VII.  

Arwarah

Nachdem die kleine Gruppe den weichen Sandstrand hinter sich gelassen hatte, führte ein Wiesenpfad zum nahe gelegenen Wald.

Während Alrick lustig mit Flora plauderte, bestaunten Lilly und Till die alten, erhabenen Bäume mit ihren dicken, bemoosten Stämmen.

„Die müssen viele hundert Jahre alt sein! Sieh nur, die vielen Furchen. Es sieht aus, als hätten sie Gesichter!“, sagte Lilly.

„Ja, ich bin schwer beeindruckt. Wie gut, dass hier niemand auf die Idee kommt, Papier daraus zu machen. Ob wir herumreichen, wenn wir uns bei den Händen fassen?“

Aber so sehr sie sich auch streckten, sie konnten nicht einmal die Fingerspitzen des anderen berühren.

„Hat Alrick uns nicht auch etwas von Dryaden erzählt?“, fragte Lilly.

„Ja, hat er. Das sind Baumgeister, und ich würde mich ehrlich nicht wundern, wenn uns gleich einer anspricht.“

„Hu! Nee, das ist mir zu gruselig! Aber sieh nur, die vielen verschiedenen Waldblumen und überall summt und wimmelt es von Insekten.“

„Ja, ich finde es wunderschön hier. Da, hast du den großen Schmetterling gesehen? Der war ja fast so groß wie eine Untertasse!“

„Daher wohl der Ausdruck ‚fliegende Untertassen‘, wie?“ Lilly kicherte und folgte dem Flug des bunten Falters mit den Augen. Über ihr wölbten sich die ausladenden Zweige der alten Bäume wie die kunstvolle Decke einer ehrwürdigen Kathedrale. Einem Mosaik gleich wurde das satte Grün der Blätter hin und wieder durch ein winziges Stückchen azurblauen Himmels durchbrochen und herrlich bunte Vögel flatterten tirilierend von Ast zu Ast.

„Es ist ein bisschen so, wie ich mir das Paradies vorstelle“, flüsterte sie ehrfurchtsvoll.

„Ja, ich weiß, was du meinst: das Paradies, bevor Gott Adam und Eva erschuf“, grinste Till.

„Ja! Oder Farzanah!“

Nach und nach ging ihnen der Gesprächsstoff aus und sie liefen schweigend nebeneinander her. Alrick hatte Flora auf die Schultern genommen, von denen aus sie leise singend das Zauberland betrachtete. Als ungefähr zwei Stunden vergangen waren, lud Alrick sie an einer kleinen Quelle zur Rast ein.

„Wie geht es euch?“, fragte Alrick, während er geschickt aus den großen Blättern eines Busches Becher formte und sie ihnen, mit kühlem Wasser gefüllt, reichte.

„Mir geht es prima!“, sagte Flora fröhlich. „Ich habe zwei weiße Kaninchen gesehen!“

„Ja, danke. Uns geht es auch gut. Wie weit ist es noch?“

„In einer Stunde müssten wir das erste Taurih-Dorf, von dem ich euch erzählt habe, erreichen. Ich weiß nicht genau, wie sie auf uns reagieren werden. Eigentlich hatte ich vor, sie um eine Unterkunft für die Nacht zu bitten.“

„Aber du hast gesagt, sie wären unfreundlich!“

„Ja, ich weiß. Wenn sie uns nicht aufnehmen, dann müssen wir im Wald nächtigen. Wäre das ein Problem für euch?“

„Nein! Nach dem langen Marsch würde ich bestimmt überall schlafen!“

Lilly gähnte und streckte ihre Glieder. Hungrig aßen die Kinder ihre mitgebrachten Brote und nachdem Flora sich auch noch an den zuckersüßen Beeren einer Brombeerhecke sattgegessen hatte, brachen sie gestärkt wieder auf. Der Pfad verengte sich und den Kindern fiel auf, dass er stellenweise von Schlingpflanzen überwuchert war. Der lustige Vogelgesang verstummte und auch das Gewimmel der Falter, Bienen und anderen Insekten hatte aufgehört. „Merkt ihr den Unterschied?“, fragte Alrick und blieb einen Augenblick stehen. „Wir nähern uns dem Dorf und eigentlich müssten die Wege hier freier, die Lichtungen gehegt und die Quellen gesäubert sein, aber nichts dergleichen ist geschehen. Bleibt dicht bei mir und sagt kein Wort.“

Alrick hatte sein Messer gezogen und bahnte ihnen damit einen Weg durch das Dickicht. Schweigsam folgten ihm die drei Kinder, nicht, ohne den ein oder anderen Kratzer davonzutragen. Plötzlich blieb der Elf stehen. Er schob ein paar Zweige beiseite und blickte auf eine Aue, die in der Mitte durch einen gurgelnden Bach getrennt war. Rechts und links des Wässerchens standen riesige alte Eichen, auf deren weit ausladenden, starken Ästen sich die wundersamsten Baumhäuser befanden, die die drei je gesehen hatten. Die Behausungen waren untereinander mit Hängebrücken verbunden, sodass die Bewohner nicht gezwungen waren, ihren Fuß auf die Erde zu setzen.

„Das ist das Dorf. Seht ihr die Behausungen? Sie sehen schäbig aus! Die Fensterläden hängen aus den Angeln, die Seilbrücken sind verwittert und, was noch schlimmer ist, der Bach ist voller Schmutz und Unrat! Das Dickicht wächst fast bis zu den Baumspitzen, die Wiesen sind versumpft und die Blumenfelder für die Bienen gar nicht erst angelegt.“

„Ja, du hast recht. Alles sieht ein bisschen verwahrlost und verlassen aus, obwohl ich es dennoch atemberaubend finde!“

„Gehen wir jetzt hinein? Werde ich jetzt richtige Elfen sehen?“, fragte Flora und klatschte freudig in die Hände. „Wie gern würde ich in eines der Häuschen sehen. Wie kommen die nur da hinauf?“

„Es sind Elfen, sie fliegen, du Dummerchen!“

Lilly grinste ihre kleine Schwester liebevoll an, aber dann gab auch sie zu, wie gern sie in eines der Häuser gehen würde.

„Also gut, dann versuchen wir jetzt unser Glück. Und denkt daran: Ich rede. Sie müssen nicht gleich wissen, wer wir sind und was wir wollen.“

„Können sie sehen, dass wir Menschen sind?“

„Ja! Hier, nehmt diese Stöcke wie Wanderstäbe. Ich habe sie unterwegs für euch geschnitten, weil ihr keine Waffen habt. Sie sind besser als nichts.“

Alrick durchtrennte die äußersten Zweige des Dickichts. Alle Sinne aufs Schärfste gespannt, setzten sie ihren Weg über die Aue fort. „Hoffentlich war das kein Fehler!“, dachte er bei sich und wäre seiner inneren Stimme folgend am liebsten umgekehrt. Er ließ die Behausungen der Taurih nicht aus den Augen und es dauerte gar nicht lange, da bemerkte er, dass hier und da ein neugieriges Gesicht hinter einer Tür oder einem Fenster hervorlugte. Man hatte sie gesehen.

„Adhaweé!“, rief Alrick schon von Weitem. „Ich bin Alrick Flötenspieler und das sind meine Freunde. Wir sind auf der Reise und suchen einen trockenen, sicheren Platz zum Schlafen!“

Hier und da ertönte ein Wispern, ein sicheres Zeichen, dass Alricks Worte verstanden worden waren, aber es erfolgte keine Einladung. Nicht einmal seinen Gruß hatten die Taurih erwidert.

Alrick ließ sich nicht beirren. Er wünschte sich ein wenig Annehmlichkeit für seine Freunde, die zum ersten Mal Gäste in Arwarah und ausgesprochen müde waren. Er ging auf die erstbeste Behausung zu und schwebte geradewegs nach oben.

