V.  

Huckeduûster Grindelwarz

Die Zeit bis zur Führung schien unendlich langsam zu verrinnen. Sowohl Till als auch Lilly hatten ein schlechtes Gewissen, Oma Gertrude zu hintergehen, besonders weil sie ihr angesehen hatten, wie sehr sie sich darüber freute, dass die beiden Kinder etwas Gemeinsames unternahmen. Kurz bevor sie sich auf den Weg machten, überprüften sie noch einmal die Liste der mitzunehmenden Dinge und waren heilfroh, an Streichhölzer und vor allem an Alricks silberne Dose gedacht zu haben.

„Du meine Güte, wir sind vielleicht Helden. Beinahe hätten wir die Hauptperson vergessen.“

„Ja, wir sollten unseren Grips zusammennehmen! Hast du dich warm genug angezogen?“

„Zwei Pullover übereinander und die Jacke, das müsste doch genügen!“

„Na dann los!“

Sie verabschiedeten sich von Oma Gertrude und von Flora, die aber kaum Notiz von ihnen nahm, da sie gerade aus ihrem Lieblingsmärchenbuch vorgelesen bekam. Schweigend gingen die beiden die Straße entlang und bogen bald in den Weg zu den Feengrotten ein. Auf dem Parkplatz standen nur wenige Autos und auch sonst war der große Besucherandrang vorbei.

„Lilly, was machen wir, wenn nur drei oder vier Leute zur Besuchergruppe gehören? Dann können wir auf keinen Fall verschwinden. Sie würden es merken!“

„Mann, daran habe ich überhaupt noch nicht gedacht! So ein Mist! Komm, wir gehen derweil zum Glasbläser. Wir wollen doch nicht auffallen.“

Mit bangem Herzen stellten sich die beiden in den Arbeits- und Verkaufsraum des Glasbläsers, aber sie waren nur halbherzig bei der Sache und hörten der freundlichen Verkäuferin nur mit einem Ohr zu.

Ganze zehn Personen hatte Till am Sammelpunkt gezählt. Das waren eindeutig zu wenig, um zwei davon zu verlieren.

„Komm, wir gehen ein Stück den Weg zum Wald hinauf. Ich glaube nicht, dass sie die Tür zwischen den Führungen abschließen. Vielleicht können wir hineinschlüpfen!“

„Na gut! Ist ja ein offizieller Weg! Kann uns ja niemand verwehren.“

So schnell sie konnten, liefen sie den Weg bis zum Grotteneingang hinauf, aber das Glück war ihnen nicht hold. Die Tür war verschlossen.

„Was machen wir denn jetzt? Das Risiko ist viel zu groß!“, sagte Lilly verzweifelt.

In diesem Augenblick hatte sie die Grottenführerin vom Sammelpunkt aus erspäht und rief ihnen liebenswürdig zu: „Hallo ihr zwei! Ihr gehört wohl schon zu der Schulklasse, die heute ihre Nachtwanderung hier beginnen will? Dann kommt mal herüber. Die Führung beginnt hier!“

„Hast du das gehört, Lilly? Eine ganze Schulklasse in unserem Alter! Mein Gott, etwas Besseres hätte uns nicht passieren können! Welcher Engel hat uns denn da geholfen?“

„Welche zwei Engel müsstest du sagen und eigentlich solltest du wissen, wie sie heißen.“ Lilly klatschte vor Freude in die Hände und Till fiel auf, dass sie Flora in diesem Moment sehr ähnlich sah. „Wollen nur hoffen, dass sie von einer anderen Schule sind und mich nicht kennen. Los, gehen wir zurück!“

Kaum begaben sich die beiden wieder zum Sammelpunkt, als sie durch lautes Lachen und munteres Getöse auf die Ankunft der Schüler aufmerksam gemacht wurden. Till zählte ungefähr zwanzig Jugendliche in ihrem Alter und raunte Lilly zufrieden zu, dass sie gerettet seien. Es war eine Leichtigkeit, sich unter sie zu mischen und die Grottenführerin kontrollierte nicht einmal ihre Eintrittskarten.

Für Till war das Mantelritual bereits Routine, aber Lilly verfolgte jedes Wort der jungen Frau mit Interesse. Till war heilfroh, dass es eine ihm unbekannte Grottenführerin war, denn schon morgen würde er wieder zur Behandlung ins Emanatorium gehen müssen.

„Bleib immer dicht bei mir am Ende der Gruppe“, flüsterte er Lilly zu. „Sobald sich eine günstige Gelegenheit ergibt, bleiben wir zurück!“

Eine ganze Weile mussten die beiden auf ihre Chance warten, weil die Lehrerin der fremden Klasse immer am Ende der Gruppe ging.

Als sie die Quellgrotten erreichten, war Lilly von ihrer Schönheit so gefesselt, dass sie erschrak, als Till sie leise zu sich auf die Treppe rief. „Komm, wir gehen zurück. Das ist unsere Chance! Die machen gleich das Licht aus, wenn sie in den langen Stollen gehen. Halte deine Taschenlampe bereit.“

Das Geländer fest umklammernd, tasteten sich die beiden ein Stück weit die Treppe wieder hinauf und hofften, dass keiner der gut gelaunten Besucher ihr Weggehen bemerkte. In absoluter Dunkelheit warteten sie, bis die dumpfen Stimmen im Berg unter ihnen verklangen und knipsten dann erleichtert ihre Taschenlampen an.

„Du meine Güte, das nenne ich dunkel!“, sagte Lilly und konnte nicht verhindern, dass ihre Stimme vor Aufregung zitterte. „Bist du auch sicher, dass du den Weg findest?“

„Ja, hab keine Angst. Ich habe mir alles genau eingeprägt. Nur die Lichtschalter, die kenne ich nicht und die möchte ich auch gar nicht benutzen. Man weiß ja nicht, ob sie vielleicht mit einem Rechner vernetzt sind. Keine Ahnung!“

„Wollen wir uns verstecken, oder gehen wir den anderen nach?“

„Am liebsten würde ich ein, zwei Stunden im Barbarastollen abwarten. Ich habe so eine Ahnung, dass sie einen Kontrollgang machen werden.“

„Du meinst, sie sehen nach, ob sich jemand einschließen lässt?“, fragte Lilly und Till konnte nur an ihrem Tonfall ahnen, dass sie grinste.

„Genau das! Lass uns gehen!“

Tills weise Voraussicht erwies sich als richtig, denn gerade als sie es sich im dunkelsten Winkel des Stollens bequem gemacht hatten, hörten sie die Stimmen zweier Angestellter, die offensichtlich mit dem Kontrollgang begannen. Die beiden erledigten ihre Aufgabe gewissenhaft und leuchteten mit starken Taschenlampen in alle Ecken, sodass Lilly und Till, die dicht aneinander gekuschelt im Dunkeln hockten, kurz von ihrem Lichtschein gestreift wurden. Unbewusst stockte beiden der Atem, bis die Fußtritte nicht mehr zu hören waren.

