III.  

Krank

Zusammengeringelt wie ein Würmchen lag Till unter der Bettdecke und schluchzte leise. Nur undeutlich drangen die Worte aus der Küche zu ihm, aber er war dennoch in der Lage, zu erfassen, dass es eine Auseinandersetzung gab. Eine Auseinandersetzung seinetwegen! Wie unangenehm! Wohin sollte er sich nur verkriechen? Am besten wäre gewesen, wenn er mit Mama und Papa im Auto gesessen hätte! Dann wäre er jetzt auch tot und müsste nicht hier leben, wo er nur Umstände verursachte.

Und dabei konnte er die anderen durchaus verstehen. Er wäre an Oskars Stelle auch nicht erbaut gewesen, Hals über Kopf einen Mitbewohner zu bekommen, der sein gesamtes Leben umkrempelte. Er war es zeitlebens gewohnt, die Nummer eins im Leben seiner Eltern zu sein, hier war er nur Kind Nummer vier! Stiefkind Nummer vier!

Till stand auf und öffnete das Fenster. Irgendwie fiel ihm das Atmen schwer und in seinem Hals kratzte es. Er kramte in seinem Rucksack und fand den MP3-Player, den er zu seinem letzten Geburtstag bekommen hatte. Sonntagskinder können mit Feen und Elfen kommunizieren, hatte Oma Gertrude gesagt. Sonntagskinder haben immer Glück! Na toll, wenn das Glück sein sollte! Die Metallica-Songs waren noch eingestellt. Er steckte sich die kleinen Kopfhörer in die Ohren und schottete sich von der Außenwelt ab. Zunächst einmal beruhigten ihn die vertrauten Rhythmen, sodass er in tiefen Schlummer fiel, aber später kamen die Träume wieder. Seit dem Tod seiner Eltern hatte er häufig unter Albträumen gelitten, diesmal aber war es besonders schlimm, weil er nicht aufwachen konnte.

Als Oskar spät in der Nacht nach Hause kam, hörte er leises Stöhnen aus Tills Ecke. Auf Zehenspitzen schlich er hinüber, um nachzusehen. Der Mond, der schon beachtlich rund war, schien geradewegs auf Till und Oskar erkannte, dass er fieberte. Das schmale Gesicht war schneeweiß, die Lippen blutleer und unter den geschlossenen Augen lagen tiefe Schatten. Oskar erschrak. Wie hatte er nur so dämlich überreagieren können? Vorsichtig legte er dem Jüngeren die Hand auf die Stirn, während er die andere auf seine eigene presste. Der Unterschied war erheblich. Sollte er Mutter wecken? Noch ehe er den Gedanken richtig zu Ende gedacht hatte, stand Lucie in der Tür!

„Gott sei Dank, da bist du ja!“, flüsterte sie leise. „Alles wieder okay? Du kennst mich doch, ich kann nicht richtig schlafen, wenn ich nicht weiß, wo du bist.“ Zärtlich streichelte sie ihrem Großen über den Arm.

„Ja, bei mir ist alles in Ordnung, aber mit dem Kleinen stimmt was nicht! Ich glaube, er ist sehr krank!“

„Was?“ Lucie fuhr erschrocken herum.

„Ja, als ich rein kam, da hat er so schlimm gestöhnt. Ich dachte, er hat Alpträume und … Ach, sieh lieber selber mal nach ihm. Ich glaube, er hat hohes Fieber.“

Vorsichtig beugte sich Lucie über das Bett und schon der erste Blick bestätigte Oskars Vermutung. Der Junge fieberte und warf im Traum den Kopf hin und her.

„Till, mein Junge! Wach auf! Du hast einen bösen Traum!“, sagte Tante Lucie leise und fasste seine Hand. „Till, hörst du mich?“ Till riss die Augen auf, wusste aber offenbar nicht, wo er war. „Alles ist gut! Du bist bei uns!“

„Mama!“, stammelte Till und streckte seine Hand nach Lucie aus.

„Verdammt, Ma!“, entfuhr es Oskar. „Der ist ja völlig durcheinander und ich blöder Kerl mach so einen Aufriss wegen dem Zimmer! Was soll ich tun?“ Oskar war ehrlich zerknirscht. Seine gesamte Wut gegen die neuen Lebensumstände wandelte sich in Mitleid und Angst. Wie würde er sich an Tills Stelle fühlen?

„Lauf in die Küche und bring mir eine Schüssel kaltes Wasser, ja? Aber nicht eiskalt. Und Handtücher! Und das Fieberthermometer! Ach, und schmeiß den Wasserkocher an!“, rief Lucie Oskar nach, der schon in großen Sätzen die Treppe hinunterstürmte. „Und wir ziehen erst mal einen trockenen Schlafanzug an, mein Lieber! Der hier ist ja klitschnass!“

„Es tut mir leid“, flüsterte Till, der jetzt zu sich gekommen war. „Ich …“

„Ach Junge! Jetzt hör doch auf mit dem Leidtun!“, sagte Tante Lucie mit Nachdruck. „Dir muss überhaupt nichts leidtun! Wir sind eine Familie, verstehst du?“

„Aber ich wollte Oskar nicht aus seinem Zimmer vertreiben und …“ „Der Oskar ist manchmal ganz schön doof!“, sagte Oskar, der mit der Schüssel in der Hand am Bettrand erschien. „Mach dir mal keine Gedanken um mich! Ich hab‘ total überreagiert.“ Umsichtig stellte er die Schüssel auf den Boden und half seiner Mutter, Till in die aufgeschüttelten Kissen zu betten.

„Ist jemand krank?“, ertönte Oma Gertrudes Stimme von der Tür.

„Ja Mutter, Till! Kannst du mir helfen? Dann kann Oskar sich in mein Bett legen und ich schlafe hier bei dem Jungen!“

„Selbstverständlich, Lucie! Soll ich Holunderblüten aufgießen?“

„Ja, danke! Das Wasser hat schon gekocht!“

Gehorsam trank Till den warmen Holunderblütentee und ließ auch sonst alles apathisch über sich ergehen. Regelmäßig wechselte Tante Lucie die kalten Umschläge um Arm- und Fußgelenke, aber das Fieber wollte und wollte nicht sinken. Am nächsten Morgen rief Lucie schließlich den Hausarzt der Familie, der auch bald darauf erschien. Stumm standen Philipp und die drei Kinder im Türrahmen, als Doktor Hausmann Till abhörte und untersuchte. Nur das leise Klappern von Oma Gertrude, die in der Küche das Frühstück vorbereitete, durchbrach die Stille.