„Adhaweé!“, wiederholte er seinen Gruß, diesmal einen Ton kälter. „Wo finde ich euren Ältesten? Mit wem kann ich über mein Anliegen sprechen?“

„Norweis ist unser Ratgeber, bis die anderen zurückkehren“, antwortete der Gefragte barsch. „Aber ich sage es dir gleich: Wir haben hier keinen Platz für Fremde. Wir müssen selber sehen, wie wir zurechtkommen. Es ist besser, ihr zieht weiter!“

„Danke, mein Freund!“, antwortete Alrick so, als hätte er die Unfreundlichkeit des anderen nicht bemerkt. „Und wo finde ich diesen Norweis?“

„Er wird dich finden!“, antwortete der Taurih-Elf und schlug Alrick die Tür vor der Nase zu.

In der Zwischenzeit bemerkten die Kinder eine Gruppe von Elfen, die sich vom hinteren Teil der Siedlung her näherte.

„Alrick, komm schnell herunter! Dort kommen neun oder zehn Männer und wie es scheint, sind sie alle bewaffnet!“, rief Lilly.

Sofort schwebte der Elf auf die Wiese herab, wo er sich zwischen die Ankömmlinge und seine Freunde stellte. Er hatte den Bogen wie zufällig von der Schulter genommen und hob energisch die Hand, um die Ankommenden zum Stehenbleiben aufzufordern. Alsdann legte er zur Begrüßung die Hand auf sein Herz und wiederholte sein Anliegen freundlich.

Während er sprach, nutzten die Kinder die Gelegenheit, die fremden Elfen neugierig zu mustern. Das Erste, das ihnen auffiel, war, dass den Männern der helle, magisch fluoreszierende Schein, der Alrick immer umgab, gänzlich fehlte. In der Tat ging etwas Bedrohliches von ihnen aus, etwas, das man nicht mit Worten erfassen konnte. Ihr Alter war schwer zu schätzen. Sie alle waren groß und schlank mit eigentlich anmutigen Gesichtern, die jetzt aber finster und unfreundlich aussahen. Ihr dunkles Haar war sehr lang und bei dem ein oder anderen sogar in Zöpfe geflochten. Sie trugen Gewänder aus feinem, grünem Linnen, deren Säume kunstvoll bestickt worden waren. Ihre Füße steckten in leichten Lederstiefeln, die mit Sicherheit keinen Abdruck im weichen Moos hinterließen. Aber das Beeindruckendste waren die eleganten, blanken Schwerter und Messer, die sie an ihren breiten Gürteln trugen.

„So begrüßt man doch keine Gäste!“, flüsterte Lilly Till zu, der fast unmerklich nickte. „Ich glaube nicht, dass man denen trauen kann!“

„Was führt dich zu dieser Stunde hierher, Alrick Flötenspieler? Und wieso bringst du diese Menschenkinder in unser Dorf? Wir wollen hier keine Menschen!“

„In erster Linie sind wir müde Reisende, die nach altem Elfenbrauch eure Gastfreundschaft erbitten!“, antwortete Alrick mit eisiger Stimme. „Gelten die uralten Sitten nicht mehr?“

„Ja und nein!“, kam die ebenso eisige Antwort. „Sag uns zuerst, wer sie sind und wozu du sie nach Arwarah gebracht hast.“

„Sie sind gute Freunde, die bei meiner Patin Tibana in die Geheimnisse der Kräuter und Heilpflanzen eingewiesen werden sollen“, sagte Alrick etwas freundlicher.

„Wann hat man je von so etwas gehört?“

„Wann hat man je gehört, dass es nicht erwünscht ist?“

Den Kindern war unterdessen nicht wohl in ihrer Haut, aber wie es aussah, hatten Alricks Worte Erfolg, denn die fremden Männer steckten die Köpfe zusammen.

„Nun gut“, sagte der Sprecher, den sie für Norweis hielten, schließlich, „ihr könnt für eine Nacht bleiben. Verköstigen müsst ihr euch jedoch selbst. Dies ist Ilea. Er wird euch den Weg zur Unterkunft zeigen.“

„Wir sind dir zu großem Dank verpflichtet!“, sagte Alrick und winkte den Kindern, ihm zu folgen.

„Ich weiß nicht, irgendwie gefällt es mir hier nicht“, flüsterte Till.

„Naja, sie sind nicht gerade die Ausgeburt der Freundlichkeit, aber ich bin so müde, dass mir alles andere gleichgültig ist. Hauptsache, ich kann in einem Bett schlafen“, antwortete ihm Lilly.

„Ja, aber …“

„Was meinst du? Ob die Lilly zu Hause heute Abend ausgeht oder ob sie brav das Haus hütet?“

„Ist egal! Hauptsache, sie macht überhaupt was!“

Ihr Weg führte an allen anderen Baumhäusern entlang bis ans äußerste Ende der Siedlung. Im Vorbeigehen hoben die Kinder die Köpfe und spähten zu den beeindruckenden, in schwindelerregender Höhe befindlichen Behausungen hinauf, auf deren breiten Terrassen einige Taurih standen und ihre Ankunft kalt und stumm beobachteten.

Inzwischen war die Nacht schon so weit vorgerückt, dass das Tageslicht gänzlich verschwunden war. Überall in den Häusern blitzten Lichter auf und auch die Elfen und Feen auf den Terrassen trugen merkwürdige Fackeln, die anstelle einer Flamme ein magisches Licht hervorbrachten.

„Sieh nur, was für Fackeln sie haben!“, flüsterte Flora aufgeregt. „Sie brennen nicht wirklich! Sie sind verzaubert!“

„Keine Ahnung, wie sie es machen oder was es ist, aber es sieht fantastisch aus. Wahrscheinlich benutzen sie dieses Licht, weil es keine Gefahr für die Baumhäuser ist“, vermutete Lilly.

Stolpernd vom Hinaufblicken und taumelnd vor Müdigkeit waren sie unterdessen bei einem riesigen Baum angekommen, dessen Äste bis über die Spitzen der nahen Tannen reichte, die dort am Waldrand wuchsen. Voll Vorfreude sahen die Kinder im Herzen der Baumkrone ein großes, ehemals sehr schönes Baumhaus, das überaus geschickt dort eingefügt war.

„Können die Menschen schweben?“, fragte Ilea.

„Nein!“

„Auch gut!“, war die brummige Antwort. Dann schwebte der Elf selbst hinauf und ließ polternd eine schwere Strickleiter zu ihnen hinab.

„Wollen wir hinauf schweben?“, fragte Alrick Flora, die mit vor Staunen offenem Mund nach oben schaute. „Dann sind wir die Ersten oben.“

„Au ja, das wäre prima!“, antwortete die Kleine und schlang sogleich die Arme um Alricks Schultern. „Was soll ich tun?“

„Mach einfach die Augen zu und konzentriere dich! Fertig?“

„Ja!“

„Mahyr wilhwaár dahyr ze darunee!“, flüsterte Alrick und schon schwebten sie der Behausung entgegen. Der Aufstieg war für keines der Kinder problematisch, lockte sie doch die Abenteuerlust und die Aussicht auf ein weiches Bett.