Die zeitlose Ewigkeit schien angebrochen zu sein. Till starrte mit weit aufgerissenen Augen in die undurchdringliche Dunkelheit. Vor seinem geistigen Auge erschien das Bild der blumengeschmückten Grabhügel und brannte sich schmerzlich in seine Seele. Seine Sinne waren aufs Äußerste gespannt. Es schien, als würde der Berg im Rhythmus seines Herzschlags pulsieren. Er glaubte das Geräusch jedes Tropfens zu hören, der unabhängig von Licht oder Schatten zu Boden fiel. Er spürte das Wachstum der Tropfsteine und die Kraft, mit der die Bäume ihre Wurzeln fest im feuchten Erdreich verankerten, um voller Dankbarkeit die lebenspendende Flüssigkeit aufzusaugen. „Unendlicher Zyklus von Leben und Tod, von Nehmen und Geben“, raunten die jahrtausendealten, schwarzen Felsen geheimnisvoll. Die kleinen Haare auf Tills Haut standen zu Berge und seine Nase sog die kalte, reine Luft prüfend ein, wie die Nüstern eines Raubtiers, das auf der Lauer liegt. „Bin ich wirklich? Oder bin ich ein Traum?“, schoss es ihm durch den Sinn. „Wenn ich einfach hier sitzen bleibe, dann werde ich ein Teil dieses Berges, ein Teil dieses Zyklus und aus mir würde irgendwann neues Leben wachsen! Nichts, was sich auf diesem Planeten befindet, vergeht für immer!“

Lilly, die nichts von seinen schweren Gedanken und seiner neuen Erkenntnis ahnte, hatte sich vertrauensvoll an seine Seite gelehnt. Er hörte ihren gleichmäßigen Atem und spürte die Wärme ihres Körpers durch seine Jacke. „Wie nett von dir, meine Eltern als Engel zu bezeichnen“, flüsterte er leise.

„Aber ja, daran glaube ich ganz, ganz fest!“

„Komm! Ich denke, wir haben lange genug gewartet!“ Till war froh, dieses Thema nicht weiter verfolgen zu müssen. „Lass uns gehen, wir haben einen Elfen zu retten!“

„Ja, lass uns lieber etwas tun. Die Dunkelheit bedrückt mich mehr, als ich zugeben möchte! Wie spät ist es eigentlich?“

„Wir haben noch Zeit, es ist erst acht Uhr! Wie wäre es mit einer Privatführung, mein Fräulein?“

„Nun ja, da uns der Weg sowieso an den wundersamsten Sehenswürdigkeiten vorbeiführt, habe ich nichts dagegen, ein wenig in die Bergwerksgeschichte eingewiesen zu werden.“

„Dann bitte ich Sie, mir zu folgen. Haben Sie alles?“

War es die unheimliche Dunkelheit oder die Aufregung vor ihrer Mission, die die beiden nur leise sprechen ließ?

Vorsichtig, Schritt für Schritt tasteten sie sich über die unebenen Wege. Die Finsternis schien das Licht ihrer Lampen förmlich zu verschlucken, denn es reichte nicht weiter als ein oder zwei Meter. Entgegen ihrer sonstigen Art fasste Lilly Tills freie Hand.

„Du bist dir doch mit dem Weg sicher, oder?“

„Ja, glaub mir, man kann sich hier unten nicht wirklich verirren!“, antwortete er tapfer, obwohl er gerade überlegte, ob der Weg links oder rechts abbiegen würde. Sie brauchten beinahe eine Viertelstunde, bis sie die Quellgrotten wieder erreichten. Till erzählte Lilly, was er bei seinem Rundgang über die Minerale und Tropfsteine gelernt hatte. Dabei genossen sie den einzigartigen Anblick ihrer Lichtkegel auf den farbigen Sinterterrassen.

„Jetzt noch den langen Stollen und dann sind wir schon fast am Ziel.“

„Ich glaube, ich erinnere mich.“

„Es ist nicht schwierig, es geht immer nur geradeaus. Zieh vorsichtshalber den Kopf ein, aber ich glaube nicht, dass du groß genug bist, um dich zu stoßen.“

„Okay.“

„Hier können wir nicht nebeneinander gehen“, sagte Till und bedauerte, Lillys Hand loslassen zu müssen. „Möchtest du vor oder hinter mir gehen?“

„Wenn es dir nichts ausmacht, dann gehe ich vorne weg!“

„Na dann los! Wir wollen lieber nicht noch mehr Zeit vergeuden. Wer weiß, wie lange es dauert, bis sich Grindelwarz zeigt.“

Till hatte recht behalten. Das Laufen durch den Stollen stellte sich als relativ einfach heraus und wohlbehalten erreichten sie die Treppe, die zur untersten Sohle und in den Butterkeller führte.

„Hier herum! Siehst du, das ist die sogenannte Bergbutter. Ich hätte jetzt auch gern ein schön belegtes Brot“, sagte er mit Bedauern.

„Na, da kann ich abhelfen! Brote habe ich nicht, aber Knacker und Semmeln dazu.“

„Lilly, du bist die Beste! So, nur noch die Eisentreppe hoch und wir sind am Ziel.“

Behände kletterten die beiden die Stufen hinauf. Sie blieben stumm am Eingang stehen und leuchteten die Grotte vorsichtig ab, aber das Licht ihrer Lampen war nicht ausreichend, um bis zum Märchendom zu scheinen.

„Keine Spur von ihm!“, flüsterte Till. „Wie wollen wir es machen?“

„Wo ist denn der Spalt?“ Lilly trat vorsichtig an die kleine Staumauer und leuchtete über den glatten Fels. „Nichts zu sehen!“

„Ganz genau kann ich es nicht sagen, aber es war nicht weit von der Mauer entfernt. Hier hatte ich die Lampe abgestellt.“

„Dann ist also der Eingang zum Feenreich auch hier?“

„Es scheint so“, meinte Till.

Lilly zog den Beutel mit Teelichtern hervor und begann, eine Reihe auf die Mauer zu bauen, die sie dann auf dem Boden verlängerte. „Ich lege in die Nähe von jedem Licht ein paar bunte Schokokugeln und einen Taler. Wenn er der Spur bis zur Mitte der Felswand folgt, ist er zu weit von der Spalte entfernt, um schnell wieder darin zu verschwinden!“

„Ja! Schade, dass wir sie nicht hinter ihm zumachen können!“

„Okay, lass uns mal so tun, als wärst du er!“

Grinsend ging Till zur gegenüberliegenden Seite und lief die Mauer entlang, wobei er so tat, als ob er die Süßigkeiten esse. Er blieb alle zwei Meter stehen und rieb sich genüsslich den Bauch. Dann kam er zur Wand und Lilly hielt ihm plötzlich den Spiegel vors Gesicht.

„Da ist nicht wirklich was zu sehen! Wir dürfen nicht vergessen, ihn mit den Lampen zu blenden“, sagte er.

„Mir wäre es lieber, wenn du den Spiegel nimmst, Till! Ich nehme die Päckchen mit dem Salz.“ Vorsichtshalber öffnete Lilly die Verpackungen an der Seite, sodass beim Schütten ein dicker Strahl zu Boden rieseln würde. „Die Kerzen stelle ich griffbereit hier hin und die Streichhölzer stecke ich in meine Tasche!“

„Was machen wir mit Alrick?“

„Hier ist ein kleiner Vorsprung, da können wir ihn hinstellen. Ich an seiner Stelle würde gern sehen, was hier vor sich geht!“

„Ich auch!“

Nachdem Lilly die Kerzen angezündet und die Süßigkeiten verteilt hatte, hockten sie sich rechts und links neben Alricks Dose auf den Boden.

