziehen. Till zeigte ihm seine Karte, woraufhin der Mann ihn bat, neben der Tür stehen zu bleiben und auf eine Kollegin zu warten, die er über ein Funkgerät herbeirief. In der Zwischenzeit stellten sich die gut gelaunten Besucher zu einem Erinnerungsfoto auf, das jeder von ihnen am Ende der Führung kaufen konnte. Till trat vor Ungeduld von einem Bein aufs andere. Seine Gedanken weilten nur bei Alrick und natürlich bei Huckeduûster Grindelwarz. Was, wenn ich im Heilstollen nicht allein bin? Was, wenn ich den Zwerg bei diesem Gewusel von Menschen nicht finde? Was, wenn alles nur ein Traum ist? Je mehr Till das bunte Treiben der Touristen beobachtete, umso mehr begann er daran zu zweifeln, dass hier der Eingang zum Feenreich war. Unmöglich! Wie sollte hier in aller Öffentlichkeit etwas so Geheimes verborgen bleiben? Hunderte von Augenpaaren wanderten tagtäglich durch die alten Gänge, unmöglich etwas vor ihnen zu verstecken!

„Bist du der Junge fürs Emanatorium?“

Till schrak aus seinen Gedanken. „Ja, hallo!“

„Du bist heute der einzige Patient“, sagte die junge Frau. „Wirst du dich auch nicht fürchten? Es dauert eineinhalb Stunden!“

„So lange …“ Till jauchzte innerlich. Damit musste sich doch etwas anfangen lassen! Er zog seinen MP3-Player aus der Tasche und die junge Frau verstand.

„Na dann kann’s ja losgehen. Komm, wir brauchen nicht warten, bis die Leute hier auf die Sicherheitsvorkehrungen hingewiesen wurden.“ Mit klopfendem Herzen folgte Till der jungen Frau in den Eingangsstollen. Es dauerte eine Weile, bis sich seine Augen an das Halbdunkel im Berg gewöhnt hatten. Till atmete die klare kühle Luft und war froh, einen dicken Pullover angezogen zu haben.

„Du darfst dich nicht aus dem Heilstollen entfernen, klar? Wer den Weg nicht kennt, der kann sich hier unten verlaufen!“

„Ja!“ Till kreuzte zwei Finger hinter dem Rücken.

„Und du darfst nicht an den Lichtschaltern spielen.“

„Ja“, sagte Till wiederum und fühlte nach der kleinen Taschenlampe in seiner Hosentasche.

Am Eingang war die Öffnung ein wenig erweitert worden, aber je weiter sie gingen, umso niedriger und enger wurde der Stollen. Was für eine Arbeit, dem Fels diesen Durchgang abzuringen! Kein Wunder, dass die Bergleute ihn nicht größer als unbedingt nötig gemacht hatten. Der Weg war nass und führte sacht bergab. Till hätte gern gefragt, wie tief hinein sie gehen würden, aber die junge Frau kam ihm zuvor:

„Warst du schon einmal in den Feengrotten?“

„Nein, ich bin erst vor Kurzem von Hamburg hierher gezogen. Dann wurde ich krank und man hat mir das Rezept gegeben!“

„Ja, ich habe schon an deinem Dialekt gehört, dass du nicht aus Thüringen bist. Na, wenn es dir gefällt, dann kannst du ja mal eine Eintrittskarte kaufen. Die Heilgrotte ist oben auf der obersten Sohle des Bergwerks. Es gibt drei und die schönsten Tropfsteine sind natürlich in der ältesten und am tiefsten gelegenen. Man nennt sie den ‚Märchendom‘ mit der Gralsburg. Es ist wunderschön.“

„Und gibt es auch Lebewesen in den Grotten?“, fragte Till vorsichtig.

„Nein, hier ist es für jegliches Leben zu dunkel.“

„Hm, ja!“

Inzwischen hatte sich der enge Gang zu einer großen Höhle geweitet.

„Siehst du, hier beginnt die Führung. Sie geht dort drüben weiter, am Barbarastollen vorbei durch die ‚Adolf-Mützelberg-Grotte’. Die heilige Barbara ist die Beschützerin der Bergleute, weißt du?“

„Und wohin führt diese Treppe hier?“ Till beugte sich über die steinerne Absperrung und schaute hinab.

„Das ist die Treppe zu den drei Quellgrotten auf der mittleren Sohle, aber wir müssen hier rechts hinüber. Komm!“, rief sie, weil Till noch einen Augenblick verweilte.

Sie führte ihn durch eine schmiedeeiserne Tür in einen abseits gelegenen Stollen. Nach ungefähr 20 Metern erreichten sie die Heilgrotte und die junge Frau knipste das Licht an. Till sah sechs bequeme Liegen, die in einem Kreis aufgestellt waren und erst jetzt bemerkte er, dass die junge Frau eine dicke Decke unter dem Arm trug.

„Auf welche Liege möchtest du? Du hast die freie Auswahl heute!“

„Dann nehme ich die. Da kann ich die Tür im Auge behalten“, sagte Till.

Die junge Frau breitete die Decke auf der Auflage aus und forderte Till auf, sich hinzulegen.

„Wenn du husten musst, hier sind Taschentücher und hier ist ein Abfalleimer dafür. Ich brauch dir nicht zu sagen, dass du die Tropfsteine, die hier und da gewachsen sind, nicht berühren darfst, oder?“

„Nee!“

„Sie sind ganz zerbrechlich, weißt du? Ein falscher Tritt und viele Jahre Arbeit der Natur gehen kaputt!“

„Alles klar!“

„Musik hast du ja selber und das Licht lasse ich auf voller Stärke. Wenn etwas nicht stimmt, dann drückst du diesen Knopf hier. Das ist ein Notsignal und dann kommt sofort jemand, um nach dir zu sehen.“

„Ja, verstanden! Ich glaube nicht, dass ich das brauche!“

„Kommst du zurecht?“

„Aber ja!“

„Gut, dann bin ich um 12.30 Uhr wieder bei dir! Gutes Gelingen und lass dich nicht von den Feen und den Elfen holen!“

Till lag bis zum Hals in die warme Decke gewickelt und dachte grinsend: „Nee, aber ich hoffe, dass ich mir was holen kann!“

Nachdem die Schritte der Grottenführerin verklungen waren, blieb Till noch eine Weile ruhig liegen und lauschte in die unergründliche Tiefe des Berges hinein. Ihm war recht seltsam zumute, so allein hier unten. Außer dem steten Tropfen des Sickerwassers war nichts zu hören. Wie lockt man nun einen Zwerg, an dessen Existenz man vor ein paar Stunden noch gezweifelt hat, aus seinem Versteck und wie nimmt man ihm den Schlüssel ab, wenn man ihn gefunden hat?