„Au Backe, ist das hoch!“ Till hatte sich weit über das Terrassengeländer gebeugt, um nach unten zu sehen. „Wenn mich nicht alles täuscht, dann sind das mindestens acht oder gar zehn Meter. Fast so hoch wie ein Haus.“

„Puh. Lehn' dich doch nicht so weit vor!“, sagte Lilly schaudernd. „Da bekommt man ja eine Gänsehaut!“

„Steht nicht rum und haltet Maulaffen feil!“, fauchte Ilea die Kinder an. „Ich hab’ schließlich noch was anderes zu tun. Links geht’s lang!“ Mit einem leisen, fremden Wort entzündete er eine der geheimnisvollen Fackeln und ging den erschrockenen Kindern voraus. „Hier könnt ihr bleiben! Es war lange keiner hier, aber für eine Nacht und für euch ist es gut genug. Wenn ihr Wasser wollt, dann müsst ihr euch welches an der Quelle holen. Sie ist gleich dort am Waldrand.“

„Das werde ich für euch tun!“, sagte Alrick, der den müden Kindern den schwierigen Abstieg ersparen wollte. „Richtet euch nur unterdessen ein!“

Er griff nach einem großen Krug, der zusammen mit einer Waschschüssel auf einer Holzkommode stand, und wollte sich eilig nach unten begeben, da sagte Ilea barsch: „Flötenspieler, dazu ist keine Zeit! Du sollst mit mir zu Norweis kommen. Er will dir Fragen stellen.“

„Wenn ich das Wasser geholt habe und wenn ich sehe, dass meine Freunde haben, was sie benötigen, dann komme ich mit dir“, antwortete Alrick bestimmt und schwebte ohne ein weiteres Wort zum Waldrand hinüber.

Vorsichtig blickten sich die Kinder im Licht der magischen Fackel um. Die Anwesenheit Ileas machte sie befangen, sodass sie ihre Stimmen senkten.

„Sieh nur, hier sind zwei Betten und hier im Nebenraum sind noch zwei!“ Lilly zog ihre Schwester an der Hand hinter sich her. „Alles ist ein bisschen staubig, aber das können wir nicht ändern.“ Sie ging zu einem der kleinen Fenster und stieß die verschlossenen Läden auf. „Hier muss nur etwas frische Luft rein, dann ist es gleich besser.“

Inzwischen war Alrick von der Quelle zurückgekehrt und stellte den gefüllten Krug auf den Tisch.

„Werdet ihr ein bisschen ohne mich auskommen? In meinem Rucksack ist noch ausreichend Nahrung. Nehmt euch, so viel ihr wollt und geht ruhig zu Bett. Vielleicht gelingt es mir, etwas über König Arindal zu erfahren“, flüsterte er den Kinder zu.

„Ja, klar kommen wir zurecht, aber du musst auf der Hut sein! Wir trauen ihnen nicht!“, antwortete Till ebenso leise.

„Das tue ich auch nicht! Denkt an morgen oder übermorgen, dann sind wir schon bei Tibana. Also sorgt euch nicht, ich bin bald zurück. Gute Nacht, Flora. Halt mir das Bett neben dir frei!“

Alrick folgte Ilea hinab und bald darauf sahen ihn die Kinder im Zwielicht des aufsteigenden Mondes an der Seite des Taurih über die Wiese schreiten. Voller Bangen blickten sie ihm nach, aber dann siegte die kindliche Neugierde über ihre Bedenken und sie begannen, sich im Licht der magischen Fackel umzusehen.

Die Architektur des Baumhauses war selbst für Kinderaugen beeindruckend. Alles war genau in die von der Natur vorgegebenen Ausmaße und Formen eingepasst, und das nur mithilfe von Nuten, Keilen und dicken Hanfstricken. Kein Nagel war in das Herz des Baumes getrieben worden.

„Die Taurih sind gute Zimmerleute“, sagte Till. „Schaut nur, wie genau sie gearbeitet haben. Ich wette, sie wären auch gute Schiffsbauer.“

„Naja, vielleicht gibt es hier sogar Ozeane. Wer weiß? Wir haben nicht gefragt. Das Boot, das uns herbrachte, war auch wunderschön!“

„Ja!“, rief Flora. „Und wie hübsch die Glockenblumen bei jeder Welle geläutet haben!“

Zuerst besichtigten sie die Schlafzimmer. Natürlich waren die Räume nicht quadratisch, sondern wurden nach außen hin größer, was ihrer Möblierung nicht viel Spielraum ließ. Rechts und links an den Wänden waren je zwei gezimmerte Betten aufgestellt, die mit buntem Bettzeug ausgestattet waren. Wie Lilly bereits festgestellt hatte, waren sie schon längere Zeit nicht benutzt worden, weshalb die Bezüge staubig und verblichen waren. Zu jedem Bett gehörte ein kleiner Nachtschrank und unter dem Fenster, das sich an der halbrunden Außenwand befand, stand die Kommode mit dem Wasserkrug. Auf den einst säuberlich gescheuerten Dielen hatten die früheren Bewohner kleine, bunte Flickenteppiche als Bettvorleger ausgebreitet.

Über die Außenveranda, die breit und einladend um das ganze Haus herumführte, erreichte man als Nächstes eine kleine, gemütliche Küche. Sie war zweckdienlich mit gezimmertem Mobiliar ausgestattet und erinnerte die Kinder an ein Gartenhäuschen. Auffällig war, dass es weder Herd noch Ofen gab, was die Vermutung aufkommen ließ, dass die Elfen sich lieber am offenen Lagerfeuer trafen, an dem sie in geselliger Runde ihre Mahlzeiten bereiteten und einnahmen.

„Ihr glaubt nicht, was ich noch entdeckt habe!“, rief Till plötzlich aus dem hintersten Winkel des Hauses. Dem Klang seiner Stimme war zu entnehmen, dass es etwas Lustiges war, denn er konnte sich das Lachen kaum verkneifen.

„Was denn? Spann uns doch nicht so auf die Folter!“

„Ich präsentiere: das höchste Plumpsklo, das ich je gesehen habe!“

Lilly und Flora blickten durch die offene Tür in den kleinen Raum hinein.

„Äußerst praktisch! Trotzdem, das höchste ist es nicht! Ich kenne ein höheres!“

„Ach komm! Wo soll das denn sein? Du willst nur nicht zugeben, dass ich recht habe!“

„Nein, wirklich! Es gehört zur Türmerwohnung von Sankt Johannes, unserer evangelischen Kirche in Saalfeld. Aber einerlei, gut zu wissen, dass man im Dunkeln nicht die Strickleiter hinunter muss!“

„Dort ist noch eine Tür! Wohin führt sie?“, rief Flora und rannte darauf zu. „Bestimmt ist dort das Wohnzimmer. Die Elfen müssen doch auch ein Wohnzimmer haben.“

Aber hinter der Tür befand sich lediglich so etwas wie eine Abstellkammer, in der die Elfen normalerweise ihre Vorräte und andere Dinge zum täglichen Gebrauch aufbewahrten.

„Das gibt’s doch nicht!“, sagte die Kleine enttäuscht. „Sie haben kein Wohnzimmer! Wo feiern sie denn Geburtstag oder Weihnachten?“

„Wir wissen nicht, ob die Feen und Elfen das überhaupt feiern, aber wenn, dann gehen sie in ihr grünes Wohnzimmer!“, antwortete Till diplomatisch. „Errätst du, was ich meine?“

„Ja!“, rief Flora und rieb sich müde die Augen. „Den Wald!“

„Richtig! Aber Neugierde hin oder her. Ich würde sagen, alles andere hat Zeit bis morgen. Dir fallen schon die Augen zu und ich kann nicht leugnen, dass es mir ebenso geht. Lasst uns schlafen gehen!“

Die Kinder nahmen die magische Fackel und kehrten ins Schlafzimmer zurück.

„Willst du wirklich mit Alrick zusammen schlafen?“, fragte Lilly, während sie der todmüden Schwester beim Ausziehen half. „Oder wollen wir ein Jungs- und ein Mädchenzimmer machen?“

„Bleib du bei mir! Du und Brumm. Aber du musst jetzt auch ins Bett kommen. Ich will nicht allein sein!“

„Ja, klar! Wohin sollte ich schon gehen, hier, mitten im Wald?“

„Gute Nacht, Lilly! Gute Nacht, Till!“ Die Kleine kuschelte sich fest an Brumm, der überaus zufrieden aussah und war schon im selben Augenblick eingeschlafen.