„Nun können wir nur noch abwarten! Sieh nur wie feierlich die Lichter aussehen!“

„Ja, dies ist ohne Zweifel ein magischer Ort!“ Bei dem Wort „Magie“ fielen ihm die Feensymbole vom Spiegel ein. „Wirst du auch die Zeichen mit dem Salz richtig hinbekommen?“

„Oh ja! Ich habe den ganzen Vormittag in meinem Matheheft geübt! Ich glaube, ich könnte sie auch im Traum aufzeichnen.“

Stille breitete sich über den Ort und Lilly und Till hingen ihren Gedanken nach. Ab und an stand einer von ihnen auf, um die taub werdenden Glieder zu strecken. Ungeduld war auf ihren Gesichtern zu lesen. Ungeduld und Aufregung!

„Was, wenn er nicht kommt? Dann war alles umsonst!“, sagte Lilly.

„Ich weiß auch nicht, was wir machen sollen. Wie wäre es, wenn ich ihn mit einer Melodie locke? Mit Rufen will ich noch warten.“ Bevor Lilly fragen konnte, was er meinte, zog Till eine kleine Mundharmonika aus der Hosentasche. „Ein Geschenk von meiner Mama“, sagte er leise. „Bei uns an der Küste wird sie oft gespielt.“

Er setzte das Instrument an die Lippen und spielte eine leise, fröhliche Melodie. Die Klänge der Mundharmonika hallten vielfach von den Wänden wider, sodass der Eindruck eines ganzen Orchesters entstand.

„Mir ist ganz weihnachtlich zumute“, sagte Lilly und grinste von Herzen, als Till „Oh Tannenbaum, oh Tannenbaum“ anspielte. Gerade wollte Lilly in die Melodie einstimmen, als sie ein leises Rumoren von der Stelle hörten, wo sie die Felsspalte vermuteten. Erschrocken hielt Till im Spiel inne und knipste die Taschenlampe aus. Der Schein der Teelichter reichte nicht bis zu ihnen, sodass die Dunkelheit sie völlig verbarg.

Wieder rumpelte es und kurz darauf war das Tapsen nackter Füße zu hören. Ein sanfter Lichtschein fiel aus der Spalte und kurz darauf erschien ein runder, struppiger Kopf.

Beinahe hätten die Kinder laut gelacht, denn der Zwerg trug tatsächlich eine brennende Kerze auf seiner langen, krummen Nase. „Wahrscheinlich ist die Batterie meiner Lampe nun leer“, dachte Till und spürte, wie sein Herz vor Aufregung raste.

„Himmeldonnerwetter noch einmal!“, fluchte der Zwerg mit einer knarrenden, unangenehmen Stimme. „Was haben diese nichtsnutzigen Menschen nun wieder hier liegenlassen? Nichts Wertvolles für den Huckeduûster, befürchte ich!“

Dem strubbligen, bärtigen Kopf folgte eine kleine Schaufel, die polternd zu Boden fiel und dann der Zwerg selbst. Behände landete er auf der Mauer und sah sich prüfend um. Da er im Schatten stand, konnten die Kinder sein Gesicht nicht sehen, stattdessen hörten sie ihn beständig vor sich hin brabbeln, husten und prusten.

„Dummes Gesindel, haben Feuer im Berg angezündet. Pöbel und Lumpenpack, kommen gleich nach den vermaledeiten Elfen, … Aber halt, was haben sie hier verloren?“ Neugierig bückte er sich und hob einen Goldtaler vor seine Nase. „Gold! Das ist Gold!“, rief er mit vor Gier heiserer Stimme und ließ die Münze im Licht der Flamme funkeln. Doch nun, da er die Süßigkeit so dicht vor seiner Nase hatte, roch er wahrscheinlich den feinen Schokoladenduft, denn er drehte und wendete das Goldstück so lange, bis er die glänzende Hülle entfernt hatte. „Hähähää!“, krächzte er. „Das ist ein Schatz von besonderer Art!“ Plötzlich sah er sich misstrauisch um. „Das ist meiner, verdammt!“, rief er und war, schwups, nicht mehr zu sehen.

„Wo ist er denn hin?“, flüsterte Lilly aufgeregt.

„Gar nicht weg. Siehst du wie die Taler einer nach dem anderen verschwinden? Er ist unsichtbar. Jetzt müssen wir auf der Hut sein!“

Und wahrhaftig war es schaurig anzusehen, wie die Taler von Geisterhand in die Höhe gehoben wurden und dann plötzlich im Nichts verschwanden.

„Er steckt sie in seine Hosentasche und weil er selber unsichtbar ist, werden es die Taler auch.“

Näher und näher kam der Zwerg. Lilly und Till konnten seine tapsigen Schritte und seinen rasselnden Atem hören.

„Wenn er den letzten nimmt, dann leuchten wir ihn an und ich halte ihm den Spiegel vor. Bist du bereit?“

„Ja!“

„Eins, zwei, drei!“

Till und Lilly sprangen gleichzeitig nach vorn und knipsten ihre Lampen an. Aber zu ihrem Schrecken blieb der Zwerg vollkommen unsichtbar. Was nun?

„Verdammtes Lumpenpack! Bettlergesindel! Wollt mir den Schatz rauben!“, hörte Till den Zwerg fluchen und da ihm nichts Besseres einfiel, ließ er sich kurzerhand dort niederfallen, wo er ihn vermutete. Seine Berechnung war aufgegangen, denn er spürte das wild zappelnde Geschöpf direkt unter sich. „Lilly, Lilly, ich hab ihn! Aber wie soll ich ihn packen, wenn ich ihn nicht sehen kann?“

„Was soll ich denn tun?“

„Licht, wir brauchen mehr Licht!“, rief er und packte fester zu. Was er erwischte fühlte sich stachlig an wie Borsten und er begriff, dass er den Zwerg am Bart gepackt hielt.

Der Kleine schimpfte und strampelte wie verrückt. Till schrie auf, als er in die Hand gebissen wurde, doch er ließ nicht los. Im selben Augenblick zuckte ein Lichtblitz durch das Halbdunkel der Grotte und Till sah, wie Grindelwarz ihm die langen, gelben Zähne in die Hand trieb. Ein neuer Blitz aus Lillys Kamera. Till schnappte sich den Spiegel und hielt ihn dem fassungslosen Zwerg vors Gesicht. Mit wutverzerrter Mine erstarrte der Unhold zur Bewegungslosigkeit.

Während Lilly behutsam den Bannkreis zog, nutzte Till die Starrheit des Wichtes, um sein schmutziges Wams zu durchsuchen. Gerade noch rechtzeitig löste er den winzigen Schlüssel vom Hals des Zwerges, als dieser seine Beweglichkeit wiedererlangte.

