IX.  

Zaâmendra

Welch herrliches Gefühl von Freiheit und Glück! Der Himmel erstrahlte im schönsten Azurblau, die Luft war mild und roch nach Wald und Blumen. Für eine kurze Weile vergaßen die Reisenden die Dringlichkeit ihrer Aufgabe und gaben sich ganz und gar der Schönheit des Augenblicks hin – sogar Lilly hatte inzwischen keine Angst mehr, abzustürzen. Hügel, Wiesen, Bäche und Seen glitten unter ihnen dahin und die Dörfer der Waldelfen kamen ihnen wie Spielzeug vor. Mit Schaudern dachte Till an ihre Flucht zurück und daran, wie sie um Alricks Leben gebangt hatten.

Nach und nach schwand der Wald und mit ihm die kunstvollen Baumhäuser der Taurih. Grasbewachsene Hügel reihten sich nun in unendlicher Zahl aneinander und mitten in ihren Herzen bemerkten die Kinder die Spuren des Bergbaus.

„Das ist das Land der Zwerge!“, rief ihnen Tibana zu. „Die meisten Klans leben in unterirdischen Höhlen und betreiben Bergbau. Dieses hier scheint eine verlassene Grube zu sein. Seht ihr, die Stollen sind verschlossen! Nun werden wir bald das Sumpfland erreichen. Dort ist meine Heimat!“

„Sieh nur, Tibana, dort unten liegt jemand!“, rief Till ganz aufgeregt.

„Könnt ihr es sehen? Es scheint ein Zwerg zu sein. Er ist verletzt!“ Ohne auf die Antwort der anderen zu warten, befahl Till seiner Krähe, ganz in der Nähe der Person zu landen.

„Warte auf uns!“, rief Tibana. „Wir schauen gemeinsam nach. Es könnte eine Falle sein!“

In sicherem Abstand wartete Till, bis die anderen bei ihm waren.

„Es sind zwei Zwergenmänner, seht ihr? Bis jetzt hat sich keiner von ihnen bewegt. Das Bein von dem einen ist unter dem umgekippten Wagen eingeklemmt. Wer weiß, wie lange er schon so liegt?“

„Ach, wie traurig!“ Floras große Augen glitzerten mitleidig. „Sie werden doch nicht tot sein?“, jammerte sie.

„Wartet hier!“, befahl Tibana. „Ich sehe nach!“

Sechs Augenpaare folgten ihr ängstlich, als sie hinüberschritt und sich über den Körper des Ersten beugte. „Das gibt’s doch nicht!“, hörten die Kinder sie sagen. „Wen haben wir denn da? Und noch dazu in einer so misslichen Lage?“

„Ach, bitte helft mir, Herrin!“, hörten die Wartenden eine vage bekannte Stimme flehen. „Mein Bein schmerzt gar sehr und ich bin am Verdursten, so lange schon liege ich hier!“

„Hilfe soll dir sogleich zuteil werden, aber zuerst musst du mir sagen, was ihr zwei hier draußen wolltet! Hier ist weit und breit nichts, oder wart ihr gar auf dem Weg nach …? Also sprich, wer oder was ist euer Ziel?“ Tibanas Stimme war freundlich, aber sehr bestimmt. Unter ihrem forschenden Blick wand sich der Zwerg wie ein Wurm.

„Papperlapapp! Keine besondere Aufgabe, Herrin! Hab‘ nur ein bisschen nach den alten Minen geseh‘n! Gold, Silber und kostbare Steine sind meine Leidenschaft, Herrin! Ich kann einfach nicht anders!“

„Ich weiß wer das ist!“, rief Lilly erschrocken und sprang auf. „Es ist Huckeduûster Grindelwarz! Wie kommt der denn hierher?“

Die Miene des verletzten Zwerges verdunkelte sich, als er sah, wer sich nun zu ihnen gesellte. „Potzblitz! Wenn das nicht die vermaledeite Menschenbrut ist, die mir meinen Schatz geraubt hat. Verbrecher! Gesindel!“ Wutentbrannt zerrte er an seinem Bein, konnte es aber partout nicht befreien. „Ihr müsst mir helfen, Herrin! Diese da sind sehr böse. Sie haben sich dem Wunsch Farzanahs widersetzt und den Flötenspieler befreit. Einen ganz und gar unnützen, bösen Charakter!“

„Der zufällig mein Patensohn ist!“, antwortete die alte Fee mit kalter Stimme. „Wir wissen, dass du Farzanah dienst und sie Königin nennst, und wir wissen auch, dass du egoistisch, böse und gemein bist.“

„Soll das etwa heißen, dass ihr mich hier liegenlasst, Herrin? Das dürft ihr nicht! Ihr seid eine Heilerin!“

„Das weiß ich selbst, du Narr, aber wer will mich daran hindern, einfach wieder aufzusteigen und davonzufliegen? Du wirst schon tot sein, wenn dich jemand anderes findet. Es sei denn, du sagst uns, was ihr hier gemacht habt.“

„Verfluchte Hexe! Stinkende Menschen zu beschützen! Das wird dir noch leid tun! Blitz und Donner!“ Während Tibana vorsichtig die Stelle untersuchte, an der Huckeduûsters Bein eingeklemmt war, gab sie Alrick das Zeichen zum Rasten.

„Während wir eine Kleinigkeit essen, kannst du darüber nachdenken, wie kooperativ du sein möchtest. Fällt deine Entscheidung zu unseren Gunsten aus, wird es auch dein Schaden nicht sein!“

Der andere Zwerg war inzwischen zu sich gekommen, und da ihm nichts fehlte, hatte Alrick ihn zur Sicherheit an einen nahen Baum gefesselt. Die kleine Gruppe setzte sich nun so, dass die hungrigen und durstigen Zwerge mit ansehen mussten, wie all die Leckerbissen in die Münder der Kinder wanderten. „Sein Bein ist nur unwesentlich verletzt!“, flüsterte Tibana, während laute Schimpfattacken auf sie niederprasselten. „Seine Füße sind so groß, dass er nicht in der Lage ist, es unter dem schweren Wagen hervor zu ziehen. Wollen doch mal sehen, ob unser Picknick ein paar nützliche Informationen aus ihm herausholt!“

Scheinbar ganz und gar auf den Verzehr ihrer Köstlichkeiten konzentriert, saßen die Kinder beisammen und spitzten die Ohren.

„Oh, welch‘ köstlichen Geschmack doch ein Becher frisches Wasser hat!“, sagte Tibana laut und blickte schmunzelnd in die Gesichter der Kinder, die ihr Spiel sofort aufnahmen.

„Hm, ja lecker und süß!“, nickte Flora. „Schmeckt sogar besser als Himbeerlimonade!“

Heimlich beobachteten sie die Wirkung ihrer Worte auf Huckeduûster Grindelwarz, der mit wutverzerrtem Gesicht zu ihnen herüberblickte. „Trink nur nicht alles aus!“, warnte Lilly und zwinkerte den anderen heimlich zu. „Es wird nicht lange reichen!“ Das war zu viel für den durstigen Zwerg.

„Ja, trink nicht alles alleine, du dumme Göre! Und pass auf, dass du nichts verschüttest!“

Die Kinder achteten scheinbar nicht auf sein Gerede, sondern holten ein Stück geräucherten Schinken hervor.

„Riech mal, wie lecker das duftet!“

Lilly hielt Alrick den Schinken auffordernd vor die Nase. Der ausgehungerte Zwerg reagierte prompt.

„Nun halt ihm das Essen nicht so nah an den Zinken! Ist ja eklig. Schneidet mir was ab, ich bezahle euch auch dafür!“

„Was könntest du uns schon geben?“, sagte Tibana, während sie der Aufforderung folgte und ein winziges Stückchen abschnitt.

„Gold! Gold! Greif nur in meine Hosentasche, da findest du genügend Gold, um all eure Vorräte zu bezahlen!“

Verführerisch hielt Tibana dem Zwerg ein Stück Schinken unter die Nase.

„Gold? Was sollen wir mit Gold anfangen? Es ist zu nichts zu gebrauchen. Man kann es weder essen noch trinken!“

„Ach, was seid ihr doch allesamt dumm und verbohrt! Lasst mich endlich trinken! Habt ihr kein Herz?“

„Aber ja doch! Gib uns nur einen Anlass, gut zu dir zu sein!“

„Gut zu euch? Aus welchem Grund? Wenn ihr mir nicht gehorcht, werdet ihr bestraft werden. Die, in deren Auftrag ich handle, wird sich grausam an euch rächen!“

„Kommt doch einfach zu mir, Herrin. Ich, ich sage euch, was ihr wissen wollt, wenn ihr mir Wasser, Brot und Schinken gebt!“, rief auf einmal der andere Zwerg.

„Halt dein vorlautes Maul, Grimbar Moosrücken! Sonst wirst du’s teuer bezahlen!“

„Ach papperlapapp! Vor dir hab ich weniger Angst als vor denen da! Und was nutzt mir die dunkle Herrin noch, wenn ich jetzt verdurste und verhungere?“

„Was redest du nur? Wenn es hart auf hart kommt, werden sie uns doch helfen!“

Grimbar Moosrücken schüttelte den Kopf. „Auf deine Lügenworte gebe ich nichts. Also hört: Wir sollten die Ruinenstadt besuchen, um zu sehen, ob sich die letzten Elfenritter dort verstecken! Jetzt gib mir sofort von dem Wasser!“

Tibana reichte ihm einen halbvollen Becher.

„Das ist nicht genug für eine so wichtige Nachricht!“, zeterte er, nachdem er getrunken hatte.

„Dann berichte uns mehr!“, forderte Tibana.

„Wenn wir sie finden, dann will die dunkle Herrin, dass wir das Heer der Zwerge dorthin führen. Wir haben überall im Feenreich unterirdische Gänge, wie diese hier. Und dann … in der Nacht, wenn alle schlafen, schneiden wir ihnen die Kehlen durch! Zwerge sind gute Soldaten und mutige Kämpfer!“

„Ja, unheimlich mutig! Wenn der Gegner schläft, fallt ihr über ihn her!“, zischte Alrick ihn an. „Aber daraus wird nun nichts werden!“

Unter dem Protest von Grindelwarz reichte Tibana dem anderen Zwerg Essen und Trinken, welches er sogleich mit Heißhunger verschlang.