„Eigentlich war sie heute gar nicht nörgelig!“, dachte Lilly und deckte ihr Bett auf. „Hat sich tapfer gehalten. Ich hoffe nur, es geht so weiter!“

Sie zog ihren Schlafanzug aus dem Rucksack, entschied sich aber dann, lieber in Jeans und Pulli zu schlafen. Nein, sie traute dem Frieden der Taurih nicht. Besser, man wäre auf der Hut. Wenn Alrick nur schon wieder bei ihnen wäre. „Ich gehe und schau mal nach, ob er kommt!“, dachte Lilly und schlich auf Zehenspitzen in Tills Zimmer.

„Schläfst du schon?“, flüsterte sie in den halbdunklen Raum. Die magische Fackel hatten sie in die Halterung auf der Veranda gesteckt. „Till?“ Keine Antwort. Das Zimmer war leer. „Wo steckte der nun wieder? Auf dem Klo?“

Lilly ging nach draußen und zog die Jacke fester um die Schultern. War es die Müdigkeit oder die Nachtkälte, die sie so frösteln ließ? So spät war es doch noch gar nicht, wie ihr ein kurzer Blick auf ihre Armbanduhr verraten hatte. Erst kurz nach zehn.

Lillys Augen versuchten, die Dunkelheit zu durchdringen. Wald und Wiese lagen in friedlichem Schlummer. Der Himmel war hoch und voller Sterne. Irgendwo klagte ein Käuzchen und Fledermäuse gaukelten durch die klare Nacht. In der Ferne schimmerte das kalte Licht der magischen Fackeln durch das dichte Laub der Bäume, aber von den Baumhäusern oder den Taurih selbst war nichts zu sehen oder zu hören. „Was werden sie Alrick wohl fragen? Mir ist nicht wohl bei der ganzen Sache, aber was hilft’s. Ich kann nur warten.“

„Till!“, rief Lilly leise. „Wie lange brauchst du denn noch?“

„Gar nicht!“, kam die prompte Antwort, aber nicht wie erwartet von der Toilette, sondern aus dem hintersten Teil der Abstellkammer. „Ich denke, du schläfst!“

„Das dachte ich auch von dir! Was zum Kuckuck machst du denn hier?“

„Na, wenn du noch wach bist, dann hol mal die Fackel! Ich glaube, ich habe hier was entdeckt.“

Schnell kehrte Lilly mit dem Licht zurück und in seinem hellen Schein bemerkte sie eine Leiter, die sie vorhin wohl übersehen hatten.

„Wohin führt sie?“, fragte sie aufgeregt.

„Nach oben!“, grinste Till und duckte sich, um einem Stoß auszuweichen. „Das haben Leitern so an sich, dass sie entweder nach oben oder nach unten führen.“

„Tolle Weisheit! Vielen Dank!“ Lilly drückte Till die Fackel in die Hand und stieg hinauf.

„Die Luke geht nicht auf!“ Sie drückte und stieß mit aller Kraft, aber die Falltür gab nicht einen Zentimeter nach. „Hast du von unten gesehen, dass es hier eine obere Etage gibt?“

„Nein, aber wahrscheinlich kann man das auch gar nicht. Sie muss rein bautechnisch kleiner sein und bei den vielen Zweigen …“

„Leuchte mal näher, vielleicht gibt es ja ein Schloss!“

„Dazu muss ich aber mit auf die Leiter klettern. Erschrick nicht, wenn es wackelt!“

Till zwängte sich dicht hinter Lilly und hielt die Fackel so, dass das Licht die Falltür beleuchtete.

„Recht gehabt! Siehst du, hier ist ein Schloss und was für eines. Soll mit Sicherheit 100 Jahre lang halten! Das war’s dann!“

„Quatsch! So schnell geben wir nicht auf! Lass mich mal hoch.“

„Ach, du siehst natürlich mehr als ein Mädchen!“, knurrte Lilly, während sie den Platz mit Till tauschte.

Till war viel zu aufgeregt, um auf Lillys Bemerkung einzugehen. Vielmehr erinnerte er sich an einen netten Werftarbeiter namens Heinrich, der seine Freizeit mit Schatzsuchen verbracht hatte und ein richtiger Schlösserfreak gewesen war. Till war, sooft er konnte, mit den Männern aufs Meer hinausgefahren, und da hatte Heinrich ihm die unterschiedlichsten Tricks zum Öffnen alter Schlösser gezeigt. Vielleicht konnte er dieses Wissen jetzt anwenden. Till kletterte so hoch es nur ging und leuchtete mit der magischen Fackel die Oberfläche der Falltür ab. Das Schloss war enorm und aus festem Eisen geschmiedet, aber Till sah auf den ersten Blick, dass es ein ganz einfaches Bartschloss war. Er war fast ein bisschen enttäuscht, denn es würde sich mit jedem beliebigen Dietrich öffnen lassen.

„Na, das ist kein Hexenwerk, dieses Ding zu knacken. Alles, was wir brauchen, ist so etwas wie einen Dietrich oder einen Haken!“

„Und so was hast du natürlich im Rucksack!“, lachte Lilly spöttisch. „Nee, natürlich nicht!“ Tills Hochgefühl schwand wie Eis in der Sonne. „Aber vielleicht finden wir etwas, woraus wir einen machen können. Lass uns suchen. Oder hast du was Besseres vor, bis Alrick kommt?“

„Nicht wirklich, nein! Und schlafen kann ich auch nicht! Ehrlich gesagt, mache ich mir Sorgen um ihn.“

„Mir haben die Kerle auch nicht sonderlich gefallen, aber Alrick wird schon wissen, was er tut! Er wäre nicht mit ihnen gegangen, wenn er eine Gefahr gewittert hätte. Lass uns zuerst in der Küche suchen, ja? Vielleicht finden wir eine Gabel oder etwas, was sich verbiegen lässt.“

Die Kinder kehrten leise in die Küche zurück und begannen, die wenigen Schubladen und Fächer zu durchsuchen. Sie fanden eine ganze Reihe verschiedener Küchengerätschaften, aber keines davon war geeignet, zu einem Dietrich umfunktioniert zu werden.

„Mist! Von dem Zeug lässt sich ohne Zange nichts verbiegen. Das war völlig sinnlos. Wo jetzt?“

„Schlafzimmerkommode?“

„Erscheint mir ungeeignet, aber du kannst ja gleich mal nachsehen, ob Flora schläft. Ich versuch’s mal in der Rumpelkammer.“

„Okay! Dann nimm du aber das Licht. Es würde Flora nur aufwecken.“

Till durchwühlte alle Regale und Fächer der Rumpelkammer. In der Hoffnung, die Taurih würden wie die Menschen ihre Schlüssel darunter verstecken, hob er sogar den Abtreter vor der Tür an. Nichts!

In diesem Augenblick kehrte Lilly zurück. „Hast du ernsthaft geglaubt die Elfen sind so doof und legen den Schlüssel zu so einem Schloss unter ihren Fußabtreter?“, fragte sie grinsend.

„Naja, es gibt gutgläubige Menschen, warum soll es nicht auch solche Elfen geben!“ Er war froh, dass das Dämmerlicht der Fackel die Schamröte seines Gesichts verbarg. „Und du? Hast du was gefunden?“

„Und ob!“, rief Lilly mit verhaltener Stimme und hielt einen alten Eisenschlüssel in die Höhe. „Könnte der nicht passen? Er steckte in der Kommode, schloss aber nicht!“

„Das gibt’s doch nicht! Würde mich nicht wundern, wenn es sogar der richtige ist. Ist doch ein gutes Versteck!“

Eilig kletterten die beiden die Stiege hinauf. Till leuchtete, während Lilly den Schlüssel ins Schlüsselloch steckte.