Tills anfänglicher Übermut wandelte sich in Verzagtheit. Wo und wie sollte er beginnen? Zunächst einmal wickelte er sich aus der Decke und zog die kleine Lampe hervor. Sofort erkannte er, dass man damit nicht sehr weit kam. Er hatte die absolute Dunkelheit in einem Bergwerk bei Weitem unterschätzt. Till leuchtete in die ohnehin hellen Ecken des Heilstollens und rief leise: „Huckeduûster Grindelwarz, bist du hier irgendwo? Komm hervor, ich will dich sehen!“

Aber statt einer Antwort hörte er den dumpfen Ton näher kommender Fußstapfen und die klare Stimme des Grottenführers. Die Besuchergruppe hatte ihren Rundgang begonnen. Till überlegte nicht lange. Dies war seine Chance! Ein letzter Blick in die hell erleuchtete Heilgrotte und er war sicher, dass er Grindelwarz hier nicht finden würde. Nein, der Eingang zum Feenreich musste tiefer im Berg sein, verborgen vor den neugierigen Augen der Besuchergruppen.

Till schaute auf die Uhr. 12.30 Uhr müsste er wieder hier sein, sonst würde es Ärger geben!

Er öffnete die Tür einen Spalt und spähte hinaus. Niemand sah ihn, die Besucher waren bereits ein kleines Stück weiter gegangen.

„Werte Gäste, die Feengrotten sind ein altes verlassenes Alaunschieferbergwerk mit dem schönen Namen ‚Jeremias Glück!‘“, hörte er den Grottenführer sagen. Till sah um die Ecke. Die Gruppe hatte sich im Halbkreis in der blau-grünen Grotte aufgestellt und lauschte den Ausführungen des jungen Mannes. „Vor hunderten von Jahren hatte man hier damit begonnen, den blau-schwarzen Alaunschiefer abzubauen. Das Gestein wurde mühsam zu Tage befördert …“

„Hunderte von Jahren!“, dachte Till. Da haben wir es ja. In hunderten von Jahren, da kann wahrlich viel geschehen und keiner von den Leuten hat wohl je geahnt, dass hier ein noch viel größerer Schatz als Alaunschiefer zu finden ist.

Als sich die Gruppe zum nächsten Anlaufpunkt begab, schlich Till aus seinem Winkel hervor. Er hatte beschlossen, ihr in einiger Entfernung zu fogen und dabei nach dem Zwerg Ausschau zu halten. Wenn alles gut ginge, dann würde er mitsamt dem Schlüssel am Ende des Rundganges wieder pünktlich in der Heilgrotte sein! Heilende, keimfreie Luft war hier schließlich überall! Wieder leuchtete Till mit der Taschenlampe in alle Ecken und auch ein Stück in den Barbarastollen hinein. Dieser Stollen war vielversprechend, da er nicht zum Rundgang gehörte, aber Till traute sich nicht, den offiziellen Weg zu verlassen. Was wäre, wenn er sich verliefe? Ein beklemmendes Gefühl!

Er kam an einen abgesperrten Schacht, der sehr geheimnisvoll aussah. „Huckeduûster Grindelwarz! Zeig' dich mir! Ich bin gekommen, um mit dir zu reden!“, rief Till leise. „Grindelwarz komm‘ heraus, Alrick schickt mich!“ Er hoffte, dass sich der Zwerg beim Namen des Elfen zeigen würde, aber nichts geschah. Alles, was Till hörte, war die Ankunft der nächsten Besuchergruppe hinter ihm und er musste sich beeilen, vorwärts zu kommen. Mit klopfendem Herzen folgte er dem Weg weiter und weiter in den Berg hinein. Er passierte die kleine Mützelberg-Grotte und erreichte gerade die Treppe zur zweiten Sohle, als das Licht plötzlich gelöscht wurde.

„Donnerlittchen!“, entfuhr es ihm, denn es war so dunkel, dass er nicht die Hand vor Augen sehen konnte. Was nun? Für den Augenblick war das Feenreich vergessen und er tastete sich im spärlichen Licht seiner Lampe Stufe für Stufe die steile Treppe hinab. Von unten hörte er die gedämpfte Stimme des Grottenführers. Ganz langsam und ganz vorsichtig ging er weiter. Seine rechte Hand umklammerte das Geländer während seine Füße sicheren Halt suchten. „Grindelwarz“, flüsterte er, „bist du hier irgendwo?“

Wechselnder Lichtschein signalisierte ihm, dass er die Quellgrotten erreicht hatte. „Ah, sie zeigen den Besuchern die Tropfsteine bei verschiedener Beleuchtung!“, dachte er und mischte sich ganz unbemerkt unter die Zuschauer. Ein Blick auf die Uhr sagte ihm, dass erst eine halbe Stunde vergangen war. Hier auf der mittleren Sohle gab es drei Grotten, von der eine schöner war als die andere, fand Till. Bei diesem Anblick vergaß er den Zwerg für einen Moment und war tief beeindruckt von der farbigen Vielfalt der Tropfsteine und von den sogenannten Sinterterrassen, die sich wie Vorhänge an den Seitenwänden gebildet hatten.

Als der Grottenführer mit seinen Ausführungen für diesen Teil des Rundganges am Ende war, versteckte sich Till im Dunkel der Treppe und wartete darauf, dass die anderen weiter gingen. Als alles still war, kam er hervor und lief noch einmal suchend an den drei Grotten entlang. Wieder rief er den Zwerg, aber seine Hoffnung war eigentlich schon versiegt. Hier waren entschieden zu viele Menschen unterwegs, als dass sich eine zufällige Begegnung ergeben würde. So ein Zwerg war sicherlich von scheuer Natur! Till leuchtete mit der Taschenlampe in einen alten Gang, der mit einem Eisengitter verschlossen war und den der Grottenführer in der Bergmannsprache als „Alten Mann“ bezeichnet hatte. „Grindelwarz? Huckeduûster Grindelwarz, bist du hier? Zeig dich endlich!“, rief er hinein und erschrak über den Schall seiner eigenen Stimme in der Dunkelheit. Plötzlich überkam ihn die Angst und er lief den anderen nach, in den „langen Stollen“ hinein.

Der „lange Stollen“ hatte seinen Namen zu Recht erhalten, denn er war niedrig und vor allem sehr, sehr lang. Till war klein genug, dass er an fast allen Stellen aufrecht gehen konnte. Wieder verspürte er Mitleid mit den Menschen, die einst ihr täglich’ Brot hier unten verdient hatten. Er lief schnell und dennoch brauchte er einige Minuten bis er die Gruppe wieder vor sich hörte.

Nach und nach machte er sich Gedanken darüber, wie er wohl wieder zum Heilstollen zurückkommen sollte. Irgendwie hatte er nicht den Eindruck, dass der Rundgang wirklich ein Rundgang war und wieder an der gleichen Stelle enden würde, an der er begonnen hatte. Was dann?