„Na wunderbar, nun hast du alles verdorben! Nun werden wir nicht an der Kriegsbeute beteiligt werden, wenn Farzanahs Armee in die Menschenwelt zieht. All die schönen Schätze! Du bist ein solcher Dummkopf! Da fällt einem nichts mehr ein! Fehlt nur noch, dass du ihnen von der Karte erzählst!“ Grindelwarz hatte sich so in Rage geredet, dass er nicht bemerkte, welchen Fehler er beging. „Lumpenpack, elendes! Ihr bringt nur Unglück. Farzanah wird euch lehren, wo’s langgeht.“

Da hob Tibana mit dem Zauberstab die schwere Lore vom Stein, so dass Grindelwarz’ Bein freikam. Blitzschnell fesselte Alrick ihn neben seinem Kumpan an den Baum, wo auch er zu essen und zu trinken bekam. Eine Weile achtete keiner mehr auf den wütenden Zwerg, denn ihre Gedanken waren bei Farzanahs Plänen und den Elfenrittern.

„Wir dürfen hier nicht länger verweilen! Die Ritter müssen gewarnt werden!“, sagte Alrick aufgeregt. „Zwar haben wir die Gefahr im Augenblick gebannt, aber im Grunde besteht sie noch immer!“

„Ja, es ist nur eine Frage der Zeit, bis Farzanah ihr Versteck erspäht. Sie ist böse, aber keineswegs dumm!“

„Es ist kein Problem, die Ritter zu warnen. Wir sind ja ohnehin bald bei ihnen!“, flüsterte Till aufgeregt. „Aber was meinte der Huckeduûster mit ‚Karte‘? Ich finde, wir sollten mal in seinen Taschen nachsehen.“

„Ja, stimmt! Er hat so etwas gesagt! Komm, sehen wir mal nach!“

Alrick und Till gingen zu den beiden Gefangenen, die sofort einstimmig in großes Gezeter ausbrachen und alles erdenklich Böse auf sie herabbeschworen.

„Nun mach dich nicht so steif, es hat eh keinen Zweck!“, lachte Till und piekte Huckeduûster zum Spaß mit dem Finger in die Seite, sodass der vor Lachen nicht weiterschimpfen konnte, während Till seine Hosentaschen entleerte. „Du meine Güte! Was schleppst du da nur alles mit dir herum?“ Till breitete die Sachen ordentlich auf der Wiese aus. Da waren wahrhaftig kleine Goldklümpchen und Edelsteine, aber auch glänzende Schrauben, Glasmurmeln und allerhand anderer Plunder. Nichts, was einer Karte im Entferntesten glich. „Nichts! Und bei dir?“, fragte er Alrick enttäuscht.

„Ebenfalls nichts!“ Alrick blickte nachdenklich in das schadenfrohe Gesicht des Zwerges und da kam ihm eine Idee. „Sie hatten wahrscheinlich eine Tasche oder …“

Es war nicht nötig, den Gedanken zu Ende zu sprechen. Gleichzeitig sprangen Till und der Elf zur Unfallstelle mit der umgekippten Lore, und wirklich fanden sie unweit davon eine kleine Ledertasche, die beim Aufprall davongesegelt war. Wie groß war ihr Erstaunen, als sich darin neben der gesuchten Karte zwei alte, verschlissen ausschauende Mützen fanden! Das wütende Gekeife der Zwerge bestätigte die Wichtigkeit ihres Fundes und zufrieden kehrten sie zu den anderen zurück.

„Wir haben sie!“ Triumphierend schwenkte Alrick die Karte und breitete sie schließlich im Gras aus. „Sieh nur, wie viele Gänge es gibt. Unglaublich!“

Sie steckten die Köpfe zusammen und studierten den Plan, der offensichtlich sehr, sehr alt war. „Der Zwerg hat nicht gelogen. Die Gänge reichen von Norden bis Süden und von Osten bis Westen. Was für eine unglaubliche Arbeit, sie alle zu graben!“

„Und diese hier, die mit der roten Linie, die sind zusätzlich mit einem Schienensystem verbunden. Nun kann ich gut glauben, dass Zwerge auch Eisenerz abgebaut haben. Die Karte nehmen wir mit, aber was machen wir mit den Zwergen? Wir können sie unmöglich freilassen, aber sie mitzunehmen ist wohl auch keine gute Idee.“

„Nein!“, antwortete Tibana. „Das wäre sowohl gefährlich als auch umständlich. Ich habe da einen Vorschlag, der gleichzeitig eine kleine Lehre für die beiden ist. Kommt mal mit!“

Gemeinsam gingen sie zu den Zwergen. Tibana zog ihren Zauberstab hervor und murmelte einen geheimnisvollen Spruch. Lustige Funken lösten sich von seiner Spitze und umringten die verdutzten Zwerge, die vor Staunen endlich mal den Mund hielten. Dann begannen die Konturen der beiden zu schrumpfen und nahmen eine völlig neue Form an. Als der Zauber vollendet war, hüpften zwei putzige Eichhörnchen ins Geäst des Baumes, an dem die Zwerge soeben noch gefesselt gewesen waren.

„Ach, wie süß! Kann ich die mitnehmen?“, rief Flora. „So nehmen sie doch kaum Platz weg!“

„Du spinnst wohl! Was sollen wir damit?“, rief Lilly und drehte sich empört nach der kleinen Schwester um. „Und überhaupt, der Zauber wird sicher nicht für immer andauern!“ Lilly blickte sich suchend um, denn obwohl sie die Stimme der Kleinen direkt hinter sich gehört hatte, war keine Spur von ihr zu sehen. „Flora!“, rief sie aufgebracht. „Wo steckst du schon wieder? Es fehlte noch, dass du dich hier verläufst!“

„Wieso regst du dich so auf? Ich bin doch hier!“

„Wo? Komm, das ist nicht lustig! Du hast versprochen, dich zu benehmen!“

„Aber ich mach doch gar nichts!“ Obwohl das Mädchen nirgends zu sehen war, erklang ihre jetzt weinerliche Stimme unmittelbar vor Lilly. „Hier bin ich doch!“, aufgeregt zupfte sie die Schwester am Ärmel.

„Aber wieso kann ich dich nicht sehen? Tibana, hast du etwas mit Flora gemacht?“ Lilly streckte die Arme in die Richtung aus, in der sie das Mädchen vermutete und spürte plötzlich die kleine Hand der Schwester in der ihren.

„Nein!“, antwortete Tibana. „Was ist denn los?“

„Flora ist weg! Ich meine, sie ist hier, ich halte ja ihre Hand, aber sie ist unsichtbar!“, rief Lilly aufgebracht.

„Flora“, Tibana beugte sich zu der Stelle, an der sie Flora vermutete, „hast du etwas gegessen oder getrunken, wovon wir nichts wissen? Etwas, was dir unbekannt ist?“

„Nein, ich habe nur Schinken gegessen, Wasser getrunken und Grimbars Mütze aufgesetzt.“

„Grimbars Mütze? Woher hast du sie?“

„Die war in seiner Tasche. Till hat sie mitgebracht, als er mit Alrick die Karte holte.“

„Nimmst du sie bitte mal ab?“

„Unglaublich!“ Die Freunde standen starr vor Staunen da, als sich Flora aus dem Nichts manifestierte. „Und nun setze sie bitte wieder auf!“ Schon war das kleine Mädchen wieder verschwunden.

„Leute, ich glaube, heute ist unser Glückstag!“, rief Alrick, nahm Flora, die die Mütze nun in der Hand hielt, stürmisch auf den Arm und drehte sich mit ihr im Kreis. „Da hast du einen überaus wichtigen Fund gemacht, kleine Freundin! Das hier“, triumphierend hielt er die alte, etwas schäbig aussehende Kappe in die Höhe, „ist eine Tarnkappe!“

„Ja, und hier ist noch eine zweite!“

Till hielt die alte Ledertasche des Zwerges in der Hand. „Nun haben wir eine wirklich wirksame Waffe gegen Farzanah, und das Beste daran ist, dass sie nichts davon weiß.“ Tibana sah sehr zufrieden aus. „Unsere beiden Eichhörnchen hier werden die nächsten Wochen fleißig mit Nüsse sammeln zu tun haben und wenn sich der Zauber verbraucht, dann ist Arwarah hoffentlich längst wieder so, wie es einst war, und König Arindal befreit.“

„Kommt, wir müssen uns beeilen und nach Zaâmendra weiterfliegen! Die Elfenritter können sicher gute Nachrichten gebrauchen!“ Alrick war der Erste, der sich auf seine Nebelkrähe schwang und schon wenige Augenblicke später hatten die Freunde die Reise wieder aufgenommen. Bei einem letzten Blick ins Tal sah Till die beiden Eichhörnchen friedlich auf dem Ast eines großen Baumes sitzen.

Der weitere Flug verlief ohne Zwischenfälle. Als sich der Himmel golden färbte und die Dämmerung heraufzog, erschienen endlich die gewaltigen Umrisse Zaâmendras am Horizont.

Tibana gab das Zeichen zur Landung und Alricks Befehl folgend, ließen sich die Krähen nahe dem großen Stadttor auf der Wiese nieder.

„Wir müssen uns mit Vorsicht nähern und unsere friedliche Absicht kundtun!“, sagte Tibana. „Wahrscheinlich trauen sie uns nicht.“

Natürlich war ihre Ankunft nicht unbemerkt geblieben. Ein Wachposten, der auf dem alten Stadtwall postiert war, hatte sie bereits bemerkt und gemeldet.

„Bleibt stehen! Wer seid ihr und was wollt ihr hier?“, erklang eine ehrfurchtgebietende Stimme hinter dem Tor und sogleich sah man die Spitzen zahlreicher Pfeile drohend auf sie gerichtet.

„Lindriel, bist du das? Erkennst du mich nicht? Ich bin Tibana, die Hüterin der Quelle!“

„Tibana, ich erkannte dich wohl, aber heutzutage kann sich das Böse auch hinter einem guten Namen verstecken! Was ist euer Begehr, wer sind deine Begleiter und wieso konntet ihr Arindals Nebelkrähen befehlen?“

„Das sind viele Fragen auf einmal und es gibt lange Antworten dazu. Vorerst so viel: Die Krähen gehorchen meinem Patensohn hier. Sein Name ist Alrick, genannt Flötenspieler! Du erinnerst dich?“

„Ja! Dann ist er Farzanahs Fluch entkommen! Willkommen zurück, Flötenspieler!“

„Diese Kinder aus der Menschenwelt sind seine Retter! Das sind Lilly, Flora und Till! Sie werden uns bei König Arindals Befreiung helfen. Bitte lass uns eintreten! Wir bringen frohe Kunde!“

Für eine Weile herrschte völlige Ruhe hinter den schützenden Mauern. Den Wartenden kam es wie eine Ewigkeit vor. Tills Gedanken überstürzten sich.