Endlich legte der Arzt das Stethoskop beiseite und schrieb mehrere Medikamente auf ein Rezept. Stirnrunzelnd betrachtete er Till. „Du musst viel schlafen, Junge! Schlaf ist die beste Medizin. Und versuch, nicht so viel nachzudenken. Das hilft jetzt auch nicht weiter.“ Mitfühlend streichelte er über Tills strubbliges Haar. „Ich komme morgen wieder!“ Der Mediziner stand auf, nahm seinen Arztkoffer und ging zur Tür. „Und ihr lasst euren Cousin schön schlafen, ja? Er ist sehr krank! Wenn es nicht besser wird, müssen wir ihn ins Krankenhaus bringen!“

„Nein, Till soll nicht ins Krankenhaus!“, flüsterte Flora aufgeregt und den Tränen nahe. „Wenn ich ihm etwas schenke, wird er dann schneller gesund?“

„Hm, naja, ich weiß nicht recht!“, antwortete der Arzt mit einem Lächeln. „An was hast du denn gedacht?“

„Meine silberne Zuckerdose! Die mag er so gern. Ich hol sie!“ Flora rannte los und kehrte mit dem Gegenstand in der Hand zurück. Feierlich stellte sie ihn auf den Stuhl neben Tills Liege, den Lucie in Ermanglung eines Nachttisches dorthin gestellt hatte. „Die ist für dich, damit du schnell wieder gesund wirst!“, sagte sie und ergriff Tills heiße Hand. „Der kleine Flötenspieler passt auf dich auf, wenn ich gehen muss! Der Onkel Doktor hat gesagt, wir sollen dich schlafen lassen!“

„Na dann kommt mal alle raus hier! Ich will noch kurz mit euren Eltern sprechen.“

Erwartungsvoll versammelte sich die Familie um den Küchentisch, wo Doktor Hausmann dankend eine Tasse Kaffee entgegennahm.

„Was genau hat der Junge und warum soll er ins Krankenhaus?“, fragte Lucie aufgeregt.

„Zum einen hat er sich eine Bronchitis zugezogen, was ja bei dem Sauwetter keine Kunst ist. Dazu kommt aber, dass sein Immunsystem sehr geschwächt ist. Sein Körper ist damit beschäftigt, das doppelte Seelenleid zu verarbeiten, daher das hohe Fieber. Es sind die Nerven!“

„Ach, dass ist alles so schlimm! Was sollen wir nur tun?“

„Euch nach dem alten Sprichwort richten, dass die Zeit die Wunden heilt!

Und wir geben ihm neben dem Antibiotikum Johanniskraut. Das hat keine Nebenwirkungen und hilft der Seele schnell.“

„Danke!“

„Schicken Sie ihn bald in die Schule. Es ist nicht gut, wenn er zu viel Zeit zum Grübeln hat. Naja und ihr …“, er wandte sich den Kindern zu, „ihr könnt für Ablenkung sorgen, wenn er wieder gesund ist. Also bis morgen dann und danke für den Kaffee!“

„Tja, damit sind unsere Pläne, nach Hamburg zu fahren, wohl erst mal auf Eis gelegt!“, sagte Philipp.

„Das habe ich auch gedacht! Angenommen, Till muss wirklich ins Krankenhaus, dann müssen wir bei ihm sein“, antwortete Lucie traurig.

„Oh ja. Aber das ist nicht so schlimm, wir haben schließlich jede Menge zu tun. Zuerst sage ich in Hamburg Bescheid, dass sich unser Besuch verzögern wird, und dann legen wir los!“

„Womit legen wir los?“, fragten die Kinder wie aus einem Mund.

„Wir renovieren Tills Zimmer!“

„Au ja, das ist gut, dann hat er was, worauf er sich freuen kann!“ Flora klatschte in die Hände.

„Und Oskar kann wieder Schlagzeug üben!“

Gesagt, getan! Binnen zehn Minuten waren alle in alte Jeans geschlüpft und die Aktion „Zimmer für Till“ konnte starten. Die Kinder waren mit Feuereifer bei der Sache und zum Mittag fanden alle, dass sie schon lange nicht mehr so viel Spaß gehabt hatten. Phil fuhr mit Oskar in den Baumarkt, um Raufasertapete und Farbe zu kaufen, während Oma Gertrude, Lucie und die beiden Mädchen sich um die aussortierten Sachen und das leibliche Wohl der Familie kümmerten.

Ungeachtet der vielen Arbeit schlich Lucie mehrmals auf Zehenspitzen zu Till. Der Junge schlief fest und wenn sie ihn weckte, um ihm die Medizin zu reichen, befand er sich in einem angenehmen Dämmerzustand. Gehorsam schluckte er die bitteren Tropfen und fiel dann sofort wieder in bleiernen Schlaf.

Er hatte merkwürdige Träume über Feen, Elfen und Naturgeister, die ihn freundlich beim Namen riefen. Auf verschlungenen Pfaden folgte er Oma Gertrude zum Waldrand, wo sie beobachteten, wie sich die Schönsten der Feen im Reigen drehten.

Ab und an erwachte er und blickte sich im fahlen Mondlicht um. Wo war er nur? Traum und Wirklichkeit verwoben sich zu einem Nebelschleier, der sich über seine Gedanken legte. Was war mit ihm geschehen? Und wieso bewegte sich die kleine Figur des Flötenspielers schon wieder auf ihrem Platz auf der silbernen Dose?

Ein paar Tage und Nächte ging das so fort, bis endlich eine leichte Besserung eintrat. Sein Atem und seine Träume wurden ruhiger, aber merkwürdigerweise sah er dennoch, wie sich der kleine Flötenspieler von Zeit zu Zeit bewegte.

Am Ende der Woche waren alle froh, als Doktor Hausmann kam und feststellte, dass Till über den Berg war. Die starken Medikamente wurden abgesetzt und gegen den schlimmen Husten verordnete er ihm acht Aufenthalte im bewährten Heilstollen, dem sogenannten Emanatorium der Feengrotten.