„Verdammter Habenichts, Dummsack!“, schrie der Zwerg außer sich vor Zorn, wobei ihm der Geifer aus dem aufgerissenen Mund lief. „Gleich werd ich’s dir zeigen …!“

Er griff nach Lillys Haaren und riss und rupfte daran, doch das mutige Mädchen zündete unbeirrt die vierte Kerze an, als sie sah, dass der Bannkreis seine Wirkung nicht verfehlte. Der Zwerg war gefangen!

Erschöpft ließen sich die beiden an der Wand nieder, während Huckeduûster Grindelwarz weiterhin alles Böse auf ihre Häupter herab schwor.

„Lilly“, sagte Till mit zitternder Stimme, „wir haben ihn! Kannst du es glauben? Wir haben ihn wirklich gefangen!“

„Ja! Und du warst klasse! Wie du dich auf ihn gestürzt hast! Woher wusstest du nur, wo er war?“

„Er hat sich durch sein ständiges Fluchen verraten. Aber du warst auch nicht von Pappe! Zeig mal, hat er dir viele Haare ausgerissen?“

„Ach, die wachsen nach! Hast du den Schlüssel?“ Lillys Augen hingen wie gebannt an Tills Lippen.

„Jaaa“, sagte er grinsend und hielt den winzigen Gegenstand in die Höhe. Wahrscheinlich hätte er das nicht tun sollen, denn als Grindelwarz den Schlüssel sah, fing er geradewegs an zu heulen. Wie Rumpelstilzchen hüpfte er im Bannkreis auf und nieder und seine kleinen Äuglein sprühten zornige Funken.

„Jetzt hat er gemerkt, woher der Wind weht! Wie lange noch bis Mitternacht?“, fragte Lilly bange.

„Eine halbe Stunde. Komm wir packen derweilen unsere sieben Sachen zusammen! Sobald wir Alrick erlöst haben, verschwinden wir von hier!“ Er stand auf und begann die ausgebrannten Lichter einzusammeln. Als er am Kreis vorüberkam, hörte er, dass der Zwerg seine Beschimpfungen eingestellt hatte und stattdessen in einen immer wiederkehrenden Singsang verfallen war. Till achtete nicht darauf, bis Lilly plötzlich aufschrie und wie wild um sich schlug.

„Igitt, igitt! Ratten!“, rief sie und stampfte mit den Füßen. „Sieh’ doch nur! Sie kommen von überall her!“

Mit einem Satz war Lilly auf der Mauer. Sie wollte nicht zickig sein, aber als sich der Boden mehr und mehr mit quiekenden Ratten füllte, kroch eine Gänsehaut ihren Rücken hinauf.

Till war sprachlos vor Staunen. Wie war das nur möglich? Woher kamen die auf einmal? Aus der Kanalisation? Unmöglich! Im Gegensatz zu Lilly ekelten ihn die fetten Viecher nicht. Viel zu oft hatte er sie am Hafen gesehen und er wusste, dass sie im Grunde feige Kreaturen waren. Er war sich fast sicher, dass der Zwerg die Ursache für ihr Erscheinen war und befürchtete, dass ihre flinken Füßchen den Bannkreis zerstören könnten. Mit zusammengepressten Lippen bahnte er sich einen Weg durch das Gewimmel, nicht ohne den einen oder anderen Rattenschwanz zu treffen. Unaufhörlich war sein Blick auf den Zwerg gerichtet und wahrhaftig wurde ihm klar, dass der bösartige Unhold die Tiere heraufbeschwor und leitete. Aber nicht der Bannkreis war sein Ziel. Nein, der schien auch für die Ratten unantastbar zu sein. Vielmehr hatte er es auf Alricks silberne Dose abgesehen, die er mit Sicherheit wiedererkannt und die seine Gier und seinen Hass erweckt hatte.

Obgleich schon die gesamte Grotte mit wuselnden Ratten gefüllt war, purzelten und zappelten immer mehr aus allen Ecken und Ritzen hervor. Jetzt hatte eine besonders fette Alricks Dose erreicht und trug sie im Maul vor sich her. Gleich würde sie die Mauer erreichen, auf der Lilly noch immer bewegungslos mit bleichem Gesicht hockte. „Was in aller Welt machen die denn da?“, wunderte sich Till und versuchte näher zu treten. „Sie wollen tatsächlich übereinander klettern!“ Und plötzlich wurde ihm klar, dass der Zwerg vorhatte, die Dose in den Spalt bringen zu lassen. Schon sah er, wie sich der Fels weitete und die ersten Ratten darin verschwanden.

„Lilly!“, rief er und seine Stimme überschlug sich vor Angst, da die Ratte mit Alrick den Spalt schon beinahe erreicht hatte. „Lilly, nimm ihnen Alrick weg!“

„Nein, nein, du Ausgeburt der Hölle!“, tobte der Zwerg in seinem Kreis. „Er ist mein, du bekommst ihn nicht. Hast du den Schlüssel, kriegst du die Dose nicht! Lumpengesindel, Pöbel, Schmarotzer! Denkst, du kannst Huckeduûster Grindelwarz austricksen!“

Till, der nicht weit weg vom Bannkreis war, platzte der Kragen. Kurz entschlossen drehte er sich um, zog den Spiegel aus seiner Jacke und hielt ihn dem Zwerg ein zweites Mal unmittelbar vors Gesicht. Im Licht der vier Kerzen erstarrte der Zwerg erneut und die magisch herbeigerufenen Ratten lösten sich eine nach der anderen auf. Lilly erhaschte die silberne Dose gerade noch rechtzeitig, bevor sie in der dunklen Masse des aufgestauten Wassers versank.

Alles war wieder wie zuvor. Till vergewisserte sich, dass der Bannkreis unversehrt war, und würdigte den nun wieder tobenden Zwerg keines Blicks. Er schaute auf die Uhr. Noch zehn Minuten bis Mitternacht.

„Jetzt hätte ich nichts gegen eine Knacker einzuwenden“, sagte er zu Lilly und half ihr, von der Mauer zu steigen. „Ein-, zweimal abbeißen schaffen wir noch!“

Erschöpft ließen sich die beiden auf ihre Jacken nieder und Lilly packte die Semmeln aus. Sie hatten Alricks silberne Dose nah zwischen sich gestellt, sodass ihm in den letzten Minuten kein Unheil mehr zustoßen könnte. Keiner von ihnen achtete auf den wütenden Zwerg, der nicht aufhörte, sie aufs Ärgste zu beschimpfen und wütend in seinem unsichtbaren Gefängnis auf und nieder zu hüpfen.

„Das glaubt uns kein Mensch!“, sagte Till, die guten Manieren missachtend, mit vollem Mund redend. „Nicht, dass ich die Absicht habe, jemandem davon zu erzählen, aber selbst wenn … Das würde uns niemand glauben!“

„Da hast du wohl gleich zweimal recht!“, antwortete Lilly. „Dies ist ein Geheimnis, das wir niemandem preisgeben dürfen!“

„Nicht mal der Familie?“

„Das können wir später entscheiden! Ich finde, Alrick hat dabei auch ein Mitspracherecht!“

„Apropos Alrick“, sagte Till und schaute auf die Uhr. „Eine Minute bis Mitternacht!“

Alricks silberne Dose vor sich, hatten sich die beiden auf den Boden gekniet. Instinktiv fasste Lilly Tills Hand und gemeinsam rezitierten sie den Spruch.