„Was, wenn sie uns nicht glauben? Wir können nicht beweisen, dass wir auf ihrer Seite sind!“, flüsterte er den anderen zu.

„Das wäre in der Tat fatal, aber ich glaube nicht, dass das geschieht. Wir sind aus freien Stücken hier und völlig unbewaffnet. Welcher Feind würde versuchen, sich auf diese Weise Einlass zu erwirken?“

„Ein sehr gewitzter!“, antwortete Lilly gerade, als sich das große Eichentor unter lautem Ächzen einen Spalt weit öffnete, sodass zwei Männer hindurchgehen konnten.

„Wow!“, entfuhr es Lilly, beeindruckt vom Anblick und der Ausstrahlung der beiden. „Die sehen wirklich aus wie aus dem Almanach! Erinnerst du dich, Till?“

„Und ob! Weißt du was? Der große Almanach kann nur von jemandem geschrieben worden sein, der Kontakt mit ihnen hatte. So eine Ähnlichkeit ist kein Zufall!“

„Ja, das würde aber bedeuten, dass die Menschen in früheren Zeiten mit den Elfen und Feen zusammenwaren. Wenigstens einige, zum Beispiel Oma Gertrudes Mutter und Großmutter. Und der Name ‚Feengrotten‘, der ist dann wohl auch nicht nur zufällig gewählt.“

Während die Kinder leise tuschelten, betrachteten sie die Männer, die irgendwie eine seltsame Ähnlichkeit mit Alrick hatten, nur dass sie etwas älter und erfahrener wirkten. Später erklärte es sich Till damit, dass von ihnen das gleiche seltsam fluoreszierende Licht ausging, welches er schon an seinem Freund bemerkt hatte. Waldläufern gleich trugen sie bequeme Lederkleidung, die ihnen im Freien Schutz vor Wind und Wetter bot, dabei aber unverwüstlich und bequem war. Ein dünner Silberreif mit Elfensymbolen hielt ihr langes Haar zurück, sonst aber trugen sie weder Schmuck noch andere Zeichen ihrer Ritterwürde.

„Emetiel, Lindriel! Was bin ich dankbar, euch wohlbehalten vorzufinden!“, rief Tibana.

„Wir empfinden ebenso für euch! Doch seid so gut und erzählt uns, wie es euch gelang, unversehrt zu bleiben und wie ihr uns gefunden habt?“, bat der, den sie Lindriel genannt hatte.

„Die Herrin der Quellen hat uns beschützt! Ihre Reinheit hat mich vor dem Zauber bewahrt und uns dann durch eine Vision den Weg zu euch gewiesen. Wir sind hier, um euch im Kampf gegen Farzanah beizustehen!“

„Deine Worte klingen aufrichtig und in euren Augen leuchtet der Funke der Wahrheit. Seid uns willkommen und tretet ein. Besonders du, Alrick Flötenspieler! Wie froh sind wir, zu sehen, dass du Farzanahs Fluch entkommen bist!“

Fast ehrfürchtig reichte er Alrick die Hand und als alle gebührend begrüßt und begutachtet waren, öffnete sich das schwere Tor wieder und endlich wurde ihnen Einlass gewährt. In der Zwischenzeit hatte sich die samtschwarze Nacht über dem Land ausgebreitet. Die wenigen erhaltenen Gassen und Häuser Zaâmendras lagen im Dunkel und wurden nur ab und an durch das Flackern kleiner Laternen zum Leben erweckt. Als das Tor geschlossen war, kamen die Getreuen der Elfenritter herbei und umringten die Ankommenden. Till schätzte, dass es auf keinen Fall mehr als fünfzig Männer waren, die hier Schutz und Zuflucht gefunden hatten. Wenn er da an die nicht enden wollende Anzahl von Zelten und wohl bewaffneten Soldaten im Heer der Dunkelelfen dachte, wollte ihm alle Hoffnung schwinden.

„Lasst uns alle zum Lager gehen, damit wir eure Geschichte hören können!“, sagte der dritte Elfenritter, den sie Alarion riefen. „Leider haben wir kein Feuer, damit uns sein Schein nicht verrät, aber es gibt Brot und Decken!“

„Alarion, sag deinen Männern, sie sollen Holz zusammentragen und ein Feuer anzünden, an dem sich jeder wärmen kann! Ich will einen Schutzzauber über die Stadt legen, sodass sie den Augen von Farzanahs Schergen verborgen bleibt!“

Tibana schritt den anderen voraus ein Stück die Gasse entlang, bis zur Stadtmauer, wo die Ritter auf einer Wiese lagerten und wo sich der tiefe Ziehbrunnen befand. Sie zog ihren Zauberstab hervor und sprach beschwörende Worte in der uralten Sprache der Elfen und Feen, die die Kinder schon vormals von ihr gehört hatten. Dann nahm sie den Zauberstab und tauchte ihn in die glitzernde Wasseroberfläche. Das Licht der Zauberfunken färbte es in wundersame Farben und als Tibana den Stab erhob, hing ein winziges Rinnsal wie ein silberner Faden an seiner Spitze. Die alte Wasserfee drehte sich im Kreis und blies vorsichtig in den Faden hinein, der sich sogleich zu einem immer größer werdenden, hauchdünnen Schleier ausbreitete, der hoch über der Stadt schwebte und sich endlich auf den gewaltigen Zinnen des Walls niederließ.

„Dieser Spiegel aus Wasser wird uns für längere Zeit vor Farzanah verbergen. Nun können wir uns wärmen und rasten. Eine alte Fee wie ich braucht ein paar Annehmlichkeiten!“

„Wir haben oft von deinen Künsten gehört, aber sie übertreffen bei Weitem, was wir erwartet hätten!“, sagte Lindriel beeindruckt. „Heute werden wir alle zum ersten Mal seit langer Zeit ein warmes Essen haben und in Frieden schlafen können.“

Auf seinen Befehl hin hatte man von irgendwo einen bequemen Sessel herbeigeholt, in dem die alte Fee nun dankbar Platz nahm und nachdem sich alle um das jetzt hell lodernde Feuer versammelt hatten, begannen Tibana und Alrick abwechselnd mit dem Bericht über die vergangenen Ereignisse. Das anerkennende Hände- und Schulterklopfen wollte kein Ende nehmen, so froh waren die Elfen über Alricks Rettung und die Nachricht darüber, dass König Arindal am Leben war. Einzig Flora war von der Müdigkeit übermannt worden. Das Mädchen lag eingekuschelt in Lindriels Mantel am Feuer und schlief. Die anderen waren viel zu aufgeregt zum Schlafen und als Tibana, die sich ein Pfeifchen gestopft hatte, die Ritter aufforderte, über das Vorgefallene zu berichten, legten sich Lilly, Till und Alrick gespannt ins Gras und hörten zu.

„Es würde viel zu lange dauern, wenn wir alle Ereignisse der letzten 100 Jahre für dich und deine Menschenfreunde aufzählen würden, Alrick Flötenspieler. Vieles davon lässt sich mit wenigen Worten zusammenfassen: Dieselbe unersättliche Gier und derselbe unerbittliche Hass, der dich verbannte, dauerte fort und wuchs noch in seinen Ausmaßen. Immer öfter kam es zu kämpferischen Auseinandersetzungen zwischen den Lichtelfen und den Anhängern Farzanahs, die es sich zum Ziel gemacht hat, sowohl die Feen- als auch die Menschenwelt regieren zu wollen. Farzanah hatte leichtes Spiel mit den einfältigen Trollen und Gnomen. Die Kobolde sind immer zu Schlechtigkeiten bereit und bei den Zwergen obsiegte die angeborene Gier nach Schätzen, die sie ihnen nach dem Sieg versprach. Sie alle schlossen sich ihr widerstandslos an, aber dies allein hätte den Sieg nicht herbeigeführt. Farzanah brauchte etwas, womit sie das große, tapfere Heer der Lichtelfen sprengen und seine Kräfte zerstreuen könnte. Sie wusste, dass die Quelle ihrer Kraft im Elfenlicht von Arwarah verborgen lag und dass sie siegen würde, wenn sie das Licht zerstören könnte. Farzanah musste jedoch einsehen, dass niemand unter der Sonne in der Lage ist, den Lichtkristall zu zerstören. Aber das jahrelange Studium der magischen Kräfte befähigte sie schließlich dazu, ein Tuch aus Verwünschungen und bösem Zauber zu weben, mit dem sie das Licht verdunkeln konnte. Ein gemeiner Zauber, der mit jedem Tag, den er andauerte, fester und stärker wurde. Um es am Elfenlicht anzubringen, musste sie jedoch in König Arindals Rittersaal, in dem das Licht schon seit Urzeiten aufbewahrt wird. Dies wäre ihr niemals gelungen, hätten die Zwerge ihr nicht geholfen. In ihrer Begleitung machte sie sich mit dem Zauber auf den weiten Weg nach Arwarah.