„Was ist ein Ematorum?“, fragte Flora mit großen Augen.

„Emanatorium! Das ist ein Raum, in dem die Luft besonders gut und sauber ist. Menschen, die so einen bösen Husten haben wie Till, werden dort gesund.“

„Und was muss man da machen?“

„Man wird schön warm in eine Decke gepackt und muss die gute Luft tief in die Lungen atmen.“

„Man kann dabei auch singen, habe ich gehört!“, sagte Oma Gertrude. „Na, das fehlte noch!“, entgegnete Till grinsend. „Dann fallen wahrscheinlich die Tropfsteine vor Schreck von der Decke!“

„Und wenn man ganz schön singt, kommt die Feenkönigin und erfüllt drei Wünsche!“, flüsterte Flora aufgeregt.

„Diesen Unsinn hat dir doch Oma Gertrude beigebracht“, lachte Oskar. „Das hat sie mit uns auch probiert. Deswegen hat Lilly ihr Teleskop gekauft, damit sie die Elfen beobachten kann!“

„Mann, bist du doof!“, antwortete diese und funkelte ihren Bruder böse an.

„Ja, und da Oskar dich begleiten wird, könnt ihr sogar im Duett singen!“, unterbrach Lucie den Disput, noch ehe er richtig begonnen hatte.

„Was, ich soll da mitgehen?“

„Na wenigstens beim ersten Mal. Ich weiß ja nicht, ob man Begleitpersonen mit hineinlässt, aber es wäre überaus nett von dir!“ Der Blick, den sie auf ihren Großen richtete, ließ keinen Zweifel aufkommen, sodass er nur still nickte. „Papa und ich, wir müssen endlich nach Hamburg fahren, um die Wohnung aufzulösen.“

„Ja, am Samstag geht’s los! Und damit wir wissen, wohin wir deine Sachen tun können, haben wir eine Überraschung für dich, Till.“

Bei diesen Worten hüpfte Flora freudig in die Höhe. Seit zwei Tagen quengelte sie schon, weil sie Till endlich sein Zimmer zeigen wollte.

„Zieh aber besser den Bademantel über!“, sagte Tante Lucie besorgt.

Gehorsam und mit zitternden Knien folgte Till der Aufforderung. Verwundert blickte er in die vor Vorfreude glänzenden Augen seiner neuen Familie. Was hatten sie mit ihm vor? Als sich die kleine Prozession dem hinteren Flur näherte, dämmerte es ihm. Sie hatten doch nicht etwa sein Zimmer …?

Doch sie hatten!

„Sieh nur! Sieh nur, Till!“ Flora hüpfte wie ein kleiner Troll in dem völlig leeren Zimmer umher.

„Wann habt ihr das denn gemacht?“, fragte er und schaute sich ungläubig um. Der Raum hatte sich wirklich zu seinen Gunsten verändert und wenn erst einmal seine eigenen Möbel da wären, würde er ein behagliches Jugendzimmer haben.

„Ich hoffe, die Farbe ist für dich okay!“, sagte Oskar nicht wenig stolz, weil er so viel geholfen hatte. „Wenn’s nach Papa gegangen wäre, dann hättest du jetzt Blümchentapete! Aber ich schätze, darauf machen sich deine Metallica-Poster nicht so gut!“

„Von wegen Blümchentapete!“

Nach längerem Überlegen hatten sie sich auf ein helles Ocker geeinigt und die Wand mit dem Fenster und der Balkontür dunkler abgesetzt.

„Ja, es sieht klasse aus. Danke! Ich weiß gar nicht, was ich sagen soll!“ Oma Gertrude bemerkte den Kloß, der in Tills Hals wuchs. Verständlicherweise war er in letzter Zeit nah am Wasser gebaut, darum eilte sie ihm zu Hilfe. „Du brauchst gar nichts zu sagen, Junge. Hauptsache, es gefällt dir. Wir werden auch noch was für den Fußboden finden, damit du nicht auf den blanken Dielen gehen musst!“

„Jetzt aber wieder ab in die Koje!“, meinte Onkel Phil, „Wir wollen ja nicht, dass du einen Rückfall bekommst!“

Fröhlich löste sich die kleine Versammlung auf, während sich Till seltsam zufrieden wieder auf seine Liege legte. Durch das weit geöffnete Fenster flutete sanfter, goldener Sonnenschein.

Wie sich Oma Gertrude gewünscht hatte, war der Sommer noch einmal zurückgekehrt und es gab jede Menge im herbstlichen Garten zu tun. Er lauschte auf die fröhlichen Stimmen von draußen, als Flora noch einmal zu ihm kam.

„Wenn du willst, dann sehen wir uns einen Film an!“, sagte sie hoffnungsvoll zu Till. Sie genoss es, dass er nicht so barsch reagierte, wie ihre eigenen Geschwister, wenn sie nicht mit ihr spielen wollten. „Ich habe ‚Tom Sawyer‘ von Oskar bekommen, aber der hat sowieso nie Zeit, ihn mit mir zu sehen!“

„Hm, okay! Aber wie …?“

„Ich geh‘ und hole Papas Laptop!“

Noch ehe Till etwas dagegen sagen konnte, sauste die Kleine davon. Till baute unterdessen eine Rückenstütze aus Kissen. Irgendwie fühlte er sich verändert und freute sich sogar auf diesen Kinderfilm! Die unkomplizierte Gesellschaft seiner kleinen Cousine tat ihm gut. „Sie is‘ ein lieber, kleiner Kumpel!“, sagte er zur Flötenspielerfigur, die daraufhin unmerklich nickte, sodass Till erschrocken die Hand vor den Mund legte und die Dose anstarrte.

Flora, die soeben zurückgekehrt war, hatte seine Reaktion bemerkt. „Hast du gesehen, wie er sich bewegt?“, fragte sie flüsternd und legte das Notebook vor Till auf die Bettdecke. „Du brauchst keine Angst zu haben, er ist ganz lieb!“

„Dann ist es also doch ein Mechanismus?“ Till wollte erleichtert aufatmen, aber die kleine Figur und Flora schüttelten gemeinsam den Kopf! „Das gibt’s doch nicht! Ich glaube, ich habe immer noch Fieber!“, flüsterte er vor Aufregung und fasste an seine Stirn.