Der Stollen machte eine scharfe Kurve und Till fand eine steile Treppe, die ein weiteres Mal tiefer hinab führte. Unten angekommen, wusste er einen Moment lang nicht, welche Richtung er einschlagen sollte, aber zum Glück hörte er die gedämpften Stimmen der Besuchergruppe links von sich. Der Stollen führte in eine weitere Grotte und Till musste abrupt stehen bleiben, weil er die Besuchergruppe eingeholt hatte. Gott sei Dank bemerkte ihn niemand!

Die Leute kamen so langsam voran, weil der Weg jetzt über eine steile Eisentreppe wieder nach oben führte. Till wartete geduldig, bis auch der Letzte hinaufgeklettert war und der Grottenführer die Absperrkette vorlegte. Der herabscheinende Lichtkegel war ausreichend, damit Till sich ungestört umsehen konnte. Der junge Mann hatte diesen Platz „Butterkeller“ genannt und Till sah deutlich die grau-gelblichen Minerale, aufgrund derer dieser Teil des Schaubergwerkes so bezeichnet wurde. Eine Ablagerung, die die Bergleute früher „Bergbutter“ genannt hatten.

„Werte Gäste!“, hörte Till den Grottenführer sagen, „Am Ende unseres Rundganges sind wir nun am ältesten und schönsten Teil der Saalfelder Feengrotten angelangt. Dem Märchendom mit der Gralsburg.“ Das „Ah!“ und „Oh!“ der Besucher bestätigten die Worte des jungen Mannes und Tills Neugier wuchs mit jeder Minute. Interessiert lauschte er der Geschichte über die Entdeckung dieses außergewöhnlichen Naturwunders und der Sage über die Fee, die ihn den Menschen gezeigt hatte.

Aufgeregt trat Till von einem Fuß auf den anderen. Es musste ein bedeutender Ort sein, wenn er sogar Menschen wie Richard Wagner in seinen Bann gezogen hatte. „So, so, der berühmte Komponist hat dieses Motiv also als Bühnenbild für seine Oper Tannhäuser verwendet?“, dachte er verwundert. Beeilt euch, beeilt euch! Ich muss zurück! Beim Klang der „Herr der Ringe“-Musik betrachteten die Besucher die Grotte in verschiedener Beleuchtung und Tills Nervosität steigerte sich mit jedem Ruck seines Uhrzeigers. Schon dachte er daran, die Sache abzublasen, als hörte er, wie sich der Grottenführer endlich von den Besuchern verabschiedete.

„Beim allmächtigen Feenzauber!“, zitierte er Alrick. „Das wurde aber auch Zeit!“

Zum Glück für Till verließen die Besucher den Märchendom auf einem anderen Weg und als der Letzte endlich gegangen war, konnte er die Leiter erklimmen.

Wie gebannt blieb er stehen. Was für eine Märchenwelt offenbarte sich ihm! Tropfsteine in hunderterlei warmen, braun-roten Farbtönen, so fein und bizarr, hingen zu tausenden von der gewölbten Decke herab. Unterhalb hatte man das Tropfwasser in einem künstlichen See aufgefangen, in dessen geheimnisvoll glänzender Oberfläche sich die Herrlichkeit widerspiegelte. Ab und zu erzitterte das Bild ringförmig von einem der herabfallenden Tropfen und die Kreise glitten lautlos weiter, bis sie sich schließlich am Ufer der Gralsburg auflösten.

Die Burg selbst war ein übergroßer Stalagmit, der sich aus der Vielzahl der über ihm hängenden Tropfsteine gebildet hatte und der aufgrund der vielen kleinen Tropfsteintürmchen dem Grundriss einer Burg sehr ähnlich sah. Ja, jetzt konnte Till verstehen, dass dieser Anblick den Musiker bezaubert hatte. Dieser Anblick musste einfach jeden beeindrucken und jetzt glaubte er Alrick auch, dass sich hier irgendwo der Eingang zum Feenreich befand!

Der Gedanke an Alrick erinnerte ihn daran, warum er hier war und auch daran, dass höchste Eile geboten war.

„Huckeduûster Grindelwarz!“, rief er vorsichtig über das Wasser und lauschte auf den Widerhall seiner Stimme. „Komm heraus, ich weiß, dass du hier bist!“

Das Licht im Märchendom war gedämpft, aber mithilfe der Taschenlampe konnte Till die Wände ableuchten. Irgendwo musste ein Spalt oder eine Nische sein. Nichts!

„Grindelwarz, komm heraus, ich habe etwas für dich!“

Erschrocken hielt Till inne, denn er hatte von Weitem Stimmen gehört. Die nächste Besuchergruppe würde jeden Augenblick auftauchen und er hatte nichts erreicht.

„Verdammt noch mal!“, flüsterte er und fühlte sich auf einmal schwach und allein. Er legte die brennende Taschenlampe auf die kleine Staumauer und lief zur Treppe, um nach den Ankommenden zu sehen. Ihm war klar, dass er nicht durch den Butterkeller zurückgehen konnte, ohne gesehen zu werden. „Wenn ich den anderen Weg gehe, dann müsste ich eigentlich wieder an die Treppe zum langen Stollen kommen“, überlegte er und eilte zur Mauer zurück, um seine Lampe zu holen.

„Herrjemine! Was war denn das?“ Wie angewurzelt blieb er stehen und starrte mit weit aufgerissenem Mund auf einen fast unsichtbaren Spalt, in dessen Inneren gerade der letzte Lichtschein seiner Lampe verschwand. Täuschte er sich oder hörte er krächzendes Lachen und tapsige Schritte aus dem Berg heraus? Grindelwarz! Er hatte ihn gefunden, der Zwerg existierte! Nun gut, der Erfolg war etwas zweifelhaft, da Till der Beraubte war und nicht Grindelwarz, doch das trübte seine Hochstimmung nicht. Alles war wahr! Alrick konnte gerettet werden!

Die näherkommende Besuchergruppe mahnte Till, sein Glücksgefühl später auszukosten, denn wenn er nicht rechtzeitig zurück war, wäre er es, der gerettet werden müsste! Schon hörte er die freundliche Stimme der Grottenführerin unterhalb der Treppe. Es war die junge Frau, die ihn zum Emanatorium gebracht hatte. Er wusste: Wenn sie hier fertig war, würde sie zu ihm kommen und er würde alles tun, damit sie ihn auch vorfände! Panik wollte sich seiner bemächtigen, aber die konnte er nicht gebrauchen. „Sei ruhig und überlege objektiv!“, hatte sein Vater in solchen Stresssituationen immer geraten. „Hole erst mal tief Luft!“

Seine Befürchtung, der Weg durch das Bergwerk sei in Wirklichkeit kein Rundgang, hatte sich also bewahrheitet. Der Ausgang lag im Quellenhaus, ungefähr 150 Meter vom Eingang entfernt. Die junge Frau würde außen herum gehen, während Till den gleichen Weg zurückeilen musste, den er gekommen war. Und das möglichst unentdeckt! Wenn er schnell rannte, wäre es vielleicht zu schaffen.