Das letzte Wort war kaum gesprochen, als Alricks silbernes Abbild in voller Lebensgröße vor ihnen auftauchte. „Abscheulicher Unhold!“ Seine ersten Worte in dieser Nacht waren an den Zwerg gerichtet, der nun, da er Alrick vor sich sah, seine Beschimpfungen eingestellt und eine unterwürfige Haltung eingenommen hatte. Seine roten Äuglein aber blitzten listig und wütend unter den buschigen Augenbrauen hervor.

„Mit dir rechne ich später ab!“, rief Alrick ihm zu. „Zuerst meine Freunde, wollen wir den bösen Zauber beenden!“ Er hatte sich Lilly und Till zugewandt, die gebannt jede seiner Bewegungen verfolgten. „Hast du den Schlüssel, Till?“

„Ja, was soll ich tun?“

„Öffne mein Gefängnis. Diese Ehre gebührt allein dir!“

Ehrfürchtig ergriff Till die Dose und jetzt, da Alrick sich nicht darauf befand, konnte er das winzig kleine Schlüsselloch sehen. Mit zitternden Fingern steckte er den Schlüssel in die Öffnung. Das Schloss knackte und im selben Augenblick erhob sich ein pfeifender Wind in der Grotte, der geflüsterte Worte einer fremden Sprache mit sich führte. Das Kerzenlicht flackerte und warf bizarre Schatten auf die kantigen Felswände. Es sah aus, als ob ein Schwarm riesiger Rabenvögel seine Schwingen ausgebreitet hätte und ins Innere des Berges flog.

Alrick stieß einen Schrei aus und wiederum fing sein silbernes Abbild zu flackern an. Diesmal jedoch löste es sich nicht auf, sondern manifestierte sich zu dem jungen Elf, der schließlich in seiner ganzen jugendlichen Schönheit vor ihnen stand. Ein weiß schimmerndes Licht ging von ihm aus, das seine Andersartigkeit bezaubernd unterstrich. Er nahm dem sprachlosen Till die Dose aus der Hand und öffnete sie. Im Inneren befanden sich die zwei Teile einer silbernen Flöte, die er sogleich miteinander verband und mittels einer silbernen Kette um seinen Hals legte.

„Meine Freunde, ich danke euch von Herzen!“, sagte er zu Till und Lilly und verbeugte sich anmutig, wobei er die schlanke rechte Hand auf sein Herz legte. Über einem dunkelgrünen Hemd trug er ein langes samtblaues Wams, das ihm fast bis zu den Kniekehlen reichte. In seinem Gürtel steckte ein Messer und seine Füße waren mit bequemen, kniehohen Stiefeln aus feinem Leder bekleidet. Er war groß und schlank, hatte langes, goldbraunes Haar und trug, einem Jäger gleich, Langbogen und Köcher auf dem Rücken.

„Und was machen wir als Nächstes?“, fragte Lilly. „Du kommst doch wieder mit uns nach Hause?“

Alrick lächelte über ihre freundlichen Worte, und in der Tat fühlte er sich im Haus der Rudloffs irgendwie zuhause.

Obwohl er sich all die Jahre immer und immer wieder vorgestellt hatte, wie es wäre, nach Arwarah zurückzukehren, wusste er in diesem Augenblick noch nicht genau, wie er vorgehen würde. Besorgt nahm er die Erschöpfung in den Gesichtern seiner Freunde wahr und beschloss, erst einmal dafür zu sorgen, dass sie wohlbehalten ins Bett kamen.

„Ich werde euch nach Hause bringen, aber dann muss ich ins Feenreich heimkehren, um zu sehen, wie sich die Dinge dort entwickelt haben!“

„Ich will mitkommen!“, sagte Till spontan.

„Ja, wir wollen mitkommen! Ist das möglich?“, schloss Lilly sich an.

„Im Prinzip ist es möglich! Wenn ich das Boot rufe, dann könnt ihr hinüber, aber wir sollten nichts überstürzen. Das Erste, was wir entscheiden müssen, ist, was wir mit dem Zwerg tun!“

Bei diesen Worten wendeten sich alle drei dem Bannkreis zu.

„Beim allmächtigen Feenzauber!“, entfuhr es Alrick. „Er ist weg! Seht ihr, der böse Odem Farzanahs hat die Kerzen gelöscht und die Schwingen ihrer verräterischen Raben haben das Salz verstreut!“

„Haben sie! Haben sie! Da seht ihr ganz schön dumm aus! Vermaledeites Lumpengesindel! Abschaum! Pöbel!“ Huckeduûster Grindelwarz stand am Eingang zur Felsspalte und lachte sein gemeines Lachen, dass ihm der rote buschige Bart nur so wackelte und seine langen, gelben Zähne zu sehen waren. „Habt’s versaut! Gründlich versaut! Doch kann nicht mehr mit euch schwätzen, Dummvolk. Muss jetzt eilen, um deine schwachköpfigen Pläne zu vereiteln, Alrick Flötenspieler! Hä, hä, häää!“

Ein grünes Flimmern leuchtete auf und von dem Zwerg oder der Spalte im Fels war nicht mehr das Geringste zu sehen.

Die drei Freunde standen starr vor Schreck und Unglauben. Alrick war der Erste, der sich wieder fing.

„Nun gut!“, sagte er. „Damit hat er uns die Entscheidung über seine Person abgenommen. Ehrlich gesagt, war mir der Gedanke, ihn ohne Kampf zu töten, unangenehm, und wohin hätten wir ihn sperren sollen, damit er sicher verwahrt wäre? Soll er doch petzen gehen. Widerlicher Unhold!“

„Hätten wir ihn nicht an deiner Stelle auf die Dose bannen können?“, fragte Lilly.

„Nein, diese Art bösen Zaubers ist uns Lichtelfen nicht gestattet. Wir dürfen Magie nur anwenden, wenn wir etwas Gutes damit bewirken!“

„Na, darüber ließe sich ja nun streiten!“, sagte Till gähnend. „Den Grindelwarz wegzusperren, das ist schon ein Dienst an der Menschheit, oder?“

Lachend suchten die drei Freunde ihre Habseligkeiten zusammen und verwischten die Spuren ihrer Anwesenheit im Märchendom.

„Alrick, wenn du jetzt ins Feenreich gehst, wann wirst du dann wiederkommen?“

„Das kann ich nicht sagen! Es hängt davon ab, was ich dort vorfinde. Eine lange Zeit ist vergangen.“

„Und könnten wir, bevor wir gehen, nicht wenigstens einen Blick darauf werfen?“

„Auf das Feenreich? Verzeiht meine Unachtsamkeit! Nichts wäre mir lieber, als den ersten Schritt nach Hause an eurer Seite zu tun!“

„Und ist er denn hier? Der Eingang, meine ich?“ Lilly schaute sich suchend um. „Ist es hier denn geheim genug, wo so viele Menschen jeden Tag hierher kommen?“

„Es gibt verschiedene Tore zwischen der Menschenwelt und dem Elfenreich Arwarah. Dies hier ist nur eines davon. Zugegeben, heutzutage ist es ein bisschen schwer, es ungesehen zu nutzen, obwohl wir Elfen selber das Boot ja nicht brauchen. Kurze Distanzen können wir schwebend überwinden, wie ihr vielleicht wisst!“

„Nein, dass wussten wir nicht! Es gibt noch so viel zu lernen!“, sagte Lilly eifrig.