„Nee!“ Flora schaute sich vorsichtig um, ob sie auch niemand hörte. „Die anderen sehen das nicht! Ich habe es Mama und Papa schon oft gesagt, aber sie glauben mir nicht. Sie sagen, das kommt von den vielen Feenmärchen, die Oma Gertrude immer erzählt und sind sauer. Also sag lieber nichts darüber zu ihnen!“

„Trotzdem, ich verstehe das nicht. Ist es eine Spieluhr oder so was?“ Till nahm die Dose vorsichtig in die Hand, um sie noch einmal genauer zu betrachten.

„Nein, Oma Gertrude behauptet, dass sie verzaubert ist und ich glaube ihr.“

„Verzaubert?“ Till sah, wie der Flötenspieler ganz leicht mit dem Kopf nickte. „Wer in aller Welt sollte sie denn verzaubert haben?“

„Die böse Fee natürlich!“ Für Flora war das ganz eindeutig. „Weißt du denn nicht, dass es auch böse gibt?“

„Ja, im Märchen! Das weiß doch jedes Kind!“

„Nein, Feen gibt es nicht nur im Märchen, sondern auch bei uns. Oma Gertrude hat sie gesehen, als sie Kräuter und Beeren gesammelt hat. Auf den Wiesen hinter den Feengrotten. Dort treffen sie sich, wenn der Mond scheint. Sie sind wunderhübsch wie Prinzessinnen.“

„Hm?“, machte Till wieder, da er nichts sagen wollte, was die Kleine verletzte. Omas Geschichten hatten offensichtlich einen allzu tiefen Eindruck hinterlassen. „Und was ist in der Dose drin? Wieso kann man sie nicht öffnen? Sie hat ja nicht einmal ein Schlüsselloch!“

„Hat sie doch!“, rief Flora aufgeregt, „aber nicht jeder kann und darf es sehen!“

„Es ist schon spät“, sagte Till leise, um von dem merkwürdigen Thema abzulenken, „wir wollen lieber mit dem Film beginnen, wenn du ihn noch vor dem Abendbrot fertig sehen willst!“

„Na gut!“, meinte Flora und hielt die Dose mit ihren kleinen Händen umfangen. „Du glaubst mir nicht, aber ich weiß es besser, weil Alrick mir das Schlüsselloch selbst gezeigt hat!“

„Und wer ist Alrick?“

„Na Alrick, der kleine Flötenspieler. Er ist ein Elf!“

„Ach so!“, sagte Till schnell und drückte die Starttaste, um dem heiklen Thema zu entkommen. Bei den spannenden Abenteuern von Tom Sawyer und Huckleberry Finn waren Dose und Flötenspieler fürs Erste vergessen und danach wurden die beiden zum Abendessen gerufen. Obwohl Till sich noch immer befangen fühlte, war er nach der langen Bettruhe froh, zum Essen wieder am Tisch zu sitzen. Die Befangenheit war nicht nur auf seiner Seite, dies merkte er wohl, aber er konnte es den anderen nicht verübeln. Sie gaben sich ehrlich Mühe, dennoch gab es nur wenige gemeinsame Gesprächsthemen, wenn man das Hauptthema seines erlittenen Verlustes und alles, was damit zusammenhing, meiden wollte.

Tante Lucie und Onkel Phil hatten für jedes Kind einen Aufgabenzettel vorbereitet, den sie während ihrer Abwesenheit abarbeiten sollten. Oma Gertrude würde sich um das Kochen und Waschen kümmern, aber Dinge wie Einkaufen und Saubermachen mussten unter ihnen aufgeteilt werden. Till war keine Ausnahme, auch er hatte einen Zettel erhalten und seine tägliche Aufgabe war, Flora aus dem nahe gelegenen Kindergarten abzuholen. Lilly und Oskar hatten außerdem den Auftrag erhalten, Till zu den Feengrotten zu begleiten. Großherzig versprachen sie, sich um alles zu kümmern, denn in Anbetracht der 14 Tage sturmfreien Bude waren die beiden guter Dinge.

Eigentlich war es ein angenehmer Abend, der schließlich damit endete, dass Till den Schlüssel für sein neues Zimmer bekam.

„Bitte warte noch mit dem Umziehen!“, sagte Tante Lucie. „So ein leeres Zimmer ist ungemütlich und da bist du so allein!“

„Na gut, dann warte ich auf meine Möbel, aber eigentlich macht es mir nichts aus. Ich bin es gewohnt, allein zu sein.“

„Ist doch nur für ein paar Tage!“

„Komm Till! Du hast versprochen, mit mir fernzusehen!“, rief Flora.

Lucie blickte den Kindern nach.

„Du glaubst nicht, wie sehr ich mir wünsche, dass der Junge sich hier wohlfühlt!“, sagte sie zu ihrer Mutter. „Und dabei weiß ich eigentlich gar nicht so richtig, wie ich mich verhalten soll. Ich kenne ihn ja kaum!“

„Er ist ein guter Junge und er ist stark. Hast du gewusst, dass er ein Sonntagskind ist?“

„Ach Mutter, ein Sonntagskind! Wenn dies das Glück ist, das Sonntagskindern blüht, dann könnten sie gut darauf verzichten, oder?“

„Du musst ein wenig weiterdenken, Lucie. Nicht nur oberflächlich und nicht nur bis zum heutigen Tag. Natürlich ist es ein Unglück, was mit seinen Eltern geschehen ist, aber was ihm hier widerfährt, das ist pures Sonntagsglück!“

„Was meinst du?“

„Das Böse hat ihm genommen, was ihm lieb und wertvoll war, aber das Schicksal hat den Schlag gemildert, indem es ihn zu uns gebracht hat. Er gehört jetzt hierher. Er wird bald merken, dass er Geschwister hat und …“ „Ach Mutter! Ich weiß ja, du meinst es gut, aber denkst du, es ist hilfreich, wenn du ihm zu all dem Neuen auch noch den Kopf mit deinen Feenmärchen verdrehst? Die gute Fee, die den Zauber der bösen Fee mildert? Bist du nicht schon ein wenig zu alt für so was?“

„Schon gut, schon gut! Ich sag ja nichts mehr, aber ich bin nicht blind und du bist es eigentlich auch nicht.“