Immer häufiger drang die Kunde von merkwürdigen Unruhen in den Stämmen der Lichtelfen an des Königs Ohr. Männer verließen scheinbar grundlos ihr Zuhause und schlossen sich dem dunklen Heer Farzanahs an. Die Ursache blieb uns zunächst verborgen, obwohl König Arindal Emetiel, Alarion und mich aussandte, um gründliche Nachforschungen anzustellen. Woher hätten wir auch wissen sollen, dass sich Farzanah mit einer Truppe unsichtbarer Zwerge der Lichtfestung näherte und dass alle, die dem Unheil bringenden Zaubertuch ausgesetzt wurden, an sie verfielen? Es war eine Nacht, ebenso schwarz und sternenlos wie die heutige, als Farzanah und die Zwerge schließlich völlig unbehelligt in die Festung gelangten und das Elfenlicht von Arwarah mit dem Zaubertuch umhüllten. Von da an strahlte das Böse direkt vom Herzen Arwarahs in das Lichtelfenreich hinaus. Aus der Ferne mussten wir mit ansehen, wie Farzanah unsere willenlos gewordenen Brüder in ihr Heer aufnahm und bis heute hatten wir keine Ahnung vom Schicksal unseres Königs. Unser einziges Trachten war es zunächst, aus dem unmittelbaren Wirkungskreis des Zaubers zu gelangen. Wir flüchteten hierher und nahmen diejenigen, die ebenfalls verschont waren, mit uns. Das ist leider alles!“

„‚Leider‘ musst du nicht sagen!“ Tibana klopfte ihre erloschene Pfeife aus. „Jetzt wissen wir, was die Katastrophe herbeigeführt hat und gemeinsam werden wir nun nach einer Lösung suchen. Und damit ihr voller Hoffnung zur Ruhe gehen könnt, will ich euch sagen: Auch wir sind im Besitz zweier Tarnkappen, und wenn wir sie taktisch geschickt einsetzen, dann können sie uns sehr hilfreich sein!“

Unter Tibanas schützendem Zauberdach verbrachten die Freunde eine ruhige Nacht. Fröhlicher Vogelsang weckte Lilly beim ersten Morgengrauen und frohgemut beschloss sie, aufzustehen und auf eigene Faust einen Erkundungsgang zu unternehmen. Ringsum im Lager herrschte tiefe Ruhe, nur der Wachposten auf dem Stadtwall grüßte sie mit einem freundlichen Nicken. Lilly eilte zum Brunnen und wusch Hände und Gesicht. Hunger verspürte sie nicht. Das Einzige, was sie zu stillen wünschte, war ihre Neugier auf die Stadt der Wissenschaften. Die Dunkelheit der vergangenen Nacht hatte ihr den Blick auf Gassen und Gebäude verwehrt, sodass sie sich jetzt suchend umschaute. Welchen Weg sollte sie einschlagen? Überall versperrten ihr Steinhaufen und Ruinen den Blick. „Wenn ich eine Universitätsstadt bauen würde, wo würde ich die Hauptgebäude platzieren?“, sinnierte Lilly laut vor sich hin und erschrak, als sie eine unerwartete Antwort erhielt.

„Im Zentrum natürlich!“ Als sie sich erschrocken umschaute, stand Alrick grinsend hinter ihr. „Wollen wir gemeinsam gehen?“

„Ja gern, aber ich bin mir über die Richtung nicht im Klaren!“

„Nichts leichter als das! Wozu hast du denn einen Elfen zum Freund?“ Alricks grüne Augen blitzen schalkhaft, aber Lilly glaubte darin noch etwas anderes zu sehen, etwas, das ihr junges Herz auf seltsame Art zum Klopfen brachte. „Wir sind doch Freunde?“, neckte er weiter. „Auch wenn du mich aus deinem Zimmer verbannt hast.“

Lilly musste lachen. „Ja, du warst zwar klein und niedlich anzusehen auf deiner ‚Zuckerdose‘, aber etwas in mir hat mich gewarnt.“

Sie ergriff die dargereichte Hand und drückte sie fest. Wie froh war sie, dass Alrick gerettet war. Der Elf verstreute etwas Zauberpulver, umfasste freundschaftlich ihre Schulter und schon schwebten die beiden kerzengerade in die Höhe, so hoch, dass sie ringsum über die Dächer Ausschau halten konnten. So weit ihr Blick reichte, verliefen die Wege sternenförmig, immer dem Zentrum entgegen, wo ein kolossaler Gebäudekomplex ihre Aufmerksamkeit erregte. Die Universität! Sie hätte sich also gar nicht verlaufen können.

„Das gefällt mir!“, rief Lilly und klammerte sich fest an den Freund, der vorsichtig mit ihr über die Häuser glitt.

„Die Universität war das Herz dieser Stadt. Alle Wege führten dorthin. Wie die Adern eines Organismus, der ohne Herz nicht leben kann. Wir müssen jetzt runter. Leider ist unsere Flugkunst nicht für längere Strecken geeignet. Aber es ist ja auch nicht mehr weit.“

Vorsichtig kletterten sie über umgestürzte Steine und loses Mauerwerk, das ihnen hier und da den Weg versperrte. Plötzlich jedoch endete die Gasse und gab den Blick auf einen großen, gepflasterten Platz frei, in dessen Kern sich das gigantische Universitätsgebäude befand. Im Gegensatz zu den anderen Bauwerken war es vollkommen unversehrt. Ja, man hatte sogar den Eindruck, dass sich jemand darum kümmerte, denn vor dem gewaltigen Eingangstor aus Eichenholz standen Kübel mit blühenden Pflanzen und ein Springbrunnen verbreitete eine angenehme Atmosphäre. Rechts und links neben dem großen Tor waren zwei übermannshohe Statuen in den weißen Sandstein gehauen.

„Das sind die Gründer der Universität. Eskilla und Nereus. Die Legende sagt, dass sie nicht nur die Wissenschaften teilten.“

„Sieh nur, auf Eskillas Kleid sind lauter Sterne und Planeten und sie hat ein Teleskop!“

„Ja und Nereus hält Pinsel und Palette. Er war ein Künstler. Siehst du, sein Umhang wird von Noten gesäumt. Die beiden haben die klügsten Männer und Frauen des Feen- und Elfenreiches hierher eingeladen und wer wollte, der konnte ihren Vorlesungen folgen. Daraus ist nach und nach die Universität entstanden. Oh, wie gern hätte ich hier mein Flötenspiel vervollkommnet! Wir wollen mal sehen, ob die Tür offen ist.“ Alrick zog an der großen eisernen Klinke, aber das Tor gab nicht nach. „Scheint verschlossen zu sein“, meinte er enttäuscht. „Wir sollten weiterlaufen. Es gibt sicher noch mehr Eingänge.“

Staunend über die schöne Fassade und die verzierten Bogengänge wandelten die beiden weiter um das Gebäude herum, bis sie wirklich abermals vor einem Tor standen. Es war nicht so groß und gewaltig wie der Haupteingang, hatte aber eine Türglocke.

„Sollen wir läuten?“, fragte Alrick und griff nach der Klingelschnur.

„Lieber nicht!“, wollte Lilly sagen, aber da hatte der Elf schon daran gezogen. Der helle Klang der Glocke schellte laut über den Innenhof und, wer hätte es gedacht, kurz darauf schlurften schwere Schritte über den Steinboden. Hinter dem eisernen Gitter eines winzigen Fensters erschien das freundliche, runzlige Gesicht eines uralten Elfen. Sein Haar war schneeweiß und etwas dünn geworden, aber seine Augen blickten klar und gewitzt. „Wer seid ihr und was ist euer Begehr?“, fragte er die überraschten Besucher mit erstaunlich fester Stimme.

„Wir sind Lilly Rudloff und Alrick Flötenspieler und wir möchten gern die Universität ansehen“, sagte Alrick gehorsam.

„Das Mädchen ist ein Menschenkind!“

„Ja! Sie interessiert sich für die Sterne.“

„Astronomie oder Astrologie?“, fragte der Alte wieder.

„Astronomie!“, antwortete Lilly ohne zu zögern, ergriff dabei aber vorsichtshalber Alricks Hand. Ein schwerer Schlüssel knarrte im Schloss. Ächzend sprang die Tür auf. „Mein Name ist Chrysius“, sagte der Alte, der in ein langes weißes Gewand gehüllt war.

„Tretet ein Lilly Rudloff und Alrick Flötenspieler. Seid willkommen! Schon viel zu lange hat kein Wissbegieriger mehr an meine Pforte geklopft. Nur herein, nur herein!“

„Wir glaubten diesen Ort völlig unbewohnt“, sagte Alrick aufrichtig.

„Nun ja. Da ich allein hier lebe, kann man ihn schwerlich ‚bewohnt‘ nennen. Doch bin ich freiwillig hier, um über die Schätze der Wissenschaften zu wachen und dabei meine Studien zu betreiben.“

„Das muss aber furchtbar einsam sein!“, sagte Lilly und schaute sich in dem lichtdurchfluteten Innenhof um.

„Nein, es ist friedlich und ich habe die Gesellschaft der Vögel. Was genau sucht ihr?“

Alrick wollte schon antworten, sie wüssten es nicht genau, als Lilly ihm zuvorkam. „Wir müssen ein astronomisches Rätsel lösen und dazu brauchen wir die Bibliothek.“

„Oh, die Bibliothek ist das Heiligtum dieses Ortes und kann nicht für jedermann geöffnet werden. Um was für ein Rätsel handelt es sich?“

Lilly und Alrick waren unschlüssig, wie viel sie dem alten Mann erzählen sollten, aber schließlich siegte ihr Vertrauen und sie weihten ihn ein.

„Das sollte doch herauszufinden sein!“, meinte Chrysius zuversichtlich. „Dieser schändlichen Fee muss endlich das Handwerk gelegt werden! Kommt hier entlang!“

Der Weg führte sie durch lange Gänge, von welchen Türen in verschiedene Vorlesungssäle führten, die mit dem jeweiligen Studienfach beschriftet waren. Alles war ein bisschen verstaubt und ab und an hingen Spinnweben von der Decke herab. Endlich, nachdem sie jegliche Orientierung verloren und die Hoffnung schon beinahe aufgegeben hatten, standen sie vor der Bibliothek.

Lilly erwartete, dass der alte Elf einen Schlüsselbund hervorholen würde, aber stattdessen murmelte er einen geheimen Spruch und die Tür sprang auf. Überwältigt blieben Lilly und Alrick an der Eingangstür stehen. Hier war alles blitzsauber! Der Raum war hoch und hatte, einer Basilika gleich, eine gläserne Kuppel, durch die buntes Licht hereinflutete. Lustige Sonnenkringel tanzten über tausende Buchrücken, die gebunden in Pergament oder Leder in den Regalen bis hoch an die Decke reichten. Mehrere Leitern, die in einer Schiene standen, konnten rundherum an jede beliebige Stelle der Regale bewegt werden, sodass man leichten Zugang zu den Schätzen der Wissenschaften hatte. In der Mitte des Raumes standen Stühle, Tische und Lesepulte für die Studierenden bereit.

„Das ist ja nicht zu glauben!“, rief Lilly überwältigt. „Wie lange kann ich hier bleiben?“

„Solange du willst!“, schmunzelte der Alte. „Doch solltet ihr nicht zuerst das Rätsel lösen?“

„Aber wo sollen wir die Antwort finden? Es würde Jahre dauern, die Bücher nur durchzublättern!“, rief Alrick und drehte sich im Kreis, bis er über einem der Regale das Wort „Astronomie“ las. „Diese hier könnten alle hilfreich sein“, sagte er resigniert und fuhr mit der Fingerspitze über zwei Regalreihen dicker und dünner Buchrücken.