„Dafür werden wir später noch Zeit haben. Jetzt tretet zur Mauer, ich werde euch einen schnellen Blick auf meine Heimat ermöglichen!“

Folgsam traten Lilly und Till an die kleine Staumauer und versuchten vergebens, mit ihren Blicken die Dunkelheit im Hintergrund der Grotte zu durchdringen. Ihre Augen hingen an dem Freund, der mit ausgestrecktem Arm förmlich auf dem Wasser stand und etwas im Singsang seiner fremden, wohlklingenden Muttersprache sagte. Auf einmal lösten sich eine Anzahl kleiner tanzender Lichter von seinen Fingerspitzen und schwebten geheimnisvoll über das Wasser. Die Lichtpunkte erleuchteten das Gewölbe der Grotte mit ihren abertausenden von Tropfsteinen, und die Gralsburg, die träumerisch am Ufer des Sees lag.

Alrick nahm die silberne Flöte und spielte eine feine, sanfte Melodie. Leichter Wind erhob sich und wehte ihnen den frischen Duft zarter Blüten entgegen. Ein Schatten löste sich aus der Dunkelheit und glitt lautlos über den geheimnisvollen Spiegel des Wassers. Es war das Boot. Aber kein Boot im herkömmlichen Sinn, nein! Es war kunstvoll aus den großen Blättern einer Glockenblume geflochten, deren blaue Blüten den Mast schmückten.

„Oh, wie schön!“, sagte Lilly und kletterte hinter Till und Alrick an Bord.

Ein zweites Mal spielte der Elf die Melodie und das Boot nahm geräuschlos Fahrt auf. Till und Lilly saßen und staunten, während die tropfsteinbehangenen Wände an ihnen vorüberglitten. Nebelschleier, die auf merkwürdige Weise im Rhythmus der Melodie tanzten, streiften ihre Gesichter und nahmen ihnen vorübergehend die Sicht. Die beiden Menschenkinder erwarteten, jeden Augenblick die Gralsburg zu erreichen, denn die Distanz schien ihnen nicht größer als 20 Meter zu sein, aber als sich die Nebelstreifen hoben, hatten sich die Dimensionen geweitet und sie sahen die Gestade eines fernen Landes vor sich liegen.

„Das, meine Freunde, ist die Küste von Arwarah!“, sagte Alrick stolz mit bewegter Stimme und deutete im weiten Bogen auf die Ufer vor sich.

Till und Lilly hatte es die Sprache verschlagen. Wie gebannt hing ihr Blick an dem unbekannten Zauberland mit seinem goldenen Strand und den blumigen Ebenen, an die sich dichte, saftig grüne Wälder anschlossen.

„Ich träume, oder?“ Till war so beeindruckt, dass er nur zu flüstern wagte. „Wie kann dieses Wunderland in die Grotte passen?“

„In unserer Sprache nennt man es Gwynlath Luûmghi, Illusionszauber. Die Menschen sehen nicht, was hinter der Grotte ist. Sie haben die Gabe des Sehens verloren, als sie verlernten, zu glauben!“

„Also ist es die ganze Zeit über da?“

„Ja, selbst die Burg, die sie Gralsburg nennen, ist nur ein von der Natur geschaffenes Abbild der Festung von Arwarah. Wenn sich der Morgennebel über dem Land hebt und die Sicht klar ist, dann könnt ihr von hier aus die Berge von Sinbughwar sehen, auf deren Ausläufern sich die Residenz des Feenkönigs befindet.“

„Ach Alrick, wie ist das schön! Ich freue mich so für dich, dass du nun nach Hause zurückgehen kannst“, sagte Lilly. „Aber uns wirst du fehlen, vor allem Flora. Sie wird sehr traurig sein, dass sie sich nicht von dir verabschieden konnte.“

„Ja, wenn ich es recht bedenke, dann ist es sehr unhöflich von mir, wo ich so lange Zeit die Zierde ihrer kleinen, freundlichen Teepartys war!“ Der Elf zwinkerte Lilly verschwörerisch zu. Nachdenklich zog er die nun figurlose Dose aus seiner Jackentasche und legte einen Ring hinein, den er sich vom kleinen Finger gezogen hatte.

„Bitte gib ihr das und richte ihr aus, dass ich wieder bei euch sein werde, sobald es mir möglich ist.“

„Oder, wenn du unsere Hilfe brauchst!“, fügte Till ernsthaft hinzu.

„Ja, denk nicht, dass du allein bist!“

„Ich verspreche es, doch nun müssen wir uns beeilen. Ich bringe euch zu einem anderen Tor in die Menschenwelt!“

Wieder befahl er dem Boot, das seinem Zauber folgend die Richtung wechselte und mit Bedauern sahen sie, wie die Küste von Arwarah ihren Blicken entschwand, als sie wieder in den Nebel hineinglitten.

„Wenn die Elfen eine eigene Sprache haben, warum verstehst du uns dann und wir dich?“, wollte Till wissen.

„Im Alltag bedienen sich alle im Elfenreich der Sprache der Menschen. Ich weiß nicht genau, warum, das war schon immer so“, erklärte Alrick. „Die Elfensprache wird nur für Magie und besondere Gelegenheiten benutzt.“

Wind kam auf und brachte das Boot sanft zum Schaukeln, sodass die Glockenblüten am Mast mit feinen, betörenden Tönen zu läuten begannen. Till und Lilly wurden schläfrig. Ihre Köpfe sanken auf die Brust und sie erwachten erst aus ihrem Schlummer, als das Boot mit einen leisen Ruck auf Land stieß.

Gähnend reckten sie die Arme und sahen sich fragend um.

„Sind wir angekommen?“

„Ja!“ Alrick half ihnen, das Boot zu verlassen. „Adhaweé, Meldara und Meldar!“, sagte er sanft, was in der Sprache der Lichtelfen gleichermaßen „Guten Tag“ als auch „Auf Wiedersehen, Freundin und Freund“ hieß.

„Adhaweé, Alrick“, antworteten Lilly und Till.

Längst hatten sie den Elfentanzplatz und den kleinen Weiher erkannt, den Oma Gertrude ihnen gezeigt hatte. Der Morgen graute bereits über der Stadt und eiligen Schrittes begaben sie sich auf den Heimweg. An der Weggabelung blickten sie zurück und winkten Alrick, der auf einem Stein stand und ihnen nachsah, bis sie seinem Blick entschwanden.

Ohne Pause liefen die beiden nach Hause. Ein Gespräch kam nicht zustande. Zu viele gegensätzliche Gefühle beherrschten ihre jungen Seelen. Glückseligkeit und Trauer, Furcht und Abenteuerlust! Aber in erster Linie waren sie müde und dagegen half nur eines: viel Schlaf. Ohne viel Federlesens schlichen sie ins Haus.