Gesagt, getan! Er lief zum langen Stollen und horchte. Glücklicherweise war die nächste Besuchergruppe noch nicht hineingegangen, denn darin gab es kein Versteck. So weit das spärliche Licht reichte, rannte er vorwärts, aber dann umgab ihn die Finsternis des Berges. „Grindelwarz, du mieser Zwerg“, dachte er. „Wenn ich mir deinetwegen den Kopf stoße!“

Stolpernd und tastend hastete er zurück und versuchte, laute Geräusche zu vermeiden. Soweit er sich erinnerte, war der Weg eben. Beide Hände nach rechts und links ausgestreckt, sodass er den feuchten Fels spürte, Meter für Meter kam er voran. Mit Mühe unterdrückte er die aufkommende Panik, bis er nach unendlich scheinenden Minuten einen schwachen Lichtschein wahrnahm. Gleichzeitig mit den beeindruckten Besuchern einer neuen Gruppe erreichte er die Quellgrotten und mischte sich mit klopfendem Herzen unter sie.

Die staunende Menge nahm ihn gar nicht wahr und so nutzte er das Licht und rannte die Treppen zur obersten Sohle hinauf. Längst hatte er sein Zeitgefühl verloren und war ehrlich überrascht, als Erster am Emanatorium anzukommen. Hastig schlug er die Tür zu und wickelte sich in die mollige Decke. Sein Atem ging keuchend vor Anstrengung und Aufregung und starker Husten quälte seine Lungen, als die Tür geöffnet wurde.

„Na, alles klar?“, fragte die junge Frau freundlich. „Du siehst ein wenig erschöpft aus. Geht es dir gut?“

„Aber ja! Es ist nur der Husten! Der bringt mich ganz aus der Puste.“

„Das ist ja Sinn und Zweck des Ganzen. Und, willst du morgen wiederkommen?“

„Ja, insgesamt habe ich acht Behandlungen!“

„Na dann sehen wir uns morgen!“

„Danke sehr! Auf Wiedersehen!“

Obwohl Till den Schlüssel noch nicht hatte, fühlte er sich so beschwingt wie lange nicht mehr. Wie würde sich Alrick über die gute Nachricht freuen! In seinem Alter ziemte es sich nicht mehr zu hüpfen und zu springen, aber er lief leichtfüßig nach Hause. Schon von Weitem sah er Oma Gertrude im Garten und sprang kurzerhand über den niedrigen Zaun.

„Na, mein Junge, das sieht ja so aus, als ob dir die Behandlung gutgetan hat.“

Wie zur Antwort musste Till bellend husten, bis ihm die Augen tränten. „Ja!“, sagte er prustend. „Es hat gut geklappt. Die Leute sind hilfsbereit und freundlich. Morgen soll ich wiederkommen.“

„Und, hast du ein bisschen was von den Grotten gesehen?“

„Nicht viel!“ Es widerstrebte ihm, die alte Dame anzulügen. „Ich muss mir wohl oder übel mal eine Eintrittskarte kaufen, um den Rundgang mitzumachen.“

„Auf dem Küchentisch steht frischer Kuchen! Ich denke, du hast dir ein extra Stück verdient. Flora bleibt heute über Mittag im Kindergarten. Du weißt schon, wegen des Drachenfestes!“

„Okay, dann hole ich sie später!“

„Ja, ich dachte …“ Oma Gertrude zögerte ein wenig, bevor sie weitersprach. „Ich dachte, wir essen und dann gehen wir beide zum Friedhof! Wir müssen die Blumen richten und nach dem Rechten sehen. Danach werden wir Flora abholen. Denkst du, du könntest das schaffen?“

Mit Bedauern sah Gertrude, wie der neu gewonnene Glanz aus Tills Augen schwand und am liebsten hätte sie die Worte zurückgenommen, aber Lucie und Dr. Hausmann hatten gemeint, es sei nötig, dass der Junge den Weg zum Friedhof fand. Sie waren sich einig gewesen, dass er lernen musste, den Tod seiner Eltern zu akzeptieren. Schritt für Schritt. Dann könnte der Heilungsprozess beginnen.

„Ja gut“, antwortete er tonlos. „Es ist ja eigentlich meine Aufgabe.“

„Oh nein! Da bist du aber ganz und gar schief gewickelt!“ Gertrude stellte die Schüssel mit den roten Äpfeln beiseite. „Das ist die Aufgabe der ganzen Familie!“ Sie legte Till tröstend den Arm um die Schultern und gemeinsam gingen sie ins Haus.

Aus dem ersten Stock erklang laute Heavy Metal-Musik und Schlagzeugrhythmen, sodass Till spontan beschloss, nicht ins Zimmer zu gehen, bis Oskar mit dem Üben fertig wäre. Da Gertrude mit dem Essen auf Lilly warten wollte, folgte Till ihrem Rat, stibitzte ein großes Stück Kuchen und beschloss, in seinem eigenen Zimmer zu warten. Onkel Phil hatte ihm einen alten Schaukelstuhl auf den kleinen Balkon gestellt und mit Freude bemerkte er beim Eintreten, dass er auch einen kleinen Teppich erhalten hatte.

„Wenn ich auf dem Balkon sitze, kann ich sehen, wenn Lilly kommt. Also könnte ich …“ Er stellte den Teller auf die Brüstung und eilte zum Bücherregal in Lillys Zimmer. „Almanach der Zauberwesen“ – er zog zufrieden den schweren Band hervor und ging damit auf den Balkon zurück.

Beinahe ehrfürchtig strich Till mit der Hand über den kunstvollen Ledereinband des alten Buches. Obwohl es offensichtlich fürsorglich behandelt worden war, wies es einige Gebrauchsspuren auf. Also war er bei Weitem nicht der einzige Mensch, der sich mit Zwergen, Feen und Elfen beschäftigte. Till öffnete den schweren Buchdeckel und fand ein hübsches Exlibris auf dem Vorsatzpapier. „Eigentum von: Anna Herrmann“ stand da in gleichmäßigen, schnörkeligen Buchstaben geschrieben. Till überlegte, wer Anna Herrmann war und kam zum Schluss, dass es Gertrudes Mutter oder Oma gewesen sein könnte.

Egal! Till blätterte die alten Seiten vorsichtig um, bis er das Inhaltsverzeichnis fand. „Du meine Güte!“ Er staunte über die Vielzahl der aufgeführten Zauberwesen und Naturgeister mit ihren wunderlichen Namen. Sein Finger glitt über die Liste, bis er zu den Zwergen kam. Auch da gab es verschiedene, mal abgesehen davon, dass sie in den unterschiedlichen Ländern natürlich auch unterschiedliche Namen hatten.