„Und wirst du zurechtkommen, wenn wir weg sind?“, wechselte Lucie das Thema. Sie hatte jetzt nicht die Nerven, die Grillen ihrer Mutter zu ertragen. Schuldbewusst blickte sie zu Gertrude, die einen Berg Apfelstücke geschnitten hatte. „Mit deinem weißen Haarknoten und mit der bunten Schürze siehst du wie Urgroßmutter aus!“, sagte sie. „Das waren noch Zeiten! Das Haus war alt und zu klein für alle, wir hatten nicht viel Geld, aber wir waren trotzdem glücklich miteinander! Warum war das so?“

Oma Gertrude legte das kleine Küchenmesser beiseite und lächelte ihre Tochter liebevoll an. „Weil kindliche Unwissenheit und unbegrenztes Vertrauen ein Segen sind!“ Während sie sich daran machte, die Apfelstücke in gleichmäßigen Reihen auf dem Teig zu verteilen, sagte Lucie seufzend: „Das Auflösen der Hamburger Wohnung wird schwer für Phil. Er sagt es nicht, aber der Tod seines Bruders und seiner Schwägerin hat ihn sehr getroffen.“

„Ich weiß, aber wenn ihr das erst hinter euch gebracht habt, können wir alle nach vorne blicken und es Till hier so schön wie möglich machen“, sagte Oma Gertrude zuversichtlich.

„Wenn du recht hast, hast du recht!“, lächelte Lucie und fühlte sich etwas besser. „Komm, ich habe die Küchenuhr gestellt. Wir können ein bisschen fernsehen, bis der Kuchen fertig ist.

Nach einem leckeren, gemeinsamen Frühstück brachen Lucie und Phil am Samstagvormittag auf. Lucie winkte aus dem Transporter und freute sich über die vier Kinder, die zufälligerweise der Größe nach am Straßenrand standen. Die fünfjährige Flora kämpfte ein bisschen mit den Tränen, während Lilly und Oskar im Stillen schon ihre Pläne für den Samstagabend machten.

Solange es ging, hing Tills Blick an den roten Punkten der Rücklichter. Seine Gedanken flogen über das graue Band der Autobahn nach Hamburg in die elterliche Wohnung, in sein Zimmer, in das gemeinsame Wohnzimmer … „Stopp!“, dachte er und schalt sich im Stillen einen Narren. „Das führt zu gar nichts! Sei froh, dass du hier bleiben kannst. Du gehst jetzt auf Papas Schule und machst ein super Abi und dann, dann gehst du zurück und wirst ein noch besserer Schiffsbauer als er es war!“

Diesen Samstag hatten die Kinder Glück, denn im Haus war bereits alles blitzsauber und das Sonntagsessen schon vorgekocht, sodass jeder von ihnen seinen Hobbys nachgehen konnte. Oma Gertrude war zu ihren Rommé-Freundinnen gegangen und würde erst am Abend heimkommen.

Während Oskar immer wieder die gleichen Rhythmen auf dem Schlagzeug übte, saßen Till und Flora in der gemütlichen Küche und bastelten an einem Papierdrachen, den Flora am Montag mit in den Kindergarten nehmen wollte.

Die Kleine war begeistert über Tills Hilfe, der sich, wie er selbst fand, nicht dumm anstellte. Kurz vor dem Abendbrot kam Lilly zu ihnen und half, den langen Drachenschweif mit bunten Stoffschleifen zu verzieren, die Oma Gertrude aus ihrem unerschöpflichen Vorratsschatz gezaubert hatte.

„Das haben wir gut hinbekommen, findet ihr nicht?“, sagte sie und kletterte auf einen Küchenstuhl, um den Drachen in voller Größe und Schönheit zu betrachten. „Nun müssen wir aber noch ausprobieren, ob er auch wirklich fliegt!“

„Aber ja fliegt er!“, rief Flora siegessicher. „Till hat alles gemacht, wie es auf dem Zettel stand!“

„Das bezweifle ich ja gar nicht, aber kann doch sein, dass das, was auf dem Zettel steht, nicht richtig ist!“

„Wirklich? Dürfen die da was Falsches draufschreiben?“ Flora schaute ihre Schwester skeptisch an. Sie wusste, dass sie allzu gern Schabernack mit ihr trieb.

„Nicht absichtlich natürlich, aber es kommt gelegentlich vor.“ Till nickte und als er Floras enttäuschtes Gesicht sah, fügte er hinzu: „Ich denke, es geht bei dem Wettbewerb um die Schönheit des Drachens und dieser hier ist jedenfalls der schönste!“

„Ja und morgen probieren wir ihn aus. Ich frag' die Oma, ob wir zur Wiese am Waldrand gehen können!“

„Kommt darauf an, wie das Wetter ist!“ Lilly schnitt eine Scheibe Brot ab und nahm sich dazu eine Knacker aus dem Kühlschrank. Sie hatte es eilig, mit ihrer Freundin ins Kino zu gehen. „Aber wahrscheinlich haben wir Glück, denn morgen beginnen die drei Vollmondtage und da sind die meisten Nächte klar und die Tage windig.“

„Hast du das mit deinem Teleskop beobachtet?“, fragte Till beeindruckt. „Ja, habe ich. Und ich habe es auch dokumentiert!“

Till nickte. Beinahe hätte er gesagt, dass er es gesehen hatte, aber er wollte nicht verraten, dass er in Lillys Zimmer gewesen war. „Und wieso drei Vollmondtage?“, fragte er stattdessen.

„Weil man halt immer drei zählt. Den Tag davor und den unmittelbar danach auch. Der Mond ist dabei schon oder noch ganz rund!“

„Das ist interessant!“

„Ja, aber ich muss jetzt gehen! Wenn du willst, dann zeige ich dir mal, was ich gemacht habe!“, rief sie vergnügt und war schon zu Tür hinaus. Es dauerte nicht lange, da klappte die Tür ein weiteres Mal und die Ruhe im Haus verriet den beiden, dass auch Oskar zu seinen Freunden gegangen war. Das Telefon klingelte und Tante Lucie meldete ihre gute Ankunft in Hamburg. Kurz darauf kam Oma Gertrude nach Hause und die drei verbrachten einen lustigen Abend mit „Mensch ärgere dich nicht“.