„Wir reden morgen!“, sagte Lilly und zwinkerte Till vertrauensvoll zu. „Adhaweé und gute Nacht!“

Till schlief traumlos bis in den späten Morgen und da Oma Gertrude ihn und Lilly bei Freunden glaubte, bemerkte sie nicht, dass die beiden nach Hause gekommen waren. Donnerstags war Markttag und Oma Gertrude hatte Flora zum Kindergarten gebracht, bevor sie sich auf den Weg zum Einkaufen machte. Till schielte zu Oskars Bett, aber der schwitzte bereits über einer Seminararbeit.

Gerade, als Till die Augen noch einmal schließen wollte, hörte er ein leises Klopfen an der Tür. Die Klinke wurde sacht heruntergedrückt und Lillys dunkler Kopf erschien im Türspalt. Sie hatte heute die ersten beiden Stunden frei und hatte daher länger schlafen können.

„Bist du schon wach?“, fragte sie. „Kann ich reinkommen?“

Sofort war Till hellwach. „Na klar!“, rief er, froh, seine Erinnerungen an gestern mit Lilly teilen zu können. Das Mädchen setzte sich auf die Bettkante und zog die Knie bis unters Kinn. Sie trug ein Nachthemd, unter dem nur die nackten Füße hervorschauten und ihr Haar war zu zwei dicken Zöpfen geflochten. Till fand, dass sie ganz passabel aussah, auch wenn sie nicht sein Typ war. „Hast du gut geschlafen?“, fragte er unverfangen, weil er nicht sofort mit der Tür ins Haus fallen wollte, aber Lilly hatte keine Zeit für Small Talk.

„Das war unglaublich gestern, oder?“

„Dann war es also kein Traum?“

„Ein Traum? Nein! Es ist so wahr wie du und ich! Nur mein Verstand hängt hinterher!“, antwortete sie lachend.

„Was wird Alrick wohl gerade tun?“

„Na, er ist auf dem Weg zum Elfenkönig. Es schien mir ein ziemlich weiter Weg zu sein, denkst du nicht?“

„Ja, und gefährlich!“, sinnierte Till.

„Und er ist dort ganz allein!“, antwortete Lilly. „Wir sollten bei ihm sein und ihm helfen. So was tun Freunde doch!“

„Ja, aber vielleicht will er unsere Hilfe nicht! Oder vielleicht braucht er sie auch gar nicht! Vielleicht hat sich in der Zwischenzeit schon alles von allein geklärt!“

„Das wäre zwar schön, ist aber nicht anzunehmen!“, sagte Lilly bestimmt.

„Wieso nicht?“

„Sein Freund der Elfenkönig, der hätte ihn doch suchen lassen. Er hätte Farzanah bestimmt dazu gebracht, ihm zu verraten was sie mit seinem Freund gemacht hat und dann wäre er gekommen!“

„Hm!“

„Was denn?“

„Ja, du hast wahrscheinlich recht. Wenn er ein wirklich guter Freund ist, dann hätte er das getan. Aber wer weiß schon, was dort in so vielen Jahren alles geschehen ist. Denk nur, was hier auf der Erde in den letzten hundert Jahren los war. Es kann sonst was sein!“

„Genau! Deswegen mache ich mir auch Sorgen um Alrick!“

Lilly sah ehrlich besorgt aus und nach und nach fing Till an, ihre Befürchtungen zu teilen.

„Aber selbst wenn wir wollten, wir können nicht allein hinüber. Wir sind nicht in der Lage, das Boot zu rufen“, sagte er, nachdem ihm kurz der Gedanke gekommen war, Alrick zu folgen. „Und außerdem, wie willst du Oma Gertrude klarmachen, dass wir die Ferien mal so eben im Feen- und Elfenreich Arwarah verbringen wollen?“

Den letzten Satz hatte er eigentlich scherzhaft gemeint, aber Lilly machte sich ernsthaft Gedanken darüber.

„Ich weiß nicht, aber vielleicht würde sie es verstehen. Sie ist doch von Feen so beeindruckt. Und die Zeit wäre nie wieder so günstig wie jetzt!“

„Wie meinst du das?“ Till verstand nicht, worauf Lilly hinauswollte.

„Na, meine Eltern sind nicht da, und übermorgen beginnen die Ferien!“

„Ach, daran habe ich gar nicht gedacht! Ja, wenn man es so betrachtet …“

Till war erstaunt, wie ernst es Lilly war. Doch im Augenblick war da nichts zu machen und das musste auch Lilly einsehen.

„Na, dann zieh ich mich mal an und gehe in die Schule. Wir haben nicht mehr viel zu tun, aber es ist besser, wenn ich mich für den Rest des Tages noch blicken lasse. Heute gehen wir nach dem Unterricht ins Theater und darauf freue ich mich eigentlich. Außerdem will ich Omi nicht belügen!“

„Ja, das ist wirklich nicht schön. Ich muss mich auch beeilen, ich geh’ in den Heilstollen zum Inhalieren. Vielleicht …“

Lilly ließ Till gar nicht erst aussprechen. „Mach die Augen auf, ob du was siehst oder hörst! Ich würde ja gern mitkommen, aber …“

Die beiden machten ein schnelles Frühstück und nachdem sie Moritz kurz gestreichelt hatten, verließen sie das Haus in verschiedene Richtungen.

Tills Besuch im Heilstollen war unspektakulär und enttäuschend. In dieser eher kahlen Grotte erinnerte nichts an das Abenteuer, das er gestern im Märchendom erlebt hatte, und der starke Besucherstrom ließ keinen Zweifel übrig, dass selbst der Zwerg den Märchendom meiden würde. Also machte er sich resigniert auf den Heimweg und schalt sich selbst einen Narren, da er insgeheim auf irgendein Zeichen von Alrick gehofft hatte.

Auch der übrige Tag brachte nichts an Aufregung oder Abwechslung mit sich. Um sein schlechtes Gewissen zu beruhigen, half Till Oma Gertrude ein wenig im Garten und die Zeit, bis sie Flora aus dem Kindergarten holen würden, verbrachte er mit Lesen im Almanach. Es gab noch so viel Wissenswertes und Erstaunliches zu entdecken und er wollte natürlich für den Fall der Fälle gewappnet sein.

Für Till bedeuteten die Herbstferien eine letzte Frist, denn danach würde auch er wieder zur Schule gehen müssen. Aber weshalb am Anfang schon ans Ende denken? Lilly und Oskar würden heute, am vorletzten Schultag, nicht ganz so spät nach Hause kommen und so entschied die Familie, am Nachmittag ein Picknick am Waldrand zu machen. Natürlich war dieser Vorschlag von Lilly und Till gekommen, die heimlich auf ein Zeichen von Alrick hofften. Gerade, als sie das Haus verlassen wollten, klingelte das Telefon. Tante Lucie und Onkel Phil waren am Apparat. Sie erklärten, dass es Schwierigkeiten gäbe, weil der Wohnungsbesitzer nicht zum vereinbarten Übergabetermin kommen könnte. Auch waren die Renovierungsarbeiten nicht wie erhofft vorangekommen. Kurz und gut, die beiden bedauerten, noch länger in Hamburg bleiben zu müssen.