Er fand Wichtel, Heinzelmännchen und Bergmännchen. Ihre Charaktere wurden meist als gutartig beschrieben, aber natürlich hatte der Autor auch die Ausnahmen nicht vergessen.

Till meinte, dass Grindelwarz zu den Bergmännchen zählen musste. Schließlich lebte er in einem Bergwerk und wenn er mehrere hundert Jahre alt werden konnte, dann hatte er vielleicht schon gelebt, als dort noch Alaunschiefer abgebaut wurde. Zwerge lebten in kleineren Kolonien, die durch ein Netzwerk von Gängen miteinander verbunden waren. Die meisten ihrer Behausungen lagen unter der Erde, aber es gab auch Siedlungen von Baumzwergen, die ihre Katen im Schutz alter Bäume zu errichten pflegten und sich um deren Wohlergehen bemühten.

Er las, dass Zwerge die Schätze der Erde seit Urgedenken als ihr Eigentum betrachteten. Jeder, der sich an ihrem vermeintlichen Besitztum vergriff, zog ihren Zorn auf sich. „Wenn es um Besitztum geht, sind sie geizig und streitsüchtig und lieben es, den Menschen Streiche zu spielen. Zu ihren Schätzen zählen besonders Dinge, die glitzern und funkeln, wie Edelsteine, Gold und Silber. Im Laufe ihres langen Lebens trachten sie danach, so viele Kostbarkeiten wie möglich zu sammeln und schrecken auch vor Diebstahl nicht zurück!“, las Till laut vor sich hin. Ja, das hatte er gesehen und da er annahm, dass Alricks silberner Schlüssel auch glitzerte, würde es schwer werden, ihn freiwillig von Grindelwarz zu bekommen.

„Zwerge besitzen nur eine geringe Zauberkraft und sind in dererlei Dingen auf höher entwickelte Zauberwesen angewiesen, aber sie haben die besondere Gabe, sich und ihre Wohnorte unsichtbar machen zu können.“ Auch diese beiden Merkmale stimmten mit Grindelwarz überein! Obwohl Till sich aufmerksam im Märchendom umgeschaut hatte, hätte er den Spalt ohne den Lichtschein der gestohlenen Taschenlampe niemals entdeckt und Alrick hatte gesagt, dass der Zwerg ohne Hilfe der Elfen nicht in oder aus dem Feenreich gelangen konnte. Anscheinend war dazu ein größerer Zauber notwendig.

Till betrachtete die Illustrationen und musste herzlich über die verschiedenen Zwergenbilder lachen. Egal, welchem Land oder Stand die Zwerge angehörten, sie waren alle kleinwüchsig und hatten unverhältnismäßig große Gliedmaßen, was ihnen ein drolliges, ungelenkes Aussehen gab. Die meisten waren strubblig, hatten lange Bärte und große, rote Nasen, auf denen einer sogar eine Kerze vor sich hertrug. Die männlichen unter ihnen besaßen Handwerkzeuge, wie Äxte, Hämmer und Brecheisen, während die Zwerginnen scheinbar mit Vorliebe rote Kappen trugen. Er staunte, als er las, dass manche der Bilder sogar auf das 15. Jahrhundert zurückgingen.

Till hatte sich so in seine Lektüre vertieft, dass er Lilly nicht bemerkt hatte. Das Mädchen war schon vor einiger Zeit nach Hause gekommen und gerade als er vom Kapitel der Zwerge zu den Elfen wechseln wollte, stand sie mit verschränkten Armen vor ihm in der Balkontür. „Schon mal was von Privatsphäre gehört? Von Fragen hältst du wohl nichts?“

Till schrak ertappt auf und hätte das kostbare Buch beinahe fallenlassen. Er fühlte, wie er rot wurde und seine Verlegenheit steigerte sich noch.

„Ich … äh! Ich wollte Oskar nicht beim Üben stören und in meinem Zimmer war nicht allzu viel Auswahl!“

Mit einem entschuldigenden Lächeln zeigte er in sein leeres Zimmer hinein und bemerkte erleichtert den Wechsel in Lillys Stimme.

„Na gut, aber zur Gewohnheit solltest du das nicht werden lassen!“

„Ja, logisch! Bitte entschuldige!“

„Du sollst jetzt essen kommen und dann gehen wir zum Friedhof!“ Nun war es Lilly, die sich verlegen fühlte. „Wenn du möchtest, kannst du das Buch eine Weile behalten. Ist super interessant, oder?“, fügte sie einlenkend hinzu. „Und wenn du etwas Besonderes wissen möchtest, ich habe es schon ausgelesen.“

Tills Füße fühlten sich an wie aus Blei. Je näher sie dem Friedhof kamen, umso schwerer wurden sie. Die traurige Realität, die er mehr oder weniger erfolgreich zu verdrängen suchte, kehrte mit jedem Meter in sein Bewusstsein zurück, aber da war auch etwas Tröstliches, das er noch vor ein paar Tagen nicht bemerkt hatte. Ein Ziel, eine Aufgabe, die seinem Leben einen neuen Sinn gaben. Alricks Rettung! Alrick war durch das Unrecht, das ihm von Farzanah zugefügt wurde, zu einem Leidensgefährten geworden. Er würde seinen Schmerz besser verstehen als sonst einer, den er kannte! Er würde für immer sein Freund sein und schon heute Abend konnte er ihm mitteilen, dass er bei der Lösung des Zaubers einen Schritt vorangekommen war. Er hoffte, dass Alrick den Zwerg gut genug kannte, um ihm einen Tipp bei der Jagd nach dem Schlüssel zu geben.

Oma Gertrude und Lilly hatten Till seinen Gedanken überlassen, aber nun, da sie die alte, schmiedeeiserne Friedhofspforte öffneten, nahmen sie ihn automatisch in ihre Mitte. Gemeinsam schritten sie die lange Allee entlang und Till empfand ihre stille Anteilnahme als wohltuend. Worte waren hier einfach unangebracht. Sein Vater hatte immer gesagt, dass man die Dinge aussprechen muss, damit sie heilen können, aber wollte er das überhaupt? Würde er seine Eltern der Vergessenheit preisgeben, wenn er zuließe, dass sich die Wunde in seinem Herzen schloss?

Ein Schauer lief über Tills Rücken, als er schließlich vor den beiden frischen Erdhügeln stand. Die Leute vom Beerdigungsinstitut hatten die zahlreichen Blumen und Kränze dekorativ angeordnet und Till las die Inschriften auf den Schleifen. Am Begräbnistag selbst war es ihm nicht aufgefallen, wie viele Menschen Anteil genommen hatten. Für ihn waren es Namen ohne Bedeutung, weil er keinen davon kannte! Dessen ungeachtet mischte sich auch Stolz unter die Bedeutungslosigkeit, denn offensichtlich hatten diese Menschen seine Eltern geschätzt. Eine Wertschätzung, die sie erlangt hatten, bevor er geboren war. Onkel Phil und Tante Lucie hatten darauf bestanden, die beiden hier beizusetzen, damit Till jederzeit zu ihren Gräbern gehen konnte und jetzt, da er hier stand, begann er langsam zu begreifen, wie recht sie damit hatten. Das Wenige, das er noch tun konnte, konnte er nur von hier aus tun.