„Die kann man ja gar nicht lesen!“, sagte Lilly enttäuscht. „Was für eine Sprache ist das?“

„Das ist die alte Sprache der Elfen und Feen“, sagte Chrysius. „Ich denke, was ihr sucht, befindet sich in diesem Band.“ Behände kletterte er auf eine Leiter und holte ein dickes Buch mit schweren Holzdeckeln hervor, das sich „Sternen-Atlas“ nannte. Es war in feines Ziegenleder gebunden und hatte reich verzierte Schließen und Beschläge aus Messing. „Wenn ihr in der Lage seid, es zu öffnen, dann werdet ihr finden, was ihr sucht!“, sagte Chrysius geheimnisvoll und legte das Buch vorsichtig auf ein Lesepult.

„Schau nur, wie alt und wie wertvoll es ist!“ Liebevoll strich Lilly über die Vorderseite. Der Buchbinder hatte sich besondere Mühe gegeben und darauf ein bewegliches Messingmodell von den Umlaufbahnen um die Sonne angebracht. Es sah wunderschön aus, aber als Lilly das Buch aufschlagen wollte, ließ sich die Schließe nicht öffnen. „Was genau hat das nun wieder zu bedeuten?“, fragte sie Alrick ungeduldig.

„Ich habe keine Ahnung. Vielleicht brauchen wir einen Schlüssel. Siehst du irgendwo ein Schlüsselloch?“

„Nein! Mist! Sollen wir den Alten fragen?“

„Nein!“ Noch einmal untersuchte Alrick den Deckel. „Ich denke, es ist es so eine Art Rätsel, genau wie damals bei mir. Nur wer es löst, hat die Erlaubnis, das Wissen zu erreichen.“

Schweigend starrten die beiden auf das Buch und zermarterten ihre Hirne.

„Aber natürlich!“, rief Lilly plötzlich. „Dass es mir nicht gleich aufgefallen ist! Es ist unser Sonnensystem, aber völlig verkehrt. Die Reihenfolge der Planeten ist falsch! Merkur, Venus, Erde, Mars, Jupiter, Saturn, Uranus, Neptun – so ist es richtig!“ Lilly platzierte die kleinen Planeten neu und zuckte erschrocken zurück, als sich daraufhin im Inneren des Buchdeckels ein Mechanismus in Bewegung setzte und die Schließe des Buches von selbst aufsprang.

„Was ist das nun wieder?“, rief sie empört, weil ihr Hochgefühl von so kurzer Dauer war. „Wo sind die Seiten? Das Buch ist ja gar kein Buch, sondern ein Kasten!“

„Ich weiß auch nicht!“, sagte Alrick, beschämt über seine Unkenntnis. „Ich habe so etwas auch noch nicht gesehen. Hier ist lediglich so etwas wie ein Kristall auf dem Boden.“

„Ach verdammt!“, Lilly stampfte mit dem Fuß auf. „Am liebsten würde ich es auf den Mond schießen!“

Kaum hatte sie den Satz zu Ende gesprochen, begann der Kristall zu leuchten. Immer stärker wurde das Licht und immer größer der Lichtkegel, den er ausstrahlte, bis er die ganze Kuppel füllte, dunkelblau wie das unergründliche Universum. In seiner Mitte schwebte ein durchsichtiger, leuchtender Mond.

„Das glaub ich nicht!“, rief Lilly begeistert. „Ein Hologramm! Wie wunderwunderschön!“ Eine leise, angenehme Stimme erklärte Größe und Beschaffenheit des Mondes.

„Erde!“, rief Lilly und sogleich wechselte die Abbildung und der blaue Planet stand sichtbar über ihren Köpfen. „Oh, Alrick! Das ist einfach unglaublich. Ich muss hierher zurückkommen!“

„Wir könnten hier gemeinsam studieren, wenn alles wieder in Ordnung ist“, sagte der Elf, der nicht weniger beeindruckt war. „Aber jetzt sollten wir uns beeilen. Die anderen werden uns vermissen und wir haben das Rätsel noch nicht gelöst. Wieso glaubst du eigentlich, dass es etwas mit Sternen zu tun hat?“

„Ich weiß nicht genau. Aber was befindet sich noch über den Bergen von Sinbughwar als der Himmel?“

„Du bist ein schlaues Mädchen, Lilly! Aber dennoch könnte es auch etwas sein, was es in der Menschenwelt nicht gibt. Ein magisches Wesen zum Beispiel. Wollen hoffen, dass du recht behältst!“

„Bitte zeige uns den himmlischen Jäger mit seinem Schwert!“ Vor Aufregung flüsterte Lilly die Worte nur, aber das Buch reagierte sofort. Eine Sternenkonstellation erschien in der Raumkuppel und noch ehe die Stimme mit der Erläuterung begann, rief Lilly: „Der Orion! Es ist der Orion!“ Die sanfte Stimme erklärte: „‚Himmlischer Jäger‘ ist einer von vielen Namen für das Sternenbild ‚Orion‘, das am spätherbstlichen Himmel sichtbar wird. Es besteht aus den drei Gürtelsternen, die auch als Jakobsstab bezeichnet werden und den nördlich davon gelegenen beiden hellen Schultersternen, Beteigeuze und Bellatrix. Fast symmetrisch dazu liegen südlich vom Gürtel die Fußsterne, wovon Rigel der hellste Stern des Orion ist. Die schwächeren Sterne, die sich etwa in der Mitte zwischen den Gürtel- und den Fußsternen befinden, bezeichnet man als Schwertgehänge. In der Mitte …“

„Ich denke, wir haben genug gehört!“, sagte Lilly und klappte den Deckel zu. Auf der Erde sieht man den Orion so gegen Winteranfang, aber das hängt sicher damit zusammen, dass dies hier sozusagen eine andere Welt ist. Wir wollen gehen und es Tibana sagen!“

Alrick stellte das Buch ins Regal zurück. Dann liefen sie und suchten den Weg nach draußen. Chrysius sah schon von Weitem ihre leuchtenden Gesichter und kam herbei, um sie zu verabschieden.

„Wie ich sehe, habt ihr das Rätsel gelöst und die Antwort auf eure Frage bekommen. Ich hoffe sehr, dass wir uns wiedersehen, wissbegieriges Menschenkind!“

Winkend verließen die beiden die Universität durch die Pforte und eilten so schnell sie konnten zum Lagerplatz. Die anderen hatten das Frühstück bereits beendet und sich zu einer Beratung zusammengesetzt. Schnell nahmen die beiden Platz und Tibana schob ihnen ein paar Brote zu.

„Wo wart ihr denn?“, rief Flora vorwurfsvoll. „Wir haben schon auf euch gewartet.“

Alrick machte eine leichte Verbeugung vor den Rittern. „Bitte entschuldigt unsere Verspätung, doch bringen wir interessante Neuigkeiten!“

Mit ein paar raschen Worten beschrieb er ihren Besuch in der Universität und erzählte, wie sie Farzanahs Rätsel gelöst hatten.

„Wir danken dir, Lilly!“, sagte Lindriel, der offensichtlich der Anführer der Ritter war. „Nun wissen wir, dass uns weniger als vier Wochen bleiben, um den Zauber umzukehren. Bevor ihr kamt, haben wir darüber gesprochen, dass wir Elfen uns dem verzauberten Licht von Arwarah nicht nähern können, ohne selbst verwandelt zu werden. Dies ist unser größtes Problem.“

„Das wissen wir!“, sagte Till. „Darum werden wir Menschen das Elfenlicht holen und in die Berge von Sinbughwar bringen.“

Ringsum herrschte nachdenkliches Schweigen. „Das würde bedeuten, dass du mit Lilly allein gehen müsstest. Ihr wäret ganz auf euch gestellt!“

„Ja! Wir haben sowieso nur zwei Tarnkappen. Was gibt es da zu überlegen?“

„Oh, eine ganze Menge, mein Junge! Ihr seid Gäste in unserem Land und wenn euch etwas zustößt … Nicht auszudenken!“ Lindriel schaute sich nachdenklich im Kreise um, aber auf den Gesichtern seiner Freunde war nur Ratlosigkeit zu sehen.

„Was soll schon passieren? Wir sind nicht dümmer als die Zwerge und wir sind genauso unsichtbar. Flora muss so lange bei Alrick und Tibana bleiben.“

„Angenommen, wir machen es so, dann bleibt noch die Frage des Transportes zu klären. Wenn ihr das Licht bei euch tragt, würde jeder, der in eure Nähe kommt, dem Zauber erliegen, und dass ihr allein in die Berge geht, kommt nicht in Frage!“

„Da könnte ich behilflich sein!“, meldete sich Tibana zu Wort. „Wenn Farzanah einen Fluchteppich weben konnte, der das Licht verdunkelt, dann werde ich mithilfe der Herrin der Quellen in der Lage sein, ein zauberundurchlässiges Gefäß herzustellen. Dies hätte zwei Vorteile: Wir können das Licht in die Berge tragen und der Fluch wäre unwirksam, solange wir ihn darin einschließen. Erreichen wir die Berge nicht, müssen wir dafür sorgen, dass das Gefäß für immer verschwindet.“

„Aber dann bleibt auch das Licht für immer verborgen! Das wäre nur der halbe Sieg!“, rief Till aufgeregt.

„Lasst uns einen Schritt nach dem anderen planen!“, meinte der sonst so schweigsame Alarion. Lilly fand, dass er, abgesehen von Alrick natürlich, der schönste unter den Elfen war. Er war groß, hatte eine athletische Figur und langes, pechschwarzes Haar wie ein Indianer. Damit ihm das Haar nicht ständig ins Gesicht fiel, hatte er rechts und links einen kleinen Zopf, in welchen er kleine magische Gegenstände wie Federn und Klauen erbeuteter Tiere eingeflochten hatte. Sein schönes Gesicht war meist ernst, aber wenn er lächelte, dann zeigte er zwei Reihen weißer, ebenmäßiger Zähne. Die Augen waren samtschwarz, sodass man die Pupille nicht sah und seine Gedanken für jedermann hinter der hohen Stirn verborgen blieben. Die schmalen Brauen waren kühn geschwungen und unterstrichen die Ernsthaftigkeit seiner Züge, da er die Angewohnheit hatte, sie eng zusammen zu ziehen, wenn er nachdachte. Der Mund war markant und gerade, das Kinn schmal mit einem kleinen Grübchen darin.