„Und, passt er?“, fragte Till ungeduldig, weil er nicht sehen konnte, was Lilly machte.

„Ja, aber er lässt sich nicht umdrehen!“

„Warte, ich versuche mal, die Luke ein wenig anzuheben. Vielleicht drückt das Gewicht zu sehr auf das Schloss. Wer weiß, wie lange es schon niemand betätigt hat. Kannst du die Fackel halten und gleichzeitig schließen?“

„Ja!“

Während Lilly die Fackel fest unter ihren Arm klemmte, drückte Till so kräftig er konnte gegen die schwere Luke. Mit zusammengepressten Lippen drehte Lilly den Schlüssel, das Schloss knackte und die Luke sprang auf.

„Yippie!“, rief Lilly, drückte die Öffnung ganz auf, steckte Kopf und Fackel hindurch und schaute sich um.

„Und?“, fragte Till hinter ihr. „Was siehst du? Noch eine Rumpelkammer?“

„Das ist ja nicht zu fassen!“ Lilly kletterte nach oben und leuchtete Till den Weg. „Komm und sieh selber!“

Schnurstracks folgte Till ihrer Aufforderung und war nicht weniger erstaunt, als er sich umsah. Sie befanden sich im Arbeitszimmer eines Wissenschaftlers.

„Beim Klabautermann!“, flüsterte Till. „Ich will nur hoffen, sie erwischen uns nicht hier oben!“

„Ja, daran habe ich auch gerade gedacht. Sicherlich haben sie gute Gründe, dies hier verschlossen zu halten!“

„Aber wenn sie etwas zu verbergen haben, dann ist es doch besser für uns, es herauszufinden. Außerdem sehen wir uns nur um. Wir stehlen doch nichts.“

Fast gleichzeitig begannen Till und Lilly im Labor umherzugehen. Der Raum war bedeutend kleiner als der untere Teil des Baumhauses. Er war rund und in der Mitte konnte man die alte knorrige Rinde des Baumstammes sehen, der dem Pfeiler eines Gewölbes glich.

Es schien so, als hätte der Besitzer jeden Quadratzentimeter des Raumes ausgenutzt, denn es gab Regale, die vom Boden bis zur Decke reichten, mehrere kleine Schränke unter den vier Fenstern und einen riesigen Arbeitstisch rund um den Baumstamm herum.

„Sieh nur Till!“, rief Lilly aufgeregt. „Sie haben ein altes Teleskop!“

Hastig stieß sie die Fensterläden nach außen und brachte das kleine Fernrohr in Stellung.

„Und, was siehst du?“

„Nicht möglich!“ Lilly stellte die Schärfe nach und blickte noch einmal hindurch. „Aber dennoch ist es so!“

„Hallo! Was siehst du so Aufregendes?“, fragte Till und trat näher.

„Den Mond, unseren Mond, aber sieh selber!“

Till tat wie ihm geheißen wurde. „Sieht genau aus wie der Mond auf der Erde! Wahrscheinlich ist er es auch! Wir müssen Alrick danach fragen!“

„Ja, aber jetzt sollten wir lieber nicht so viel Zeit vertrödeln. Es ist schon bald Mitternacht!“

Während Till die Bücher, Fläschchen und Dosen in den Regalen betrachtete, begann Lilly, in einem Buch zu blättern, das offenbar die Aufzeichnungen des Gelehrten beinhaltete. Es war in feinstes Leder gebunden und erweckte den Anschein, uralt zu sein. Till und Lilly waren so vertieft, dass ihnen fast das Herz zerspringen wollte, als Flora plötzlich im Zimmer stand.

„Ihr seid so gemein!“, jammerte die Kleine. „Ihr habt versprochen, mich nicht allein zu lassen. Ich habe mich gefürchtet! Was ist das hier?“

„Na, so schlimm kann es ja nicht gewesen sein!“, lächelte Lilly ihre kleine Schwester an, die mit Brumm an der Hand da stand und sich neugierig umsah. „Es ist ein Arbeitszimmer. Mehr wissen wir auch nicht.“

„Kommt ihr dann mit nach unten? Ich will nicht allein bleiben!“ Flora tapste von einem Regal zum nächsten und blieb schließlich neben Till stehen. „Die haben aber viele Bücher! Und die vielen Gewürztöpfchen erst. Die würden Oma Gertrude aber gefallen!“

„Ja, das glaube ich auch!“, antwortete Till, der gerade eine Reihe seltsamer Messingwerkzeuge betrachtete.

Flora nahm eines nach dem anderen in die Hand. „Weißt du, wozu man das braucht?“

„Nein, leider habe ich nicht die geringste Ahnung!“

„Aber die hier ist hübsch! Sieh nur! Es ist eine kleine Pfeife!“

Flora war im Begriff, kräftig hineinzupusten, als Lilly hinzusprang und sie im letzten Moment daran hinderte.

„Keine gute Idee, Dummerchen! Du willst doch nicht, dass sie uns hören, oder?“

Hastig legte sie die Pfeife an ihren Platz zurück. „Ich denke, wir sollten lieber wieder nach unten gehen. Ich habe ein ungutes Gefühl! Vielleicht begleitet dieser Ilea Alrick, wenn er zurückkommt.“

„Okay! Wir haben gesehen, was es zu sehen gibt! Geht ihr voraus, ich schließe die Luke.“

Lilly stieg als Erste hinab und reichte Flora die Hand.

„Warte mal!“, rief die Kleine. „Ich habe Brumm liegenlassen!“

Eilig sauste sie davon und kehrte gleich darauf mit dem Teddy zurück.

„So was darfst du nicht machen!“, sagte Till leise, während er die Luke verschloss. „Wenn sie ihn gefunden hätten, hätte er ihnen verraten, dass wir heimlich hier oben waren!“

Gemeinsam kehrten die Kinder ins Schlafzimmer zurück und steckten den Schlüssel wieder an seinen Platz.

„Na los! Ab ins Bett mit dir!“, sagte Lilly und hob auffordernd die Bettdecke hoch.

„Ich bin gar nicht müde! Ich will, dass Alrick jetzt kommt!“

„Der kommt schon noch! Till und ich, wir sind jetzt müde!“

„Dann kommt Till aber mit in mein Bett!“

„Spinnst du? Der braucht auch seinen Platz zum Schlafen! Los jetzt!“

„Ach, ist schon gut. Ich leg mich dazu! Zumindest bis du eingeschlafen bist …“, sagte Till und gähnte herzhaft.

Es dauerte nicht lange, da schliefen alle drei tief und fest.

Till hatte einen wunderbaren Traum. Das Boot war fertig und er war mit seinem Vater auf hoher See. Sie hatten geangelt und friedvolle Stunden miteinander verbracht. Obwohl ein Sturm aufkam, fühlte er sich sicher und geborgen. Papa war ja bei ihm! Er hörte das Schlagen der Wellen am Bug und fühlte, wie das Schiff elegant über das Wasser glitt. Papa stand am Ruder und rief ihm etwas zu, aber er konnte nicht hören, was es war. Till lauschte angestrengt. Da, da war es wieder!

Verschlafen öffnete Till die Augen und wusste nicht, wo er war. Es war stockdunkel, nur von draußen schien ein schwacher Lichtstrahl herein. Wieder hörte er seinen Namen und da wurde ihm klar, dass er geträumt hatte. Flora saß im Bett und stupste ihn an.

„Till, Till! Wach auf! Das Haus fällt hinunter!“

Verschlafen setzte er sich auf die Bettkante und wirklich, auch er hatte das Gefühl, dass das Haus schwankte. Träumte er noch immer vom Meer? Auch das Rauschen war noch da und plötzlich wurde ihm klar, was es war. Ein kräftiger Nachtwind hatte sich erhoben und zerrte und zog an den starken Ästen des Baumes, sodass das ganze Haus hin und her schwankte.