Till nahm Lilly die schwere Gießkanne aus der Hand und half ihr, die Vasen mit frischem Wasser zu füllen, während Oma Gertrude die welken Blüten aussortierte.

„Mama, Papa, es geht mir gut!“, begann er ein stilles Zwiegespräch. „Ich war krank, aber das ist schon so gut wie vorbei. Etwas ganz Außergewöhnliches ist mir begegnet, etwas, das man mit Worten nicht erklären kann! Ach, ich wünschte so sehr, ich könnte es euch zeigen! Aber vielleicht ist das gar nicht nötig?“, grübelte er weiter. „Wenn es Feen und Elfen in einer anderen Welt gibt, wieso nicht auch das Paradies für die Verstorbenen?“ So viel war Till auf einmal klar: Nur ein bisschen an die Anderswelt glauben, das geht nicht. Hier heißt es entweder ganz oder gar nicht und er hatte sich in diesem Augenblick für ganz entschieden!

Im Kindergarten herrschte ein lustiges Tohuwabohu. Schon von der Straße aus war der Spaß nicht zu überhören. Kaum war Till hinter Lilly und Oma Gertrude in den großen Garten getreten, rannte Flora herbei und sprang in seine Arme.

„Wir haben gewonnen! Wir haben eine Medaille gewonnen! Du und ich!“ Sie hüpfte im Kreis um den verlegenen Till herum und wirbelte eine selbst gebastelte Silbermedaille um ihren Finger. Im Nu kamen auch die anderen Kinder herbei und Till wurde von der freundlichen Erzieherin begrüßt.

„Hallo Till, ich bin Sabine, eine Schulfreundin deines Vaters. Du hast offenbar sein Konstruktionstalent geerbt, denn Floras Drachen war der Einzige, der geflogen ist. Eigentlich hätte er den ersten Platz verdient, aber die Kinder haben sich für einen Spongebob-Drachen entschieden. Nun ja, was soll man sagen?“

„Wirklich?“ Till, den die Erwähnung seines Vaters diesmal eher stolz als traurig machte, war ehrlich überrascht. „Na ja, so ein Spongebob-Drachen ist natürlich nicht zu verachten. Der zweite Platz ist ein guter Platz, nicht wahr Flora? Da sind wir beide mächtig stolz!“

Obwohl es Till drang, seine Lektüre über Feen und Elfen fortzusetzen, waren sie gezwungen, noch eine Weile im Kindergarten zu bleiben. Oma Gertrude, die eine gute Beobachterin war, bemerkte mit innerer Freude, wie Till nach und nach auftaute und sich sogar fachmännisch mit Lilly über Drachen und Ballons unterhielt.

Der Nachmittag verging wie im Flug und die Sonne war bereits rot, als die vier nach Hause gingen.

Mit geschlossenen Augen wartete Till darauf, dass Oskar endlich das Licht im Zimmer löschte. Es war bereits nach 23 Uhr und die Zeit drängte. Er hatte seinen MP3-Player unter der Bettdecke angeschlossen und die harten Rhythmen von „Heaven Shall Burn“ hielten ihn wach. Endlich überzeugte ihn das gleichmäßige Heben und Senken von Oskars Rücken, dass er eingeschlafen war. Als die Zeit gekommen war, nahm er die silberne Dose vom Stuhl und schlich in sein eigenes Zimmer. Er ließ sich im Schneidersitz auf dem Teppich nieder und stellte das Gefäß vor sich in den hellen Lichtkegel des Mondes, der zum Fenster hereinschien. Obwohl ihn keiner hören konnte, fühlte er sich ein wenig beschämt, als er den Zauberspruch aufsagte.

„Torwächter vom Feenland,

Farzanah dich ans Silber band,

ohne deiner Flöte Lied,

kein Mensch das Feenland mehr sieht …“

Diesmal ging alles wie von selbst. Kaum hatte er den letzten Satz beendet, als Alrick im durchscheinenden Silber vor ihm stand und seine steifen Glieder reckte.

„Beim allmächtigen Feenzauber, du hast Wort gehalten, Erdenmensch!“

„Hast du denn daran gezweifelt?“

„Entschuldige, aber die letzten Jahre waren nicht gerade erbaulich. Man wird ein wenig wunderlich, wenn man zu lange auf eine silberne Dose gebannt ist.“ Grinsend ließ er sich neben Till auf dem Teppich nieder. „Und Till, was hast du herausgefunden?“

Er sah Till so erwartungsvoll an, dass dieser sein Vorhaben, die gute Nachricht auszukosten, sofort fallen ließ.

„Ich habe ihn gesehen!“, sprudelte er hervor. „Oder besser gesagt, ich habe ihn gehört!“

„Na was denn nun? Bist du dir auch wirklich sicher?“

„Aber ja!“ Vor Aufregung vergaß Till die Stimme zu senken und ehe die beiden wussten, wie ihnen geschah, stand Lilly im Zimmer! Ihre Augen waren so groß wie Untertassen und entgegen ihrer sonstigen Art hatte es ihr gründlich die Sprache verschlagen.

„Sei gegrüßt, Lilly!“ Alrick war aufgesprungen und stand der blassen Lilly unmittelbar gegenüber. „Es freut mich, dich endlich kennenzulernen und wenn ich mir zu sagen erlauben darf, du siehst sehr liebreizend aus heute Nacht!“

„Wer …? Das gibt’s doch nicht! Du bist … Dann ist die alte Geschichte also wahr! Und ich dachte immer, es wäre nur ein Ammenmärchen!“

„Ich bin Alrick, der Flötenspieler, Vertrauter und Freund des Königs von Arwarah. Setz dich zu uns und höre Tills Bericht, wie er mich erweckt und dann den Huckeduûster Grindelwarz ausfindig gemacht hat.“ Galant reichte er der verblüfften Lilly die Hand und führte sie zu Tills kleinem Teppich, auf dem die drei nun im Kreis beieinander saßen.

„Also darum hast du den Almanach so intensiv studiert!“, stotterte sie und fand erst nach und nach ihre gewohnte Fassung wieder. „Aber wieso du?“

„Ich bin ein Sonntagskind und ich hatte Glück! Doch hört zu, wie ich den Grindelwarz gefunden habe. Die Zeit läuft uns davon und noch haben wir nicht wirklich was erreicht!“

Alrick und Lilly lauschten Tills kurzem Bericht.