„Da wir nicht unbegrenzt Zeit haben, sollten wir uns in zwei Gruppen aufteilen. Während ihr den Zauber wirkungslos macht, reiten wir zu Farzanahs Burg in Darwylaân und befreien unseren König.“

„Das ist weise gesprochen, Alarion!“, antwortete Lindriel, der, wie die Kinder fanden, das Gegenteil Alarions war, denn sein Haar war flachsblond und seine Augen so blau wie der Himmel. Obwohl er nicht unbedacht redete, liebte er die Gesellschaft anderer und hatte immer ein freundliches oder fröhliches Wort parat. Von den drei Elfenrittern war er der Älteste und Erfahrenste, während Emetiel der Jüngste war. Emetiel war klein und kräftig gebaut. Sein rotblondes Haar war widerspenstig, weswegen er es immer mit einem Lederriemen zusammenband. Wie alle Rothaarigen hatte er eine helle Haut, und damit nicht allzu viel davon zu sehen war, hatte er sich einen Vollbart wachsen lassen, den er oft in Gedanken liebevoll streichelte. Seine grau-grünen Augen konnten nur kurzzeitig an einer Stelle verweilen, überhaupt schien er immer irgendwie in Bewegung zu sein. Bei seinen Gefährten war er seines Humors und seines Mutes wegen sehr beliebt.

„Der Reiseweg zu Pferd ist lang! Wenn es Alrick wieder gelingt, die Nebelkrähen zu rufen, dann könnte der Zauber vielleicht schon gebannt sein, wenn wir an der Burg eintreffen.“

„Voraussetzung dafür ist aber, dass es mir schnell genug gelingt, das Gefäß zu erschaffen. So ein mächtiger Zauber bedarf einiger Vorbereitung und ist nicht einfach!“, erwiderte Tibana.

„Ein Kräutlein hier, ein Knöchelchen da … Was glaubt Ihr, wie lange Ihr braucht, ehrwürdige Hüterin der Quelle?“, fragte Emetiel.

„Ehrlich gesagt, ich weiß es nicht. Zuhause, da bin ich gut vorbereitet, habe meine Bücher, die Kräuter und Knöchelchen parat“, schmunzelte Tibana den errötenden Emetiel freundlich an, „aber hier? Zwei, drei Tage wird es dauern. Dazu der Flug! Wenn wir frühzeitig aufbrechen, sind wir, wenn alles glatt geht, am späten Abend in der Nähe von König Arindals Festung. Aber Till und Lilly können sich der Festung nur vorsichtig nähern, da wir sie im Vorfeld nicht auskundschaften können.“

„Dann sprechen wir also von ungefähr einer Woche. Das entspricht in etwa auch unserer Reise- und Vorbereitungszeit. Da wir einander nicht über das Gelingen unserer Vorhaben unterrichten können, müssen wir einen bestimmten Tag für die Ausführung festsetzen. Zuerst handelt ihr und dann wir!“ Lindriel lehnte sich an den Baumstamm hinter sich.

„Ganz egal, ob ihr den Zauber nun brecht oder nicht“, fügte Emetiel stürmisch hinzu, „wenn wir einmal vor der Burg dieser Furie stehen, dann werde ich nicht umkehren und meinen König dem Schicksal überlassen! Notfalls muss es auch andersherum gehen. Wir fangen Farzanah und zwingen sie, ihren eigenen Zauber zu brechen!“

„Wir kennen und schätzen deinen Mut, Emetiel.“ Lindriel klopfte dem Jüngeren freundschaftlich auf die Schulter. „… und du kannst gewiss auf uns zählen, wenn die Umstände es verlangen. Aber so weit sollte es lieber nicht kommen.“

„Lieber will ich mit meinem König untergehen, als mich dieser schwarzen Hexe anzuschließen!“, sagte Alarion.

„Und wer soll Farzanah dann daran hindern, die Menschenwelt zu erobern? Nein, wir dürfen keine Niederlage erleiden! Am Ende muss doch immer das Gute siegen, nicht wahr?“, empörte sich Till.

„Ja, wie im Märchen!“, fügte Flora, die noch nicht alles richtig erfassen konnte, Tills Worten hinzu. „Und der schöne Prinz bekommt die Prinzessin!“

„Na, das wollen wir doch hoffen!“, sagte Alrick grinsend und errötete, als die anderen ihn erstaunt musterten.

„Dennoch gibt es eine Möglichkeit, euch über das Gelingen unseres Vorhabens zu informieren“, sagte Tibana. „Wenn mich nicht alles täuscht, dann kann man die Festung Arindals bis weit in das Land Darwylaân sehen. Sobald wir erfolgreich und in Sicherheit sind, werde ich ein helles Licht über den Türmen erscheinen lassen und die Gewissheit, die ihr damit erlangt, wird euch zum Sieg führen.“

„So soll es sein!“, Alarion nickte zufrieden. „Was dann geschieht, das müssen wir den guten Mächten überlassen. Entweder, und das wäre am besten, werden wir Farzanahs habhaft und können ihr das Handwerk legen, oder sie ruft ihre Mannen und es kommt zum Kampf.“

„Aber das soll eure Sorge nicht sein!“, fügte Lindriel, an die Kinder gewandt, hinzu. „Sobald ihr das Elfenlicht habt, fliegt ihr so weit es geht in die Berge hinauf. Dort oben, wo die magischen Kräfte am stärksten sind, dort muss es eine Möglichkeit geben, das Licht zu reinigen! Tibana, du musst es herausfinden!“

„So soll es sein!“ Alle waren sich darüber einig.

„Dann wollen wir uns ohne Umschweife auf den Weg machen! Je eher wir gehen, umso eher werden wir siegen!“, sagte Lindriel hoffnungsvoll.

Nun tauschten die Elfenritter die leichte Waldläuferkleidung gegen schwere Ledertuniken, die fast bis zum Knie hinab reichten. Darüber legten sie ihre aus einem speziellen Metall gefertigten Rüstungen an und steckten die Messer in die Gürtel. Die Kinder betrachteten die verschiedenen Schutzsymbole, die in Brustharnische und Unterarmschützer graviert worden waren. Die leichten Jagdschuhe wurden gegen schwere Reitstiefel getauscht und das Schwertgehänge angelegt. Über ihren weiten Mänteln trugen sie letztlich noch Köcher und Bogen. Ein Respekt einflößender Anblick!

„Nehmt dies hier mit auf den Weg!“ Tibana reichte Lindriel ein kleines Gefäß, das an einer Kette hing. „Wenn du von seinem Inhalt ein wenig auf die Erde tropfst wird ein dichter Nebel aufsteigen und dich und deine Männer vor dem Feind verbergen. Für euch selbst aber wird er durchsichtig sein wie reine Luft. Tropfst du etwas davon in ein Gewässer, werden die Fluten anschwellen und den Feind mitreißen oder ertränken. Ihr aber könnt trockenen Fußes hindurchschreiten. Tropfst du etwas davon in den Wind, dann wird er sich zum Orkan ausweiten und den Feind davontragen. Ihr selbst aber werdet nichts fühlen als einen kühlen Lufthauch. Doch bitte ich dich, sparsam damit umzugehen, denn die Wirkung ist nur von kurzer Dauer.“

Voller Bewunderung für die alte Fee nahm Lindriel das kostbare Geschenk entgegen und verabschiedete sich mit erhobener Hand von den neuen Freunden. „Möge uns das Schicksal gnädig sein, damit wir Glück und Zufriedenheit in die Behausungen des Elfenreiches zurückbringen, wie wir es geschworen haben!“ Mit einem Schwung saßen die Männer im Sattel.

„Haben wir nach vier Tagen noch kein Lichtzeichen von euch, dann werden wir die erstbeste Gelegenheit nutzen, um in die Festung einzudringen!“

Ein leises Schnalzen mit der Zunge und die Berittenen setzten sich in Bewegung. Tibana, Alrick und die Kinder standen noch lange auf dem verlassenen Wall und blickten ihnen nach. Wie und wann würden sie sich wiedersehen?

„Nun, da unsere guten Wünsche sie begleiten, wollen wir uns lieber an die Erfüllung unserer eigenen Aufgabe machen! Die halbe Nacht habe ich darüber nachgedacht, ob es nicht klüger wäre, in meine eigene Kräuterkammer zurückzufliegen, aber ich befürchte, die Strapazen sind zu hoch und die Zeit viel zu knapp. Also, meine Lieben, ich schlage vor, dass wir einen Besuch bei Chrysius machen! So war doch sein Name, nicht?“

Tibana nahm Flora bei der Hand und gemeinsam eilten sie durch die halb verfallenen Gassen der Stadt, bis sie zur Pforte kamen.

„Nun, nun!“ Hörten sie den Alten brummen, nachdem sie geläutet hatten. „Einen Augenblick Geduld! Meine Beine sind alt geworden!“

Das Schlurfen über den Steinboden war deutlich zu hören und bestätigte die Worte des Alten, ohne dass man ihn sah. Wahrscheinlich hatte er Lilly und Alrick erwartet, denn diesmal öffnete er die Tür gleich. „Oh, noch mehr wissbegierige Menschenkinder!“, lächelte er Flora an, und als er dann Tibana bemerkte, verbeugte er sich tief. „Welch‘ eine Ehre für die verlassene Stadt der Wissenschaften! Möge euer Besuch der Beginn einer neuen Ära sein! Bitte tretet näher.“

„Werter Chrysius, Lilly und Alrick haben Euch schon von unserem Vorhaben erzählt. Danke noch einmal für Eure freundliche Hilfe. Wir würden gern mehr davon in Anspruch nehmen.“

„Ja, ja! Gern will ich meine verbliebenen Kräfte für die Sache Arwarahs einsetzen. Wünscht ihr, hier zu nächtigen?“

„Die Zeit, die wir zur Lösung unserer Aufgabe zur Verfügung haben, ist knapp bemessen, aber für zwei Nächte würden wir gern bei Euch wohnen!“

„Dann will ich euch die Zimmer zeigen. Doch entschuldige ich mich, sie waren für lange Zeit nicht bewohnt und entsprechen sicher nicht dem, was ihr gewohnt seid.“

Die Freunde folgten dem Alten in die ehemaligen Studentenunterkünfte, in denen er ihnen die Zimmer zeigte. Neugierig blickten die Kinder in einen der ehemals schönen Schlafsäle mit bequemen, hohen Bettnischen und großen, hellen Fenstern, der aber jetzt über und über mit Staub, Schmutz und Spinnweben bedeckt war.