Natürlich waren sie die Einzigen, die das wirklich bedauerten, aber keines der Kinder sagte ein Wort. Im Gegenteil, sie versicherten, dass alles zum Besten stehe und dass sie die freie Zeit schon zu nutzen wüssten. Lilly riss Oma Gertrude förmlich den Hörer aus der Hand, als diese schon auflegen wollte.

„Und wundert euch nicht, wenn wir nicht so viel zu Hause sind. Oma hat uns versprochen, viel mit uns zu unternehmen!“, sagte sie. „Wir können euch ja auch mal schreiben, das wäre doch lustiger! Also dann, bis bald!“ Noch ehe die erstaunten Eltern oder Oma Gertrude Einspruch erheben konnten, hatte sie das Gespräch beendet.

„Was guckt ihr denn so?“, fragte sie in die Runde, da alle Augen auf sie gerichtet waren. „Post spielen, ist doch mal was Neues!“

Die Familie war scheinbar an Lillys extravagante Ideen gewöhnt, denn sie nahmen ohne weitere Reaktion den Picknickkorb und machten sich auf den Weg.

„Vorbeugen ist besser als Heilen“, raunte Lilly Till zu, als sie an ihm vorüber zur Tür hinausging.

Es war ein schöner sonniger Mittag und sogar Oskar konnte nicht umhin, sich in der Natur und der Gesellschaft seiner Familie wohlzufühlen. Es war nicht zu vermeiden, dass das Gespräch auf die Zauberwesen kam und Oskar lachte sich halb kaputt über die, wie er es nannte, „abergläubische und kindische“ Einstellung der restlichen Familie.

„Hey!“, sagte er auf seine coole, aber sympathische Art. „Wir leben im 21. Jahrhundert und wenn Flora dran glaubt, dann ist es okay, aber ihr solltet langsam erwachsener denken!“

„Aber Oma Gertrude glaubt auch daran!“, sagte die Kleine und stupste ihren großen Bruder liebevoll in die Seite. „Und sie ist klüger als alle!“

Die beiden fingen eine ungleiche Rangelei an, bei der Flora natürlich einen „großen“ Sieg davontrug! Mit ihren knapp sechs Jahren war sie das Nesthäkchen in der Familie und besonders bei Oskar hatte sie immer leichtes Spiel, denn wenn man alle typischen Teenager-Allüren beiseite ließ, entdeckte man einen weichen Kern unter seiner harten Schale.

„Okay, okay!“, sagte er lachend. „Du hast mich besiegt, du kleines Scheusal, und ich verspreche dir feierlich, dass ich der beste Freund der Elfen und Feen werde, wenn ich je eine oder einen zu Gesicht kriege. Und nicht, dass du denkst, die aus dem Märchenbuch zählen mit!“

„Man sollte nicht leichtfertig solche Versprechungen machen!“, mahnte Oma Gertrude mit einem Lächeln, aber außer Till und Lilly sah niemand, dass ihre Augen dabei ernst blickten.

„Ja, ja! Aber auch, wenn ich nicht an diesen Feenkram glaube“, sagte Oskar und streckte sich behaglich im Gras aus, „hier ist der perfekte Platz zum Picknicken und ich frage mich, was sich wohl in diesem Korb befindet?“

„Ja, wir sollten wirklich essen, sonst werden die gebratenen Hähnchen noch kalt!“, sagte Oma Gertrude.

„Hähnchen! Ach Omi, du bist auf jeden Fall eine Fee und zwar unter den Küchenfeen die allerbeste!“

Pappteller wurden ausgeteilt, Servietten herumgereicht und schon hatte jeder sich etwas von den Leckereien aufgetan.

„Nachher schaue ich, ob ich wieder Haare von einer Fee finde“, sagte Flora, wobei sie sich genüsslich die Finger ableckte. „Wenn ich nur wüsste, wo die silberne Dose mit dem Elf ist? Ich war bei dir, Till, und ich habe sie nicht gefunden.“

„Weil ich sie, äh … Weil ich sie schon in mein neues Zimmer gestellt habe. Wenn wir nach Hause kommen, zeige ich dir, wo.“

Till blickte Lilly an und zuckte mit den Schultern, was so viel bedeutete wie „Irgendwann müssen wir es ihr sagen!“. Er erntete stilles Einverständnis. Die Kinder hatten viel Spaß, besonders, weil Oskar ein paar Frösche aus dem kleinen Weiher fing.

„Na, Prinzessin, wie wäre es, wenn du ihm einen Kuss gibst?“ Er hielt das zappelnde Fröschlein ganz nahe an Lillys Gesicht. „Vielleicht wird’s ja ein Prinz? Wer kann das bei all den Zaubergeschichten schon wissen?“

„Ja, wer weiß das schon? Du jedenfalls nicht! Und vielleicht ist mein Prinz näher als du denkst!“, antwortete Lilly etwas pikiert. „Du kennst dich ja offenbar nur mit Prinzessinnen aus! Mal ist es 'ne Rothaarige, mal 'ne Blonde. Je nachdem, welche Farbe dein Frosch hatte!“

„Na, dann muss ich wohl mal suchen, ob ich einen schwarzen für dich finde!“, lachte Oskar.

So verging der Nachmittag unter allerlei Späßen wie im Flug. Alles war bestens, bis auf eines: Sie hatten keinerlei Nachricht und nicht den kleinsten Hinweis auf Alrick am Feentanzplatz gefunden.

Zuhause, als es schon dunkel und längst Schlafenszeit war, erinnerte sich Flora an Tills Versprechen.

„Lieber Till, kann ich denn nun die Zuckerdose noch einmal von dir borgen? Morgen habe ich wieder eine Teeparty.“

„Na klar doch! Komm! Ich bring dich zu Bett!“

„Ich komme mit!“, rief Lilly und legte ihr Buch beiseite. „Wenn du willst, erzähle ich dir noch eine Geschichte!“

Oma Gertrude blickte verwundert von ihrem Strickstrumpf auf, sie sagte aber nichts, sondern freute sich über die Einmütigkeit der Kinder.

„Geht schon vor in Floras Zimmer! Ich hole die Dose!“

Till hatte sie hinter der Gardine auf dem Fensterbrett versteckt. Im Zimmer war es dunkel und da er kein Licht anzünden wollte, tastete er mit der Hand nach dem Gegenstand. Aber was war das? Etwas bewegte sich auf seinem Balkon. Nein, nicht etwas, sondern jemand! Till blieb erschrocken und lauschend stehen. Offensichtlich hatte ihn die andere Person noch nicht entdeckt. Wollte Oskar ihm vielleicht einen Streich spielen?

Nein, das schien ihm ausgeschlossen. Der war längst mit seinen Freunden zur Bandprobe gegangen. Vorsichtig schlich Till ein bisschen näher zur Tür. Sie war nur angelehnt und da, jetzt konnte er es ganz deutlich sehen. Jemand saß in seinem Schaukelstuhl und von diesem Jemand ging ein schimmerndes, fluoreszierendes Licht aus. Tills Herz machte einen Freudensprung.