„Wie spät ist es?“ Till schaute auf seine Uhr. „Herrgott, erst halb fünf! Wieso bist du denn schon wach?“

„Ich muss mal aufs Klo. Merkst du es?“

„Was, dass du mal musst?“ Till grinste die Kleine schelmisch an.

„Ach du! Nein, dass das Haus wackelt!“

„Ja! Du brauchst keine Angst zu haben, das macht nur der Wind! Hörst du ihn?“

„Ja!“, erleichtert nickte das Mädchen. „Alrick ist nicht da!“

„Was?! Immer noch nicht! Das ist nicht gut!“

Till fasste Flora bei der Hand und gemeinsam gingen sie zur Toilette.

„Till? Wollen wir nicht mal nachsehen, wo er bleibt?“, rief die Kleine von drinnen.

„Ich weiß nicht.“

„Mann, was macht ihr denn hier? Gemeinschaftspullern?“ Lilly war nun auch aufgewacht und stand neben Till vor der Klotür, als Flora herauskam.

„So ungefähr! Wir machen uns Sorgen, weil Alrick noch nicht zurück ist!

„Was? Ist er noch immer nicht da?“

„Da stimmt irgendwas nicht!“, sagte Till. „Vielleicht hat Flora recht und wir sollten mal nachsehen!“

„Na gut! Es kann nicht schaden. Jetzt bin ich sowieso wach. Flora, zieh dich an, ich komm gleich. Muss auch erst mal hier rein!“

Als Lilly ins Schlafzimmer kam, war Flora schon fertig angezogen und hatte sogar ihren Rucksack schon gepackt.

„Na, das glaub ich jetzt nicht! Du bist mir ja eine! Kannst alles allein, wenn du willst!“

„Wollt ihr was essen?“, fragte Till die beiden. „Ich kriege so früh noch nichts runter!“

„Nee, dazu ist keine Zeit! Wir sollten die Dunkelheit ausnutzen, solange sie noch andauert. Essen können wir später! Flora, du wartest hier mit Brumm und passt auf unsere Sachen auf, ja? Es könnte gef… Es ist nicht gut, wenn wir alle gehen.“

„Nein, ich bleib hier nicht allein!“, rief die Kleine erschrocken. „Till! Lass nicht zu, dass sie mich hier lässt!“

„Pst! Nicht so laut! Ist ja schon gut! Ich dachte nur, dass es sicherer ist!“, lenkte Lilly schnell ein. „Wenn du mitkommst, dann musst du uns versprechen, ganz leise zu sein. Vielleicht mögen es die Taurih nicht, wenn Fremde nachts durch ihr Dorf schleichen.“

„Ich versprech’s!“, flüsterte Flora ganz leise. „Und Brumm wird auch nichts sagen.“

„Brumm bekommt eine ganz wichtige Aufgabe“, sagte Till, während er die letzten Sachen zusammenpackte.

„Was denn?“

„Da du nun mitkommst, wird er auf unsere Sachen aufpassen. Wir verstecken sie unten im Gebüsch!“

„Wir nehmen alles gleich mit?“, fragte nun Lilly erstaunt. „Denkst du, wir müssen schnell abhauen?“

„Ich denke, wir sollten damit rechnen! Vorbeugen ist besser, sagt der Seemann bei hohem Wellengang!“

„Ha, ha!“

Lilly hatte verstanden und machte sich schnell daran, auch Alricks Habseligkeiten zu verstauen. Eilig brachten sie alles auf die Terrasse und schauten sich nach der Strickleiter um.

„Das glaub’ ich jetzt nicht!“, rief Lilly und stampfte wütend mit dem Fuß auf. „Wo ist die verdammte Strickleiter? Sie muss doch hier irgendwo sein. Ich habe doch gesehen, wie dieser Ilea sie hier festgemacht hat!“

Nervös leuchteten sie die Stelle ab, an der sie gestern heraufgekommen waren, aber so sehr sie auch suchten, die Strickleiter war nicht zu finden.

„Nun ist es bewiesen!“, sagte Till leise. „Sie sind uns alles andere als freundlich gesinnt und wer weiß, was sie mit A…“

„Sei still!“, zischte Lilly. „Denk lieber nach, wie wir hier runterkommen! Hast du irgendwo einen langen Strick gesehen?“

„Nein, so dumm werden sie ja wohl nicht sein.“

„Auch oben im Labor nicht?“

„Nein!“

„Und Bettlaken?“

„Nicht genügend!“

„Mist! Mist! Mist!“ Lilly lief aufgeregt hin und her. „Wir sitzen in der Falle! Ich höre noch wie dieser Ilea fragt: „Können die Menschen schweben? Mistkerl!“

„Aber das können wir doch!“ Flora zupfte ihre Schwester am Ärmel. „Lilly … das können wir doch!“

„Was meinst du?“

„Alrick hat doch noch was von dem Feenstaub im Ruck…!“

Noch ehe Flora den Satz zu Ende gesprochen hatte, waren Till und Lilly an Alricks Rucksack und zogen die kleine Flasche mit dem Feenstaub hervor.

„Aber wir kennen die Worte nicht“, meinte Till zweifelnd.

„Wir versuchen es trotzdem! Flora zuerst! Sie ist die leichteste von uns!“

Lilly öffnete die Flasche und schüttete ganz vorsichtig ein wenig von dem glitzernden Inhalt auf ihre Hand. Dann streute sie es über Floras Scheitel und flüsterte bestimmt: „Fliege! Schwebe!“, aber nichts geschah!

„Mist! Es geht nicht! Was nun? Wenn die Sonne aufgeht, dann können wir nicht mehr ungesehen handeln!“

„Abrakadabra!“, sagte Till und zuckte mit den Schultern, als Lilly ihn vorwurfsvoll anblickte. „Einen Versuch war’s wert, oder nicht?“

Lilly schüttelte ärgerlich den Kopf.

„Seht mal, was ich kann!“, rief plötzlich Flora von oben herab. „Es geht ganz einfach! Ich habe es so wie Alrick gemacht.“

Flora schwebte beängstigend nahe über dem Geländer. Till und Lilly verschlug es vor Schreck die Sprache. Dann rief Lilly entsetzt: „Flora, pass um Himmels willen auf!“

„Und dann sagst du uns, wie du das gemacht hast“, bat Till.

„Na, wie Alrick, als wir hier hochgeschwebt sind! Er hat gesagt, ich soll die Augen zumachen und dann „Mahyr wilhwaár dahyr ze darunee“ sagen!“

Im Nu hatten die beiden Großen die Rucksäcke aufgesetzt. Lilly nahm etwas Feenstaub und streute ihn auf Tills und ihr eigenes Haar. Sie schlossen die Augen, konzentrierten sich und wiederholten Floras Worte, worauf sie sogleich vom Boden abhoben. Etwas unsicher schwebten sie zu Flora, fassten sie bei der Hand und landeten wenige Augenblicke später auf dem weichen Waldboden.

„Das hast du gut gemacht, Flora! Nicht wahr, Lilly?“ Till drückte Floras Hand fest. „Und nun verstecken wir die Sachen. Alrick hat gesagt, dass wir morgen dem Bachlauf folgen wollen. Also schlage ich vor, dass wir die Rucksäcke dort verstecken, wo er in den Wald mündet.“

Es war nicht schwierig, einen geeigneten Platz zu finden. Da der Wald seit Langem nicht gehegt war, gab es jede Menge undurchdringliches Gestrüpp.