„Das genügt uns voll und ganz!“, hörten sie Tibana sagen. „Wir werden es uns gemütlich machen. Nun seid so freundlich und zeigt mir den Weg ins Labor. Ich benötige einige Geräte und Zutaten für den Zauber. Lilly, das willst du dir doch sicherlich nicht entgehen lassen?“

Keiner wollte das und vor allem wollte keiner in dem schmutzigen Schlafraum bleiben, also folgten sie Chrysius und Tibana. Der Weg führte direkt an der Bibliothek vorbei, in den hintersten Winkel des Gebäudes. Noch bevor sie die Tür erreichten, drehte der Alte sich um und ging zurück.

„Aber will er uns denn die Tür nicht aufmachen?“, fragte Lilly genau in dem Moment als Tibana sie selbst öffnete.

„Dann warst du also schon einmal hier!“

„Oh, ja! Viele, viele Male, mein Kind! Und es war die aufregendste Zeit meines Lebens. So gut wie alles, was ich heute weiß, habe ich hier gelernt, oder wenigstens die Grundlagen dafür.“ Das Erste, was Tibana tat, war, mit dem Zauberstab ein lustig flackerndes Feuer im Kamin zu entfachen, denn der Raum war kalt und etwas feucht. Dann öffnete sie die Fenster einen Spalt, sodass die frische Luft die alte, nach merkwürdigen Kräutern und sonstigen Zutaten riechende Luft verdrängte. Mit der Luft kam auch Licht herein und die staunenden Kinder sahen sich um.

„Feuer ist ein unerlässliches Werkzeug beim Weben von Zaubern!“, sagte Tibana zu Lilly. „Deshalb steht der Arbeitstisch auch so nah am Kamin.“

Das Labor erinnerte die Kinder an Oma Gertrudes Gewölbekeller. Auch dort gab es viele Regale, nur, dass sie im Gegenteil zu diesen mit leckeren Dingen wie Marmelade und Eingewecktem gefüllt waren. Hier gab es hunderte von Gläsern, die fein säuberlich nach dem Verwendungszweck beschriftet in die Regale geräumt waren. Die meisten von ihnen enthielten Kräuter, aber es gab auch welche mit merkwürdigen Dingen wie getrockneten Fischschuppen, Krötenhaut, Fliegen, Spinnen und Hühnerbeinen.

Genau wie in der Bibliothek war alles penibel sauber gehalten – ein Zeichen dafür, dass der Raum häufig von Chrysius benutzt wurde. Lilly entdeckte einige sehr alte Bücher mit Zaubersprüchen in der Menschensprache und machte es sich in einem alten bequemen Lehnstuhl gemütlich. Offensichtlich hatte sie nicht den Wunsch, diesen Ort jemals wieder zu verlassen. Till, Flora und Alrick sahen sich an und zuckten die Schultern. Dagegen war wohl nichts zu machen. Da keiner von ihnen hier bleiben wollte, gingen sie hinaus und streiften über das Gelände. Sie trafen Chrysius in einiger Entfernung vom Campus bei der Gartenarbeit und gingen dem alten Mann zur Hand.

Weder Lilly noch Tibana erschienen zum Mittagessen. Flora, Till und Alrick hatten mit Chrysius‘ Hilfe eine leckere Suppe gekocht und brachten sie ihnen ins Labor, doch als sie Tibana und Lilly am Abend zum Essen riefen, standen ihre Suppenschalen immer noch vollkommen unberührt auf einem Tisch.

„Es macht keinen Sinn, liebe Patentante, wenn du an deinen Kräften Raubbau treibst!“, sagte Alrick besorgt. „Bitte komm und iss mit uns zu Abend. Sobald Flora im Bett ist, will ich dir zur Hand gehen!“

Nur ungern willigte die alte Fee ein, aber bei aller Zauberei forderte auch der Körper sein Recht.

„Ich bin nicht recht zufrieden mit dem, was ich tue“, sagte Tibana und nahm am Feuer Platz. „Irgendetwas Wichtiges habe ich vergessen oder nicht bedacht und es will und will mir nicht einfallen!“

Chrysius reichte ihr eine Schale Kräutertee, frisch gebackenes Brot und Käse von seiner Ziege. „Manche Dinge müssen reifen!“, sagte er. „Esst und trinkt und ruht ein wenig. Dann wird es euch schon einfallen.“

„Vielen Dank!“, antwortete Tibana und verspeiste alles mit Appetit.

„Bevor ich schlafen gehe, möchte ich dir noch zeigen, wie wir in Herrn Chrysius’ Garten geholfen haben!“, sagte Flora mit vollen Backen. „Till hat den Zaun für seine Ziegen repariert und Alrick und ich haben den Kräutergarten gejätet und gegossen.“

„Wie lieb von euch! Dann wollen wir uns das mal ansehen! Ein bisschen frische Luft kann nicht schaden. Danach geht’s aber ab ins Bett!“

Gemeinsam wanderten sie durch Chrysius’ Garten, der in der feuchten Abendluft fein nach Kräutern und Blumen duftete. Flora sauste durchs Gelände und stand auf einmal mit einem Sträußchen vor Tibana.

„Und die hier habe ich für dich gepflückt!“

Dankbar nahm die alte Fee die Blumen entgegen und urplötzlich huschte ein Licht über ihr faltiges Gesicht. Sie schnappte die Kleine und drückte sie an ihr Herz.

„Flora, mein Kind, du hast mir sooo geholfen. Zeige mir, wo du diese Blume gefunden hast! Sie ist es, die mir noch für den Zauber fehlte.“

Aufgeregt folgten sie Flora in die äußerste Ecke des Gartens, kletterten über die halb bewachsenen Steine eines eingefallenen Pavillons und fanden schließlich dort zwischen den Steinen die geheimnisvolle Blume.

„Eisenwurz heißt sie!“, sagte Tibana. „Der Extrakt ihrer Wurzeln mit den anderen Zutaten zusammen wird meinen Zauber härten und undurchlässig machen!“ Vorsichtig löste die alte Fee ein paar Wurzeln aus der Erde. „Nur nicht zu viel, sonst wächst sie nicht nach!“, sagte sie. „Nun könnt ihr beruhigt schlafen gehen, während ich ins Labor zurückkehre!“

„Ich will aber nicht bei den Spinnen und Fliegen schlafen!“, sagte Flora weinerlich. „Ich habe Angst, dass sie mir über das Gesicht krabbeln.“

„Du hast mir geholfen, nun helfe ich dir!“, sagte die Fee und führte die Kinder zum Schlafraum zurück. Geheimnisvoll zückte sie ihren Zauberstab und flüsterte ein paar Feenworte. Bunte Zauberfunken gleißten durch den Raum, und was immer sie berührten, erwachte auf einmal zum Leben.

Ein Besen und ein Staubwedel tanzten wie Wirbelwinde durch den Raum und kehrten den Staub und die Spinnweben zum Tor hinaus. Wie von Geisterhand öffneten sich die Fenster, worauf Bettdecken, Kopfkissen und Matratzen hinausstürmten, sich ordentlich ausklopften und blütenrein wieder an ihren Platz zurückkehrten. Die Gardinen spülten sich selbst in einer Wanne mit duftendem Wasser und hängten sich an ihren Platz zurück, wo ein sanfter Wind sie trocken blies. Die Bettvorleger rollten sich zusammen und liefen in einer stattlichen Prozession zur Teppichstange, wo sie sich in einer Reihe anstellten, um vom Teppichklopfer ausgeklopft zu werden.

Gespenstern gleich schwebten weiße Bettbezüge und Kopfkissen herbei und zogen sich geschwind über die sauberen Betten. Die Kinder standen starr und verfolgten den Zauber mit offenem Mund. Als zum Schluss auch noch ihre Rucksäcke von allein hereingeflogen kamen und sich vor die Betten stellten, konnten sie sich vor Lachen nicht mehr halten. Flora klatschte vor Freude in ihre kleinen Hände und lief von einem Bett zum anderen.

„So!“, sagte die alte Fee. „Das wäre geschafft! Und wenn du selbst sauber bist, komme ich und sage dir Gute Nacht!“

Zufrieden und mit neuer Kraft kehrte Tibana ins Labor zurück. Sie wusste, ihre Nacht würde lang und arbeitsreich werden.

Während Lilly Tibana im Labor zur Hand ging, saßen Alrick und Till bei Chrysius am Feuer. Sie sprachen über dies und jenes, auch darüber, dass Till den Stein Metâbor von der Herrin der Quellen geschenkt bekommen hatte. „Ich hoffe“, sagte Till, „dass er uns den Weg weist, wenn wir in die Berge von Sinbughwar reisen müssen.“

Chrysius hörte ihnen interessiert zu und erst als Till geendet hatte, ergriff er das Wort. „Wie froh bin ich, euch begegnet zu sein! Ihr beide seid einzigartige Geschöpfe mit uralten Seelen, die wieder und wieder geboren wurden. In euch schlummern das Wissen und die Erfahrung aus Jahrhunderten, Erkenntnisse, die ihr auf euren langen Lebenspfaden gesammelt habt!“

Erstaunt schauten ihn die jungen Männer an. „Wie kommst du denn darauf?“, fragte Till ein wenig beschämt.