Danach war Alrick überzeugt, dass es sich bei dem Dieb wirklich um Grindelwarz gehandelt hatte und dass es nun nötig war, ihm an jener Stelle der Grotte aufzulauern und den Schlüssel zu erbeuten. Der Gedanke, endlich wieder frei zu sein, verursachte ihm weiche Knie.

„Wir dürfen das nicht verderben“, sagte er bittend zu Till und Lilly. „Es würde mir endgültig das Herz brechen, weitere Jahre an diese Dose gefesselt zu sein. Ich muss endlich wissen, was aus meinem König geworden ist. Doch sollten wir den Grindelwarz nicht unterschätzen! Er ist voller Hinterlist und ohne Magie nicht leicht zu fangen. Sprecht, habt ihr schon einen Plan, wie ihr vorgehen wollt?“

„Ihr?“ Till sah Lilly fragend an.

„Aber ja!“, sagte sie ohne zu zögern. „Oder willst du die Verantwortung ganz allein übernehmen?“

„Nein, auf keinen Fall. So ist es mir sogar lieber. Zwei erreichen mit Sicherheit mehr als einer!“

„Und wann wollen wir es tun?“

„Uns bleibt nur die morgige Nacht, sonst müssen wir ja auf den nächsten Vollmond warten!“

„Gut! Wenn du morgen zum Heilstollen gehst, fragst du die Grottenführerin nach der letzten Führung aus. Du kaufst zwei Karten für uns. Wir besuchen die Führung und wir lassen uns einschließen.“

„Wir lassen uns einschließen?“

„Na klar, oder denkst du, wir können dem Zwerg den Schlüssel zwischen zwei Führungen abnehmen?“

„Nee, eigentlich nicht! Aber …“

„Was aber? Hast du etwa Angst?“, fragte Lilly herausfordernd.

„Nicht wirklich, aber wie kommen wir dort wieder raus, damit wir um Mitternacht bei Alrick sind?“

„Hm, daran habe ich nicht gedacht“, gab Lilly kleinlaut zu.

„Die Tür zu den Grotten hat außen einen Knauf und innen eine Klinke. Wenn wir Glück haben, können wir einfach hinausgehen und die Tür hinter uns zuziehen. Aber wahrscheinlich ist abgeschlossen und wir sind gezwungen, auf die erste Führung zu warten, um uns unbemerkt anzuschließen. Wenn wir richtig großes Pech haben, gibt es eine Alarmanlage und wir sind im A… Eimer!“

„Quatsch, daran sollten wir nicht mal denken. Nicht auszumalen, wenn das passiert!“

„Aber wieso denn so viele Umstände? Wie wäre es, wenn ihr mich einfach mitnehmen würdet, oder ist das Tragen von silbernen Dosen in den Grotten nicht gestattet?“

„Beim allmächtigen Feenzauber! Wieso sind wir da nicht drauf gekommen!“, ahmte Till Alricks Lieblingsspruch nach und alle drei mussten herzlich lachen. „Genau so machen wir’s!“

„Gut, dann wäre das geklärt und natürlich bringe ich euch auch aus dem Berg! Aber nun müssen wir uns einen Plan zurechtlegen. Grindelwarz ist ein geiziger, hinterhältiger Kerl. Er und sein Klan sind … waren Verbündete von Farzanah. Er wird den Schlüssel niemals freiwillig hergeben. Wir müssen ihm eine magische Falle stellen“, sagte Alrick. „Wie viel Erfahrung habt ihr denn mit Magie?“

Till und Lilly sahen sich verblüfft an und schüttelten gleichzeitig den Kopf.

„Du sagtest, dass Zwerge alles lieben, was glitzert, und das habe ich auch im Almanach gelesen.“ „Oh, ja. Die meiste Zeit ihres sinnlosen Daseins verbringen sie mit dem Sammeln von Schätzen“, sagte Alrick verächtlich. „Aber das hilft uns nicht weiter!“

„Du bist nicht gerade gut auf sie zu sprechen, was?“, fragte Lilly.

„Es mag Ausnahmen geben, aber die, die ich näher kennenlernte, sind niedrigen Charakters. Wenn wir ihm den Schlüssel abgenommen haben, wird er nicht zögern, die nächste Gelegenheit zu nutzen, um uns bei Farzanah zu verpetzen.“

„Etwas Glitzerndes!? Okay, aber wir werden wohl kaum Diamanten auftreiben. Das Einzige, was mir einfällt, sind die Goldtaler aus dem Süßwarenladen.“ Till hatte eigentlich im Spaß gesprochen, aber Alrick ging auf seine Idee ein: „Süßigkeiten sind sowieso gut. Da man sie für gewöhnlich unter der Erde nicht findet, sind Zwerge ganz wild darauf.“

„Na, dann sollten wir es damit versuchen. Aber ihn hervorzulocken, bedeutet noch nicht, dass wir ihn auch fangen können. Wie baut man denn eine magische Falle?“

„Es gibt mehrere Möglichkeiten, Zwerge zu bannen. Eine relativ einfache ist ein Bannkreis aus Salz und Kerzen. Aber um einen Kreis um ihn ziehen zu können, müssen wir ihn an einer Stelle festhalten und das wird nicht einfach sein, zumal er sich unsichtbar machen kann.“

„Na toll!“ Till war aufgesprungen und lief aufgeregt im Zimmer auf und ab. „Die Zeit ist bald um. Denkt nach, denkt nach!“

„Ich hole das Buch“, flüsterte Lilly und schlüpfte leise zur Tür hinaus. Als sie mit dem Werk unter dem Arm zurückkehrte, blätterte Till hastig die farbigen Seiten des Almanachs um. Seine Augen suchten nach einem Absatz, in dem beschrieben war, wie man unerwünschte Zauberwesen von Haus und Hof vertreiben könnte, aber sie fanden nichts, was ihnen in ihrer Situation wirklich weitergeholfen hätte.

„Wenn wir nur einen Spiegel hätten, dann könnten wir Grindelwarz erstarren lassen“, sagte Alrick.

„Einen Spiegel?“, fragten Lilly und Till gleichzeitig.