Lilly hatte mit dem Wetter recht behalten. Ein lustiger Herbstwind zerzauste den vier Wanderern das Haar und zupfte an Jacken und Hosen, als sie am Sonntagnachmittag, einer hinter dem anderen, zum Waldrand hinauf stapften. Die goldene Herbstsonne schien am strahlend blauen Himmel und die vereinzelten Wolken sahen wie riesige Haufen Zuckerwatte aus. Der steile Pfad führte an einem reifen Maisfeld entlang und Till fand Gefallen am geheimnisvollen Rascheln der Halme im Wind. Er dachte an Zuhause und an die wogenden Wellen der See, die dem lauschenden Seefahrer unverständliche Worte in einer rätselhaften Sprache zuraunten.

Allen voran, auf einen knorrigen Wanderstock gestützt, ging Oma Gertrude. Sie hatte die braune Strickjacke bis oben zugeknöpft und der Wind peitschte ihr den langen Rock um die Beine. In der freien Hand trug sie eine alte Milchkanne, die sie mit Brombeeren füllen wollte, und auf dem Rücken hatte sie eine zum Bündel gerollte Decke. Hinter ihr lief Lilly, die wie immer ganz in schwarz gekleidet war. Ihre beste Freundin war heute zu einer Familienfeier eingeladen und so hatte sie entschieden, mitzukommen. Vorsichtig trug sie den bunten Drachen vor ihrer Brust, der bereits bei jeder Windböe ungeduldig in ihren Armen zappelte. An seinem Schweif hing Flora. Das Mädchen hüpfte vor Freude über den schönen Tag von einem Bein aufs andere, wobei sie sorgsam achtgab, dass der Drachenschweif sich nicht im Buschwerk verfing.

Till bildete den Schluss und hatte noch etwas Mühe, mit den anderen Schritt zu halten. Seine Beine hatten die alte Ausdauer noch nicht wiedergefunden und von Zeit zu Zeit musste er hart husten, aber er war überzeugt, dass ihm die frische Luft gut tun würde. Er trug einen leichten Rucksack, in den Oma Gertrude selbstgemachte Zitronenlimonade und Plätzchen eingepackt hatte.

Auf einer kleinen Anhöhe blieb Oma Gertrude stehen, um zu rasten. Als Till herantrat, zeigte sie mit dem Stock ins Tal, in dem Till zwischen den Bäumen viele Menschen und einen Parkplatz erkannte.

„Da ist der Eingang zu den Feengrotten, siehst du? Wir haben eine Abkürzung über den Berg genommen, aber morgen, wenn du zur Behandlung gehst, dann kommst du von dort die Straße herauf. Es ist wirklich nur ein Katzensprung!“

„Ja, ein Moritz-Sprung!“, jauchzte Flora.

„Das finde ich schon!“

„Lucie hat Oskar und Lilly beauftragt, mit dir zu gehen, also werden sie das auch tun. Wir müssen uns jetzt weiter links halten. Dort sind die Brombeersträucher und unterhalb ist auch ein guter Platz, um den Drachen steigen zu lassen.“

„Lilly, kennst du ein Drachenlied?“, fragte die Kleine.

„Nee, nicht dass ich wüsste, aber Herbstlieder kennst du doch selber.“

„Jaaa! ‚Ihr Blätter wollt ihr tanzen?‘ oder ‚Wind, Wind fröhlicher Gesell!‘“

Und schon stapfte die muntere Gruppe unter Floras und Lillys Gesang weiter ihrem Ziel entgegen.

Oma Gertrude hatte nicht zu viel versprochen. Unterhalb des Waldes war eine riesige Wiese, wo der Bauer das Futtergras bereits auf den Heuschober gestapelt hatte. Die Kinder breiteten die Decke aus und legten den Rucksack ab. Dann hielt sie nichts mehr und während Oma Gertrude den Rest des Weges bis zum Waldrand zurücklegte, rannten und sprangen sie über die Wiese und versuchten, den Drachen fliegen zu lassen.

War das eine Tollerei, ein Lachen und Jauchzen, als er endlich von unsichtbaren Flügeln in die Höhe getragen wurde. „Surr“ machte die Schnur und rollte geschwind vom Rädchen, bis das Ende erreicht war. Aber Tollerei, Lachen und Jauchzen machen hungrig und so kehrten die drei Kinder schließlich zur Decke zurück. Till band das Ende der Drachenschnur fest an den Heuschober, sodass er nicht davonfliegen konnte, und gemeinsam machten sie sich über die Leckereien her. Als Oma Gertrude mit der gefüllten Milchkanne zurückkam, lagen sie mit verschränkten Armen unterm Kopf auf dem Rücken und schauten dem wilden Tanz des Drachens zu.

„Ach je, Kinder, nun muss ich mich aber auch etwas ausruhen, bevor wir heimlaufen können!“, sagte sie und setzte sich zu ihnen.

„Siehst du, wie gut er fliegt, Oma?“, fragte Flora mit vollem Mund.

„Aber ja, Kind. Ich habe ihn schon von dort oben bewundert. Und eure Ausdauer vor allen Dingen. Till muss ganz müde sein.“

„Naja, ich merke schon, dass ich noch nicht ganz gesund bin, aber es hat riesigen Spaß gemacht!“

„Und jetzt betrachten wir den Drachen und du erzählst uns die Geschichte vom Alrick Flötenspieler, der dunklen Fee und dem Elfenkönig, so wie du sie von deiner Urgroßmutter gehört hast.“

„Ach, du meinst wie die kleine Figur auf die silberne Dose kam?“

„Ja, ja! Genau die meine ich.“

„Also gut, aber du weißt schon, dass ich nicht die gesamte Geschichte kenne. Ich kann euch nur berichten, was ich von Urgroßmutter weiß!“

„Fang an, Oma!“

„Ja, erzähl uns was! Till kennt ja diese Geschichte noch nicht!“

Oma Gertrude nahm einen großen Schluck Zitronenlimonade und knabberte nachdenklich an einem Plätzchen, während die Kinder geduldig warteten. Dann rückte sie sich zurecht und begann zu erzählen.