„Ich sehe es! Bei dir, Till, ist es doch ganz eindeutig. Du bist so sehr mit den guten Mächten verbunden, dass sie dir Visionen schenken! Oder denkst du, die Herrin der Quellen zeigt sich jedem beliebigen Menschen und macht ihm noch dazu ein solches Geschenk? Sie kennt sowohl dich als auch deine Verbundenheit mit dem Wasser und weiß, dass du dich ihrer würdig erweisen wirst!“

„Das klingt anstrengend!“

„Das Leben ist anstrengend! Und du, Alrick Flötenspieler, auch du hast eine Bestimmung. Ich kenne sie nicht, aber ich weiß, dass außer König Arindal niemand sonst in der Lage ist, die Nebelkrähen zu rufen! … Dazu gehört gewaltige Magie und du hast es schon zweimal vollbracht! Um deine Person gibt es irgendein Geheimnis! Weshalb sonst hat Farzanah gerade dich so unbarmherzig behandelt?“

„Ach, ich weiß nicht. Als ich ein Kind war, lebte ich an König Arindals Hof, der damals selbst fast noch ein Jüngling war. Das war eine glückliche Zeit! Dann brachte man mich zu Tibana, meiner Patin, die mich in die Geheimnisse der Magie einweihte. Nach der Ausbildung kehrte ich an den Hof zurück und war stolz, weil König Arindal mich trotz meiner Jugend zum Torwächter machte und mir die Macht über das Boot gab. Dann begannen die Unruhen und gemeinsam mit anderen kämpfte ich gegen die dunkle Fee, die mich schließlich aus Rache an die silberne Dose bannte. Aber das ist alles schon so lange her. Während der Verbannung hat mich allein der Gedanke an König Arindal vor dem Dahinsiechen bewahrt. Er ist ein guter König!“

„Ja, das ist er und damit seine Rettung gelingt und wir bald wieder frei sind, will ich euch berichten, wie ich vor vielen, vielen hundert Jahren, als junger Elf in die Berge von Sinbughwar gewandert bin!“

„Was?!“, riefen Till und Alrick wie aus einem Munde. „Das ist ja unglaublich!“

„Ich habe es nicht oft erzählt und mit der Zeit hatte ich es schon selbst fast vergessen, aber ja, ich war dort.“

Die beiden Zuhörer hingen wie gebannt an den Lippen des Erzählers und vor lauter Aufregung hatte Till Alricks Arm gepackt und drückte ihn fest.

„Und weißt du auch, was uns dort erwartet?“

„Oh, ja! Ich erinnere mich gut! Was ihr sucht, wird die Wiege der Drachen genannt!“

„Die Wiege der Drachen?“

„Ja! Die Berge von Sinbughwar sind die Heimat der Drachen und all derer, die die Menschen als Fabelwesen bezeichnen!“

„Du meinst richtige, lebendige Drachen?“

„Ja! Und Dryaden, Nymphen, Zentauren und andere. Viele von ihnen leben zurückgezogen in ihren Gebieten, aber da ihr zur Wiege wollt, werdet ihr mit Sicherheit an dem ein oder anderen Klan vorbeikommen!“

„Du meine Güte, das kann ja was werden. Da wollen wir nur sehen, dass uns die Krähen so nah wie möglich an unser Ziel herantragen!“, sagte Till aufgeregt.

„Besser wär's!“, stimmte Alrick zu. „Und was sonst kann uns begegnen?“

„Wer kann das wissen, nach so langer Zeit? Aber was auch immer passiert, hört auf euer Herz und ihr werdet das Richtige tun!“

„Hm! Und die Wiege der Drachen, was genau ist das?“

„Buchstäblich das, was der Name schon sagt: der Nistplatz, an dem die Drachenweibchen ihre Eier ablegen. Dracheneier dürfen niemals erkalten und darum haben sie ihr Nest am Fuße des höchsten Vulkans errichtet, da, wo es immer schön warm für ihre Brut ist.“

„Gut, aber wie können uns die Drachen bei der Zerstörung von Farzanahs Zauber behilflich sein? Es sei denn, sie kommen herab und fressen sie auf!“, lachte Alrick.

„In den alten Büchern steht geschrieben, dass Drachenfeuer magische Dinge reinigt!“

„Feuer! Ja, das glaube ich wohl! Aber wie sollen wir die gefährlichen Drachen dazu bringen, den Lichtkristall zu reinigen, und dabei selbst am Leben bleiben?“

„Davon steht leider nichts in den alten Büchern! Das müsst ihr selbst herausfinden.“

„Mit diesen wichtigen Auskünften hast du uns und Arwarah einen großen Dienst erwiesen. Wie können wir dir nur dafür danken?“, fragte Alrick und drückte die Hand des Alten herzlich.

„Ich wüsste schon was!“

„Ja?“

„Nun, da ich wieder weiß, wie gut die Gesellschaft anderer tut und wie schön es ist, Wissen an die lernbegierige Jugend weiterzugeben, wünsche ich mir, dass der König nach seiner Rettung die Universität neu eröffnet!“

„Das werden wir ihm sagen!“, antwortete Alrick ernst. „Und dann werde ich mit Lilly wiederkommen, um bei dir zu studieren!“

„So soll es sein, aber nun will ich zu Bett gehen. Für meine alten Knochen ist die feuchte Nachtluft Gift. Und ihr solltet auch schlafen gehen. Ich denke, Tibana wird den Zauber im Morgengrauen beenden und dann brecht ihr auf!“

Das Feuer war inzwischen heruntergebrannt und so begaben sich Alrick und Till noch einmal ins Labor. Tibana war so beschäftigt, dass sie nur kurz aufblickte und „Morgen bei Sonnenaufgang“ sagte, ehe sie sich wieder ihrer Arbeit zuwandte. Lilly saß, die Beine über die Armlehne gehängt, in einem Sessel beim Feuer. In ihren Armen hielt sie ein Buch über Zauberkräuter und Mineralien. Der Kopf war ihr auf die Brust gesunken und sie schlief. Vorsichtig löste Alrick das Buch aus ihren Händen, nahm sie auf seine Arme, trug sie zu Bett und deckte sie zu. Liebevoll betrachtete er die entspannten Gesichtszüge des Mädchens und strich eine Haarlocke aus ihrem Gesicht. Dann ging auch er schlafen.

Am Morgen, noch vor Sonnenaufgang, weckte Tibana die drei Großen.

„Es ist vollbracht!“, sagte sie. „Den Rest muss die Herrin der Quellen besorgen! Ich brauche eure Kräfte, um sie zu rufen!“

Schlaftrunken taumelten die Freunde hinter der alten Fee zum Brunnen und benetzten erst einmal ihre müden Gesichter mit dem klaren Nass. Ganz wie damals beim See hatte Tibana bereits Vorkehrungen getroffen und Kerzen und Blumen auf den Brunnenrand gestellt. Das vorbereitete Zauberelixier bewahrte sie in einem irdenen Krug auf, der mit einem sauberen Tuch abgedeckt war. Obwohl die alte Fee müde sein musste, ging ein strahlendes Leuchten von ihrem Gesicht aus, sodass es den Freunden ganz feierlich zumute wurde.

Tibana zündete die Kerzen an und warf eine Handvoll Blüten auf die bewegungslose Wasseroberfläche. Dann fassten alle einander bei den Händen. „Herrin der Quellen, wir sind gekommen, weil wir deiner Hilfe bedürfen!“, sagte die Fee mit würdevoller Stimme. Nach einer Weile wiederholte sie ihre Worte und die anderen stimmten mit ein. Der Morgen graute über dem Stadtwall und die ersten Vögel erhoben ihre Stimmen um den neuen Tag zu begrüßen.

„Herrin der Quellen, wir sind gekommen, weil wir deiner Hilfe bedürfen!“

Lilly strengte ihre Augen an. Täuschte sie sich oder bildete sich da ein kleiner Regenbogen über dem Wasser? Kein Zweifel! Die Farben nahmen mit jeder Sekunde an Intensität zu und schillerten in allen erdenklichen Variationen.

„Sie kommt!“, flüsterte Till und im nächsten Augenblick erschien das zarte Gesicht der Herrin der Quellen im Spiegel des Wassers.

„Seid gegrüßt, meine lieben Freunde!“, sagte sie und lächelte in die Runde. „Till Menschenkind, pass gut auf deinen Stein auf. Du wirst ihn bald brauchen! Lilly Sternensucherin, es gefällt mir, mit welchem Eifer du dich den Studien widmest. Wir werden uns noch öfter sehen. Alrick Flötenspieler, schön, dass es dir besser geht.“

Sie blickte lange in seine Augen und dann kurz zu Lilly zurück. „Warum nicht?“, sagte sie dann. „Auf diese Weise können die Welten zusammenrücken! Wo ist das kleine Mädchen, das ihr Flora nennt?“

„Sie schläft noch, Herrin!“

„Bitte gib ihr dies von mir!“ Sie reichte Lilly eine zarte Kette mit einem kristallklaren Stein. Wenn man den Kristall ganz nah an die Augen hielt, konnte man bis in die Tiefen des Ozeans blicken. „Und nun zu dir, Tibana, meine treue Dienerin. Ich kenne dein Begehr. Du hast gute Arbeit geleistet und ich will deiner Bitte entsprechen, denn ihr seid auf dem richtigen Weg! Bitte reiche mir den Krug!“

Das Spiegelbild griff nach dem Gefäß und zog ihn zu sich unter die Oberfläche des Wassers, das mit einem Mal sprudelte und wallte, als würde es sieden. Dann bildete sich ein reißender Strudel, in dessen Zentrum man bis auf den trockenen Grund des Brunnens schauen konnte. Ein Blitz zuckte über den Himmel und traf das unten stehende Gefäß mit Wucht. Nebel stieg aus der Tiefe empor und das Wasser beruhigte sich wieder. Auf seiner Oberfläche schwamm eine hellblaue, kristallklare Schatulle mit Schließen aus Seesternen und Muscheln als Zierde. Der Zauber war gelungen! Ehrfurchtsvoll betrachteten die Freunde das Schutzbehältnis und trugen es zum Haus zurück.

Floras Enttäuschung, nicht dabei gewesen zu sein, löste sich beim Erhalt der Kette in Wohlgefallen auf. Immer und immer wieder hielt sie den Stein an die Augen und konnte sich nicht an den Schönheiten des Wassers satt sehen. Nun gab es kein Halten mehr. Schnell waren die wenigen Sachen gepackt und die kleine Gesellschaft reisefertig.

„Wir liegen gut in der Zeit. Wenn wir in der Festung ebenso viel Glück haben wie hier, dann sollte unser Plan gelingen!“

Herzlich verabschiedeten sie sich von Chrysius, der ihren Proviant um einiges vermehrt hatte. Er schickte ihnen alle guten Wünsche mit auf ihren Weg und nahm ihnen das Versprechen der Wiederkehr ab.

Diesmal zweifelte niemand daran, dass Alrick die Nebelkrähen rufen könnte. Kaum hatte er die goldene Pfeife an die Lippen gelegt, hörte man das Schlagen ihrer Schwingen.

Der Himmel war bewölkt und es war schwer, die richtige Richtung beizubehalten, aber Till, der seinen Stein Metâbor fest in der Hand hielt, wich keinen Meter vom Ziel ab. Als die Nacht schon beinahe hereingebrochen war, sahen sie in der Ferne die Lichter der Festung. Wohlbehalten hatten sie ihr Ziel erreicht.