„Ja, ein Zwerg erstarrt für kurze Zeit, wenn er sein eigenes Spiegelbild erblickt! Aber wir …“

„Nichts leichter als das!“ Wieder flitzte Lilly in ihr Zimmer und kam triumphierend mit einem silbernen Handspiegel zurück. „Der ist schon von meiner Ururgroßmutter, schau! Würde der ausreichen?“

„Der ist perfekt! Was für ein Glück, ein so seltenes Stück zu haben. Wer immer ihn erhalten hat, muss ein guter Freund der Feen und Elfen gewesen sein! Siehst du die Feensymbole hier?“

„Feensymbole?“

„Ja, offensichtlich hat hier schon früher jemand versucht, Zauberwesen zu bannen. Wenn ihr den Kreis um den Zwerg zieht, dann malt diese starken Symbole hinein und stellt vier Kerzen für die Himmelsrichtungen auf. Der Kreis wird wirksam bleiben, so lange die Kerzen brennen.“

Alrick war nachdenklich aufgestanden. Er hielt den Spiegel in der Hand und betrachtete traurig sein silbernes Abbild. „Ich bin schon so lange Zeit nicht am Tor zu Arwarah gewesen! Ich … ich habe Angst vor dem, was ich vorfinden werde! Was wird aus meinem König geworden sein und was aus meinen Freunden, aus unserem Land?“

„Sorge dich nicht“, sagte Lilly sanft. „Jetzt denken wir erst mal an dich. Auch wir sind deine Freunde, du bist nicht allein!“

Ruckartig blickte Alrick auf. „Ich danke euch aufrichtig für eure Hilfe! Ich weiß, sie ist nicht selbstverständlich. Ich wünschte, ich könnte etwas tun. Bitte gebt auf euch acht! Die Zeit ist um, ich fühle, dass ich schwinde!“ Wie am Tag zuvor begann Alricks Bild plötzlich zu flackern und löste sich im nächsten Augenblick schließlich ganz auf.

Im Zimmer war es still. Spontan nahm Lilly die Dose in die Hand und strich liebkosend über die kleine Figur.

„Oma hat mir so viele Geschichten über Zauberwesen erzählt. Ich habe alle möglichen Bücher gelesen und im Internet recherchiert und es doch nicht geglaubt. Selbst jetzt, da die Wahrheit so offensichtlich ist, kann ich es kaum fassen!“

„Ja, es dauert eine Weile, bis man sich daran gewöhnt, aber dafür haben wir jetzt keine Zeit. Wie machen wir das mit der vermaledeiten Falle? Und wie kommen wir von zuhause los? Sollen wir Oma Gertrude einweihen?“

„Nee! Auf keinen Fall! Ich sage ihr, dass du mit zu meinen Freunden gehst. Ich schlafe dort öfter mal. Sie wird’s schon glauben!“

„Hm, ich belüge sie nicht gern, aber wir haben wohl keine andere Wahl!“

„Die Idee mit den Goldtalern ist gar nicht so schlecht! Vielleicht können wir ihn damit an einen geeigneten Ort für den Bannkreis locken.“

„Hm“, machte Till leise. „Wir brauchen Licht! Zuerst mal, damit wir selbst etwas sehen. Es ist stockdunkel da unten, kannste glauben! Und dann, damit er sich im Spiegel sehen kann. Ein Spiegel nützt einem im Dunkeln nämlich nicht viel.“

„Es klang wohl einfacher als es wirklich ist, oder?“

„Na ja, und was ist, wenn der Grindelwarz sich unsichtbar macht, bevor wir ihn mit dem Spiegel bannen? Dann sieht er sich ja nicht! Wirkt der Zauber dann auch?“

„Du meine Güte, Till! Daran haben wir überhaupt nicht gedacht. Wir brauchen definitiv auch ein bisschen Glück!“

„Ein bisschen mehr wäre mir lieber!“

„Wie groß ist der Grindelwarz eigentlich und wie stark?“, fragte Lilly leise. „Kann er uns was tun?“

„Ich habe keine Ahnung! Ich hab nur meine Lampe verschwinden sehen, aber der Spalt war nicht wirklich groß.“

„Also gut, was brauchen wir alles? Den Spiegel, Taschenlampen, Kerzen, Salz und Schokoladentaler.“

„Die Taler oder etwas Ähnliches bekomme ich bestimmt im Werksverkauf der kleinen Schokoladenfabrik.“

„Und ich bring’ Salz und Kerzen vom Supermarkt mit. Taschenlampen haben wir im Haus. Dann lass uns jetzt schlafen! Ich muss morgen früh raus. Noch drei Tage bis zu den Herbstferien!“

„Gute Nacht! Ach … und Lilly?“

„Ja?“

„Ich bin froh, dass du uns erwischt hast!“

„Danke! Hier nimm Alrick mit ins Jungszimmer! Mir ist nicht ganz klar, wie gut er in diesem Zustand sehen kann, und ich möchte mich morgen früh gern unbeobachtet anziehen.“ Grinsend reichte sie Till die silberne Dose und er glaubte, ein leichtes Bedauern auf den zarten Zügen des Flötenspielers zu sehen.

Den Almanach auf den Knien hatte es sich Till auf dem Balkon gemütlich gemacht, und während er die spannende Lektüre über Feen und Elfen las, sah er von Zeit zu Zeit zum Tor, in der Hoffnung, Lilly würde hereinkommen.

Den leichten Teil hatte er bereits erledigt. Die Eintrittskarten und die Schokoladentaler waren gekauft. Hoffentlich klappte alles! Nicht, dass er das Abenteuer fürchtete, nein, aber der Ärger, den Tante Lucie und Onkel Phil bekommen würden, wenn die Sache misslang, der bereitete ihm arge Kopfschmerzen.

Till betrachtete die verschiedenen Abbildungen von Elfen und fand, dass sie Alrick nicht sonderlich ähnlich waren. Gut, er hatte den jungen Elfen noch nicht leibhaftig gesehen, aber sein durchsichtiges Abbild war groß, schlank und anmutig gewesen. Sein Gesicht war fein, aber nicht mädchenhaft. Die Nase kühn und gerade, die Augenbrauen energisch geschwungen und natürlich hatte Till ab und an die spitzen Ohren durch das lange Haar blitzen sehen. Gerade las Till einen Abschnitt über den Mut und die Kühnheit der Elfen, als Lilly winkend am Tor erschien. Triumphierend schwenkte sie eine Beuteltasche in die Höhe, was wohl so viel wie „Ich habe alles bekommen“ heißen sollte.

Till klappte das Buch zu und eilte ihr entgegen.

„Hi! Alles klar bei dir?“, flüsterte Lilly, während sie ihren Rucksack absetzte. „Ja, ich hab’ die Karten. Die letzte Führung ist um halb sechs. Schokotaler habe ich auch und noch 'nen Beutel voller Kugeln, die in buntes Silberpapier gewickelt sind!“

„Prima, ich habe zwei große Schachteln Salz. Das teure, man weiß ja nie! Und Kerzen. Vier große und einen Beutel Teelichter.“

„Ah, da seid ihr ja!“ Oma Gertrude hatte ihre Stimmen gehört. „Oskar hat angerufen, er kommt heute nicht zum Essen. Also sagt Bescheid, wenn ihr so weit seid!“

„Na wenn’s nach mir geht, dann können wir gleich essen. Ich habe einen Mordshunger!“, sagte Lilly und folgte ihrer Großmutter in die Küche. „Was gibt’s denn Gutes?“