„Vor vielen, vielen Jahren, zum Anbeginn aller Zeit, als Gott die Erde geschaffen hatte, da wollte er diesen wunderbaren Ort mit Lebewesen besiedeln. Er dachte lange Zeit darüber nach, wie sie wohl beschaffen sein sollten und was ihre Aufgabe auf der Erde wäre. Er überlegte hin und her, fand dies wunderschön und jenes praktisch und konnte sich nicht auf eine Lebensform festlegen. Eines Tages hatte er die rettende Idee! Auf einem so großen und schönen Planeten war schließlich Platz für viele verschiedenartige Geschöpfe mit vielen unterschiedlichen Begabungen, und so ließ Gott seiner Phantasie freien Lauf. Wie ihr wisst, gestaltete er die Tiere und teilte ihnen eigene Lebensräume zu: den Fischen das Wasser, den Vögeln die Luft und dem Rest die Erde. Dass ihm dies noch nicht genügte, ist uns klar, denn er erschuf die Menschen in verschiedenen Rassen und mit unterschiedlichen Fähigkeiten. Sie sollten sich die Erde zur Heimat machen, sie hegen und pflegen und sich darauf wohlfühlen. Gott merkte, dass der Mensch allein mit dieser Aufgabe überfordert war und darum erschuf er die Geister der Natur, die dem Menschen zur Hand gehen sollten, ihn beraten und erfreuen sollten. Ich bin sicher, ihr habt ihre Namen schon gehört, denn da sie sich in ihrer Wesensart von den Menschen unterscheiden, gibt es vielerlei Märchen und Geschichten über sie. Was ich meine sind die lustigen Kobolde, die Zwerge, die in Höhlen und dunklen Gängen leben, oder die wunderschönen Dryaden, auch Baumgeister genannt. Ach, es gibt so viele! Manche von ihnen sind in der Menschenwelt besonders bekannt, weil sie sich durch bestimmte Ereignisse einen Namen gemacht haben. Jeder von uns kennt die Heinzelmännchen, den Klabautermann und Undine, den jungfräulichen Wassergeist, oder Rübezahl, den Geist des Riesengebirges.“

„Ja, den kenne ich! Darüber habe ich ein Bilderbuch!“, jauchzte Flora und erntete ein strafendes „Pst!“ von Lilly dafür.

„Nun, unser Till, der könnte uns bestimmt Geschichten über Undine oder den Klabautermann erzählen, denn ihr Reich ist ja das Wasser. Wir hier in Thüringen, wir haben besonderen Kontakt zu den Geistern des Waldes, den Elfen und den Feen. Die Elfen sind ein lustiges Völkchen, die sich gern auf bunten Blumenwiesen, duftenden Heidelandschaften, an Seen und Waldquellen aufhalten. Sie sind verspielt und manchmal sogar leichtsinnig, da sie von Natur aus keine Falschheit kennen. Sie sind liebliche, zarte Wesen, die Musik und Tanz lieben.“

„Ja, Oma, und auf dem Heimweg können wir an der hübschen Quelle anhalten, wo du sie immer gesehen hast, als du klein warst!“ Flora war so von Gertrudes Geschichte gefangen, dass sie ihren Vorschlag nur zu flüstern wagte. Aber auch die beiden großen Kinder hingen an Oma Gertrudes Lippen und ihre neugierigen Blicke forderten sie auf, weiterzusprechen.

„Gern meine Lieben, wenn ihr noch laufen mögt!“, sagte sie und erzählte weiter. „Ihre Liebe gilt der Natur und darum schmücken sie sich gern mit wohlriechenden Blumen. Ja und die Feen, liebe Kinder, das sind die wunderbarsten und klügsten aller Zauberwesen. Sie beschäftigen sich mit dem uralten Wissen über Magie, Heil- und Kräuterkunde, und dienen dem Elfenkönig. Sie sind wunderschön, müsst ihr wissen, haben langes, seidiges Haar und tragen feine, schimmernde Gewänder, die sie zart umhüllen wie Schleier. Sie achten auf die Elfen, die Zwerge und alle anderen Waldgeister und natürlich auch auf die Menschen. Sie wollen, dass alle liebevoll miteinander umgehen. Unordentliche, böse oder faule Menschen mögen sie nicht und fühlen sich in ihrer Nähe traurig und verletzt.“

„Und können sie mit uns reden? Und können wir sie besuchen?“, fragte Flora wieder.

„Aber ja, sie können unsere Gedanken lesen und uns in den Träumen erscheinen. Wenn jemand in Not ist und sie um ihre Hilfe bittet, dann bringen sie Glück. Man nennt sie nicht umsonst die Glücksfeen!“

„Schön wär’s“, sagte Till leise zu sich selbst, aber Oma Gertrude hatte es gehört.

„Warte nur ab, mein Junge! Sie werden auch dein Glück nicht vergessen!“

„Und was hat deine Urgroßmutter nun über die silberne Dose gesagt?“ Lilly hatte sich auf die Ellenbogen gestützt. So cool sie immer gern wirken wollte, die Geschichte ihrer Oma hatte sie in den Bann gezogen.

„Nun ja, leider war ich zu dieser Zeit noch sehr klein und habe wohl vieles von dem, was sie mir berichtete, vergessen, doch ich weiß ganz genau, dass sie mir von dem Zauber erzählt hat.“

„Von einem Zauber?“

„Ihr müsst wissen, dass Elfen und Feen eigentlich unsterblich sind. Ja wirklich! Das Einzige und das Schlimmste, was einem Naturgeist geschehen kann, ist die lebenslange Gefangenschaft. Die Verbannung in ein Exil oder die Verzauberung in einen scheinbar leblosen Gegenstand! Unter den Feen gibt es einige mit großer Macht und Zauberkraft. Unser kleiner Flötenspieler auf der Dose, der hat wohl Pech gehabt oder war jemandem im Wege. Deshalb hat man ihn auf die silberne Dose verbannt, wo er nun darauf wartet, befreit zu werden. Und da er ja unsterblich ist, wird das eines Tages auch geschehen!“

„Das ist aber gar nicht schön!“, jammerte Flora. „Irgendwann müssen sie ihn doch wieder befreien!“

„Reg dich nicht auf, ist doch nur ein Märchen, du Dummerchen!“, sagte Lilly, aber ihre Augen blieben ernst.