„Angenommen, wir haben es sehr eilig? Wie finden wir es wieder?“

„Gib mir mal den Schal von Teddy Brumm! Den binden wir jetzt hier an den Ast, siehst du? Das müsste gut zu erkennen sein, wenn man es weiß!“

„Erst der dicke Baum und dann das Gestrüpp. Ja, das ist leicht zu erkennen. Aber nun lasst uns gehen. Die Zeit bis zum Sonnenaufgang ist knapp!“

Hohes Waldgras und weiches Moos dämpften die eiligen Schritte der Kinder, als sie im Schutz der hohen Bäume die Lichtung entlang rannten. Die Baumhäuser über ihnen waren in Schweigen und Dunkelheit gehüllt. Alle im Dorf schienen zu schlafen, bis auf einen Wächter, der in der Nähe einer kleinen Felsformation auf dem Waldboden saß und ein kleines Feuer am Brennen hielt. Die Kinder verbargen sich hinter einem Baumstumpf und beobachteten den Mann, der nichts anderes tat, als von Zeit zu Zeit einen Ast in die Flammen zu werfen.

„Was meint ihr, was er bewacht? Das ganze Dorf oder Alrick?“, flüsterte Lilly leise.

„Beides! Zum einen sind die Taurih misstrauisch gegenüber Fremden, und zum anderen ist dort im Fels ein Tor. Das könnte so eine Art Felsenkeller sein – und der eignet sich ausgezeichnet, um jemanden darin einzusperren!“

„Ja, jetzt sehe ich es auch! Denkst du, dass sie Alrick darin gefangen halten?“

„Ich fürchte schon“, sagte Till.

„Wahrscheinlich hast du recht. Vermutlich gibt es kein besseres Gefängnis hier.“

„Und nun?“

„Ich weiß auch nicht. Im Film würden sie dem Mann eins überziehen und fertig!“ Lilly zuckte mit den Schultern. „Aber das kommt für uns nicht infrage! Ist viel zu unsicher. Wenn wir nicht richtig treffen, schlägt er Alarm und treffen wir zu gut, dann ist er womöglich tot!“

„Was für ein grässlicher Gedanke!“, antwortete Till mit Schaudern.

„Was wir brauchen, ist eine gute List, um ihn von dort wegzulocken!“

Till überlegte einen Moment. „Okay! Dann geh’ ich dort hinüber ins Unterholz und raschle mit den Zweigen. Wenn wir Glück haben, geht er nachsehen. In dieser Zeit müsst ihr Alricks Tür öffnen und ihn befreien. Ich versuche, den Kerl abzuhängen und laufe dann zum Treffpunkt bei den Rucksäcken!“

„Du lieber Himmel! Das ist ja nicht gerade das, was man einen ausgeklügelten Plan nennt!“, sagte Lilly zweifelnd. „Und was, wenn Alrick gar nicht drin ist?“

„Keine Ahnung! Dann haben wir wenigstens etwas unternommen. Hast du eine bessere Idee?“

„Ehrlich gesagt, nein!“

„Na los, dann versuchen wir’s! Er rechnet nicht damit, dass wir kommen. Das könnte unser Vorteil sein!“

„Sei vorsichtig, Till! Wir gewinnen nichts, wenn er uns auch noch fängt!“

Während Till im großen Bogen um das Lager schlich, blieben Lilly und Flora hinter dem Baumstamm hocken und ließen kein Auge von dem Elfen, dessen Kopf von Zeit zu Zeit müde auf die Brust fiel. Ungeduldig warteten sie auf ein Zeichen von Till, denn am östlichen Horizont war bereits ein winziger Streifen hellen Lichtes zu bemerken. Bald würde die Sonne aufgehen und die Siedlung zu Leben erwachen.

Endlich, nach einer gefühlten Ewigkeit, bemerkten die Kinder ein auffälliges Rascheln in den Zweigen am Waldrand. Till hatte sein Werk begonnen. Der Mann hatte das Rascheln offensichtlich bemerkt und lenkte seine Aufmerksamkeit in Tills Richtung, aber er war wohl zu müde, um aufzustehen. Till leistete ganze Arbeit und raschelte mal hier und mal da, aber erst, als er seine Aktivität hoch in die Wipfel der Bäume verlegte, wurde der Mann neugierig. Hatte er doch die ganze Zeit geglaubt, dass ein Tier dort sein Unwesen treibe, aber welches Tier konnte so hoch hinauf in die Baumspitzen klettern? Er machte Anstalten, aufzustehen und nachzusehen.

Lilly packte Floras Hand und drückte sie fest. Das sollte heißen: Pass auf, gleich laufen wir los! Der Mann nahm einen brennenden Scheit aus dem Feuer und begab sich zum Waldrand, wo das Rascheln bereits wieder an einer anderen Stelle zu hören war. Lilly und Flora verloren den Kerl aus den Augen, denn sie rannten nun ihrerseits in geduckter Haltung zum Felsverschlag, den sie Gott sei Dank offen vorfanden, und schlüpften hinein. Drinnen war es stockdunkel und muffig.

„Alrick?“, rief Flora leise. „Alrick, bist du hier?“

„Flora? Du meine Güte, wie kommt ihr denn hierher? Euch schickt der Himmel! Schnell, schnell, macht mich los!“

„Dazu müssten wir dich erst mal finden. Wo bist du denn?“

„Hier drüben, weiter links. Leise! Wo ist der Wächter?“

Lilly stolperte schließlich über Alricks Beine. Der Elf lag verschnürt wie ein Paket auf dem feuchten, eiskalten Fußboden.

„Till hat ihn abgelenkt. Der Taurih ist zum Waldrand gelaufen, um nachzusehen, was da so raschelt. Mist! Wie soll ich diesen Strick losbekommen?“

„In meinem Stiefel steckt ein kleines Messer! Ich hatte es vorsichtshalber da hineingesteckt, konnte es aber nicht hervorholen, weil die Taurih ganze Arbeit geleistet haben. Und Zauberei wirkt hier drin auch nicht – sie scheinen das Gefängnis magisch gesichert zu haben. Findest du das Messer?“

„Ja, halt still, damit ich dich nicht schneide. Ich sehe so gut wie nichts!“ Vorsichtig durchschnitt Lilly den Strick um Alricks Hände.

„Lilly, schau mal, der Mann kommt wieder, und er hat Till gefangen!“, rief Flora leise von der Tür her.

„Was?!“

Wie von der Tarantel gestochen, sauste Lilly zum Verschlag und spähte durch den Türspalt. Was sie sah, ließ ihr das Blut in den Adern gerinnen. Der Elf hatte Till gefangen und während er ihn zum Verschlag schleppte, hielt er ein Messer an seine Kehle. Die Kinder erkannten, dass es Ilea war, der Elf, der sie zum Haus begleitet hatte.

„Wenn wir Glück haben, bringt er ihn herein!“, flüsterte Alrick, der sich seiner restlichen Fesseln entledigt hatte und sich die schmerzenden Gliedmaßen rieb. „Lilly und Flora, ihr versteckt euch hinter diesem Vorsprung und lasst euch nicht blicken! Ich mach das schon!“

Noch bevor Lilly ein Wort sagen konnte, hatte sich Alrick in der Dunkelheit hinter der Tür versteckt.

„Mach dich nicht so steif, nichtsnutziger Mensch, du! Um Ilea auszutricksen, muss man mehr Verstand haben, klar? Wolltest wohl mutig sein, und deinen Freund suchen, diesen Verräter und Königsanhänger? Na, diese Freude kann ich dir machen. Sollst ihn gleich wiedersehen! Hörst du ihn jammern? Kann sein, dass du ihn ein wenig ramponiert vorfindest. Na, ist nicht meine Schuld, dass er nicht geredet hat. Mal sehen, wie lange er das durchhält. Sollte mich nicht wundern, wenn er auspackt, sobald wir dich ein wenig bearbeiten. Und zappele nicht so, sonst muss ich gleich anfangen, dir wehzutun!“

Lilly hörte, wie sich die beiden dem Verschlag näherten. Jetzt öffnete der Taurih die Tür und stieß Till so grob hinein, dass der Junge stolperte und hinfiel. Er wollte eine Warnung ausrufen, aber die Stimme versagte ihm, so sehr hatte das Messer auf seine Kehle gedrückt. Till sprang auf die Beine und ballte die Fäuste, um sich zur Wehr zu setzen, da schnellte Alrick aus der Dunkelheit und versetzte dem Wächter einen kräftigen Schlag.

Ilea, der nicht auf einen Angriff gefasst war, taumelte. Er hatte noch immer das Messer in der Hand und als er sich gefangen hatte, stieß er heftig zu. Lilly hörte das grässliche Geräusch von reißendem Stoff und Alrick, der vor Schmerz aufstöhnte, während er den Gegner endgültig zu Boden zwang. Wutentbrannt sprang sie aus dem Versteck, griff sich einen Dreschflegel, der dort an der Wand lehnte, und schwang ihn bedrohlich über Ileas Kopf, doch der Taurih war bereits besiegt.

„Schnell Flora, lauf und hole ein brennendes Scheit, damit wir besser sehen können! Wir müssen ihn gut fesseln und knebeln“, riet Alrick.

Flora sauste davon und kam unmittelbar darauf mit einem brennenden Stock zurück. Während Alrick dem Taurih geschickt die eigenen Fesseln anlegte, krähte draußen im Elfendorf der Hahn.

„Wir müssen hier weg. Die Sonne geht auf und sie werden das Fehlen des Wächters bemerken, wenn sie auf ihre Terrassen treten!“

„Aber dein Arm! Du blutest wie verrückt! Wir müssen dich verbinden.“

„Nicht jetzt. Erst wenn wir in Sicherheit sind! Wo sind unsere Sachen?“

„Die haben wir unweit vom Bach im Gebüsch versteckt!“

„Das war wirklich klug von euch! Los jetzt, ich gehe voran! Till, wir nehmen die Mädchen zwischen uns!“

Alrick hatte recht behalten. Das Licht ließ sich nicht mehr aufhalten. Der Tag brach an und mit dem ersten Hahnenschrei waren auch die ersten Laute aus der Baumsiedlung zu hören.

Die Kinder rannten so schnell sie konnten und nutzten jede Deckung, die das Terrain ihnen bot. Schon hörten sie, wie jemand nach Ilea rief und als sich der Wächter nicht meldete, schwebten gleich mehrere Elfenkrieger vom Baumhaus auf die Lichtung, um nach dem Vermissten zu suchen.

Unbemerkt erreichten die Flüchtlinge das Versteck und fanden ihre Rucksäcke unversehrt. Alrick griff nach Teddy Brumms Schal, der lustig im Morgenwind flatterte und ihnen die richtige Richtung gewiesen hatte. „Kann ich den haben?“, fragte er Flora und drückte die Hand auf die Wunde am Arm, um die starke Blutung zu stillen.

„Aber ja! Oma Gertrude kann mir einen neuen stricken, wenn wir zurück sind.“ Lilly sprang hilfreich hinzu und legte den provisorischen Verband an.

„Auweia, das sieht schlimm aus. Das tut bestimmt sehr weh!“, bedauerte Flora Alrick voller Mitgefühl. „Wenn ich beim Doktor lieb und tapfer bin, dann bekomme ich immer ein Geschenk.“

Während Till das Dorf beobachtete und Lilly den Verband befestigte, zog Flora die kleine Pfeife hervor, die sie im Labor so bewundert hatte. Mit einem scheuen Blick auf die Schwester reichte sie Alrick das Instrument und freute sich über dessen Erstaunen, das nicht größer hätte sein können. Lilly schimpfte mit ihrer Schwester, weil sie die Pfeife einfach mitgenommen hatte, aber Till unterbrach ihren Redeschwall. Er hatte gesehen, wie die Taurih-Krieger die Verfolgung aufnahmen und rief: „Lauft um euer Leben!“

Er schnappte die kleine „Diebin“ und warf sie sich kurzerhand über die Schulter. Es bedurfte keiner weiteren Aufforderung. So schnell sie nur konnten, stürzten sie davon.

Der Pfad war unwegsam und eng. Sie rutschten im feuchten Schlamm aus, stolperten über Wurzeln und fielen, standen auf und sprangen über umgestürzte Baumstämme, die ihre Flucht behinderten. Natürlich kam Till so beladen nicht gut voran und auch die anderen beiden waren schwach und wurden schnell müde. Endlich blieb Alrick schnaufend stehen und zeigte auf eine nahe gelegene Hügelspitze. Der Ärmel seines Gewandes war blutrot, ein Zeichen, dass der Schal keine gute Arbeit leistete.

„Wenn wir die Spitze erreichen, dann sind wir vielleicht gerettet“, schnaufte er mit schmerzlich verzogenem Gesicht. Die Verfolger, die einfach über den unwegsamen Waldboden schwebten, kamen unaufhaltsam näher.

Wut und Angst verdoppelte ihre Kräfte. Sollte ihre Mission schon hier enden? Nein! Niemals! Meter um Meter kämpften sie sich vorwärts. Endlich hatten sie den Hügel bezwungen. Die Bäume machten einer runden Lichtung Platz, auf der Till Flora vorsichtig niederließ. Alrick zog die goldene Pfeife hervor und begann, eine sanfte Melodie zu spielen. Die Augen der Kinder hingen erstaunt an seinem Gesicht, das von Schmerz und Müdigkeit gezeichnet war. Hatte das Leid seinen Verstand getrübt? Wie konnte er jetzt diese Flöte spielen?

Unterhalb der Lichtung hörten die Kinder das Herannahen der Verfolger und die Angst griff nach ihnen mit eiskalten Händen. Die Sonne leuchtete rot über den Baumwipfeln und tauchte alles ringsum in flackerndes Zwielicht. Inmitten ihrer Strahlen stand Alrick hoch aufgerichtet wie ein Krieger und entlockte dem goldenen Instrument unbeirrt Ton um Ton. Es schien, als wäre der Hügel der Mittelpunkt der Erde und alle anderen Gefilde bedeutungslos. Mit jedem Klang und mit jeder neuen Melodie löste sich ein silbergrauer Nebelflügel aus dem Nichts und tanzte wundersam über die Lichtung. Erst langsam und lautlos, dann schneller und wilder, mit lautem Schlagen, und schließlich manifestierten sich die Umrisse gewaltiger Vögel aus dem silbrig, nebelgrauen Reigen. „Es ist gelungen!“, rief Alrick voll Freude. „Das sind die Nebelkrähen König Arindals! Hurtig, hurtig, schwingt euch auf ihre Rücken. Sie werden uns vor den Feinden davontragen!“

Er schubste den zögernden Till auf den Rücken einer riesigen Krähe mit sanften, runden Vogelaugen und stieß die verdutzte Lilly auf eine andere. Mit Flora im unverletzten Arm schwang er sich behände auf den Rücken des Alphatieres und befahl den Vögeln gerade noch rechtzeitig, sich in den Himmel zu erheben. Die durchsichtigen Schwingen der Nebelkrähen streiften das Haar ihrer Verfolger, die wutentbrannt ihre Bögen anlegten. Sssit! Ein Pfeil sauste geradewegs neben Lilly ins Morgenrot, aber der Abstand zu ihren Feinden wurde mit jedem Flügelschlag größer.

Längst hatten sie den Hügel hinter sich gelassen und glitten fast lautlos über die Baumwipfel des dichten Waldes. König Arindals Nebelkrähen trugen die erstaunten Menschenkinder aus der Reichweite ihrer Verfolger.