„Trotzdem, jemand muss ihn retten! Kannst du es nicht, Oma?“

„Leider nein, aber eines Tages wird ein Sonntagskind kommen und ihn befreien. So heißt es jedenfalls in dem alten Kinderreim, den meine Urgroßmutter mir immer aufgesagt hat!“

„Sprich ihn mal für uns! Bitte, bitte!“ Floras Trauer über den verzauberten Elf war schon versiegt.

„Ich weiß nicht, ob ich die Verse noch kenne“, überlegte Gertrude.

Torwächter vom Feenland,

Farzanah dich ans Silber band,

ohne deiner Flöte Lied,

kein Mensch das Feenland mehr sieht.

Großen Schmerz es dir bereitet,

denn du weißt dein König leidet,

aber nur ein Sonntagskind

eines Tages den Schlüssel find!

Huckeduûster Grindelwarz,

seine Seele ist so schwarz,

seine Leidenschaft ist Gier

und der Schlüssel seine Zier!

Suche ihn im dunklen Berg,

fang dir diesen geizigen Zwerg,

reiche Alrick deine Hand

und betritt das Feenland!

„Oma, du bist die Größte!“, staunte Lilly. „Ich merke mir nie Gedichte!“ „Naja, die Geschichte hat mich als kleines Mädchen sehr beeindruckt und meiner Urgroßmutter zuliebe habe ich es gelernt. Aber kommt, wir müssen los. Der Himmel sieht dunkel aus und wenn wir an der Quelle entlanglaufen wollen, dann müssen wir jetzt aufbrechen. Kannst du den Drachen einholen, Till? Übrigens, danke, dass du Flora dabei geholfen hast! Ihr habt ihn großartig hinbekommen!“

„Kein Problem. Papa und ich bauen oft … haben oft Sachen gebaut“, sagte Till leise und wickelte die Drachenschnur vorsichtig auf das Rädchen.

Die Sachen waren schnell gepackt und die vier machten sich auf den Heimweg. Flora hüpfte von einem Bein aufs andere und sang in einem fort: „Huckeduûster Grindelwarz, Huckeduûster Grindelwarz …!“

„Seine Seele ist so schwarz, seine Leidenschaft ist Gier und der Schlüssel seine Zier!“, stimmte Lilly fröhlich mit ein.

„Daher also hatte Flora gewusst, dass der kleine Flötenspieler Alrick heißt!“, dachte Till. „Sie hat diese Geschichte nicht zum ersten Mal gehört. Man könnte glauben, es sei etwas Wahres daran!“

Der Weg führte sacht bergab und sie kamen zügig voran. Till war so in Gedanken versunken, dass er erstaunt aufblickte, als sie den kleinen Weiher erreicht hatten. Was für ein malerischer Ort! Das kleine Gewässer lag geschützt hinter einem Birkenwäldchen, inmitten einer wunderbar duftenden Blumenwiese. Es wurde durch einen kleinen Bach gespeist, der sich seinen kurvenreichen Weg von den nahe gelegenen Gartenkuppen ins Tal hinab bahnte. Sein steiniges Ufer war von Schilf gesäumt, in dessen Schutz sich mannigfaltiges Leben abspielte. Insekten tummelten sich über der silbrigen Wasseroberfläche und bunte Libellen bahnten sich ihren Weg durch die wogenden Schilfrohre. Bei ihrem Näherkommen verstummte der Gesang der Frösche, die mit unmutigem Quaken ihr Heil in der Flucht suchten. Ohne Frage hatte dieser Ort etwas Zauberhaftes an sich.

„Also laut meiner Urgroßmutter ist dies der Tanzplatz der Feen und Elfen. Etwas Schöneres kann man sich kaum vorstellen, nicht wahr? Wenn die Feen und Elfen ihr Reich hinter den Feengrotten verlassen wollten, dann kamen sie in lauen Vollmondnächten zum Reigen hierher.“

„Dann kommt der Name ‚Feengrotten‘ also wirklich daher, dass die Menschen früher glaubten, der Eingang zum Feenreich sei dort?“, fragte Till.

„Aber ja! Vielleicht glaubten sie es, aber vielleicht wussten sie es auch!“, antwortete Oma Gertrude mit einem seltsamen Lächeln.

„Und was genau haben sie hier gemacht?“

Lilly war viel zu sehr Wissenschaftlerin, als dass sie sich mit einer vagen Aussage zufrieden geben konnte.

„Sie haben sich ihres Lebens erfreut. Sie haben die Natur und die Gemeinschaft untereinander genossen, denke ich. Sie haben mit dem Wind gesungen und sich im Tanz gedreht.“

„Und hier auf diesem Stein haben sie ihre Haare gekämmt“, sagte Flora, die einen großen flachen Stein erklettert hatte und etwas in die Höhe hielt, das aus der Entfernung wie feine Zwirnsfäden aussah. „Sieh nur Oma Gertrude! Ich habe solche Haare gefunden wie Papa an den Weihnachtsbaum macht.“

„Was? Zeig mal bitte!“ Oma Gertrude war mit einem überraschend behänden Satz bei ihr. „Was hast du da aufgesammelt? Nein tatsächlich, du hast recht. Es sieht beinahe wie Lametta aus, nur viel zarter. Tja, dann hast du wohl wirklich Feenhaar gefunden, mein Kind!“

„Und darf ich es mitnehmen?“, flüsterte die Kleine mit großen Augen.

„Aber ja! Urgroßmutter hat gesagt es schützt vor Unglück, wenn man es in einem Kettenanhänger trägt oder sich um den Finger wickelt.“

„Omi“, sagte Lilly mit leisem Vorwurf. „Denkst du nicht, dass du die Feensache mit Flora ein wenig übertreibst? Wenn Ma das mitkriegt, dann schimpft sie bestimmt.“

„Ach, die Menschen heutzutage wollen nur noch an das glauben, was sie sehen! Aber der Glauben allein kann auch schon Berge versetzen!“

In diesem Augenblick zuckte die Lichtgabel eines Blitzes über die Berge. „Wir sollten uns jetzt wirklich sputen, sonst ist das Gewitter schneller als wir!“, rief Gertrude in den aufkommenden Wind. Die beiden Mädchen fassten sich an den Händen und alle gemeinsam liefen sie nach Hause, so schnell sie konnten. Kaum war die Haustür hinter ihnen ins Schloss gefallen, trommelten die ersten Regentropfen an die Fensterscheiben.