VIII.  

Die Herrin der Quellen

„Juchhu!“, jauchzte Flora. „Lilly! Till! Ist das nicht toll?“

Flora saß sicher eingebettet zwischen Alricks Armen und kuschelte von Zeit zu Zeit ihr Gesicht in die samtig weichen Federn der Krähe.

Ganz anders ging es ihrer Schwester, die sich mit bleichem Gesicht am Federkleid ihres Reittieres festklammerte und es tunlichst vermied, nach unten zu blicken. Till hielt sich tapfer, wagte aber nicht den Kopf zu drehen oder sich zu bewegen.

Unter ihnen war nichts als dichter Wald, durch dessen dunkelgrünes Kleid die Natur von Zeit zu Zeit einen blauen Wasserfaden gezogen hatte.

„Fliegen wir zu Tibana?“, fragte Flora nach einer Weile.

„Ja, wir müssen nur dem Wasserlauf folgen. Es ist der, der durch ihre Quelle gespeist wird“, antwortete Alrick mühsam. Der Schmerz in seinem Arm war fast unerträglich geworden. Er fühlte, wie das Blut warm und klebrig an seiner Hand hinablief und das Gefieder der Krähe rot färbte.

„Hast du große Schmerzen?“, fragte die Kleine besorgt. „Wie lange fliegen wir noch?“

„Ich … ich weiß nicht genau. Nicht mehr lange … denke ich! Ich … ich reise auch zum ersten Mal auf diesem Weg zu Tibana.“

Instinktiv fühlte Flora, dass der Elf kurz davor war, das Bewusstsein zu verlieren. Sie wollte Lilly oder Till auf die gefährliche Situation aufmerksam machen, aber der Abstand zu ihnen war zu groß. Der Wind riss ihr die Worte von den Lippen und trug sie ungehört davon. „Wir müssen schneller sein!“, dachte sie und rückte ein Stück weiter nach vorn. Sie beugte sich nah über den Kopf der Krähe, dorthin wo sie die Ohren des Tieres vermutete und rief: „Fliege schneller, liebe Nebelkrähe. So schnell du nur kannst. Alrick kann sich nicht mehr lange auf deinem Rücken halten. Bitte, bitte!“

„Kraaah, kraaah!“ Der schlaue Vogel drehte den Kopf. War da nicht ein leichtes Flackern in seinen klugen, schwarzen Augen gewesen? Weit holten die Schwingen aus und noch schneller ging der Flug. Inzwischen hatte die Sonne den Morgennebel mit ihren Strahlen verjagt und die Sicht wurde klar und weit. Die Landschaft hatte sich verändert. Lilly legte die Hand über die Augen, um sie vor dem Wind zu schützen. Weit in der Ferne leuchteten die schneebedeckten Gipfel eines hohen Gebirges und da, ja, da weiter rechts auf den niedrigeren Ausläufern, konnte man deutlich die winzigen Umrisse einer Burg erkennen.

„Das müssen die Berge von Sinbughwar sein!“, flüsterte Lilly begeistert. „Und das, was von hier wie eine Spielzeugburg aussieht, ist die Festung des Elfenkönigs! Nun kann es nicht mehr weit sein“, dachte sie erleichtert.

Und sie hatte recht. Nach nicht mehr als ein paar Flügelschlägen entdeckten die Kinder eine kleine Felsformation, die so spitz und knorrig aus dem Wald hervorragte wie Huckeduûster Grindelwarz‘ Nase aus dem Gestrüpp seines Bartes. Zu den Füßen des Gesteins glänzte ein kleiner, silberner Weiher in der Mittagssonne. Das musste Tibanas Quelle sein. Die klugen Vögel flogen eine Schleife und näherten sich vorsichtig, so, als ob sie das Terrain zunächst auf seine Sicherheit prüften. Alles sah ruhig, friedlich und ein bisschen verlassen aus. Von einem Haus oder von Tibana selbst war weit und breit nichts zu sehen.

Mit lautem Krächzen landeten die Nebelkrähen auf der Wiese.

„Gott sei Dank!“, rief Lilly und rutschte ungeschickt vom Rücken ihres Vogels. „Fast möchte man den Boden küssen. Dennoch …“, fügte sie mit einem Seitenblick auf das große Tier hinzu, „ohne euch wären wir jetzt gefangen oder sogar Schlimmeres!“

„Kommt her! Kommt schnell her!“, hörten sie Flora kreischen. „Alrick kann sich nicht länger halten!“

Fast gleichzeitig sprangen Till und Lilly herbei, doch im selben Augenblick, als der Elf beinahe bewusstlos zu Boden glitt, erzitterte die Luft wie über heißem Asphalt und Tibana erschien. Die alte Fee schwang ihren Zauberstab und sofort wurde Alrick, wie von Geisterhand getragen, sanft auf das weiche Gras der Wiese gebettet.

„Seid willkommen und fürchtet euch nicht!“, sagte sie mit tiefer, wohlklingender Stimme und zog dabei mit dem Zauberstab einen unsichtbaren Kreis um die staunenden Kinder. Wieder zitterte die Luft und diesmal erinnerte sie an die schillernde Haut einer Seifenblase, die urplötzlich platzte und die Sicht auf ein kleines, Schilf gedecktes Häuschen freigab.

„In diesen Zeiten muss ich mein Haus durch einen Illusionszauber vor fremden Blicken schützen!“, erklärte sie freundlich. „Ihr seid nun im Schutzkreis und könnt euch frei bewegen. Ich muss mich zunächst um Alrick kümmern!“

Der Zauberstab zeichnete ein merkwürdiges Symbol in die Luft und schon wurde Alrick von unsichtbaren Kräften ins Haus getragen. Till, Lilly und Flora sahen einander unsicher an, dann aber folgten sie der Alten und traten ein.

„Ilea hat ihn mit dem Messer verletzt. Er ist ein böser Mann!“, rief Flora aufgeregt. „Wir haben die Wunde mit Teddy Brumms Schal verbunden, aber es hat nichts genutzt.“

Nun, nachdem sie sich in Sicherheit befanden und die Aufregung nachließ, konnte Flora die Tränen nicht länger zurückhalten. Schluchzend setzte sie sich auf Tills Schoß und beobachtete, wie die Fee Alricks Wunde säuberte und dann einen heilenden Kräuterverband anlegte. „Wird er wieder gesund?“, fragte sie ängstlich.

„Aber ja, mein Kind! Hab keine Angst! Alles, was er jetzt braucht, ist eine gute Suppe und Ruhe, aber ich glaube, das gilt für jeden von euch!“

„Oh, ja! Ich habe einen riesigen Hunger!“

„Nun dann, ans Werk, Gesellen!“, lachte sie und zeigte auf einen Korb, der daraufhin von selbst in den Gemüsegarten hinausschwebte.

Die sprachlosen Kinder folgten der alten Fee in den Garten und wurden dabei von einem großen Stück Schinken, einem Messer und dem kupfernen Wasserkessel überholt, der ganz von allein zur Quelle schwebte, sich bis zum Rand füllte, um sich dann an den eisernen Haken über die Feuerstelle zu hängen.

Till rieb sich die Augen. „Habt ihr das auch gesehen?“, fragte er und zuckte zurück, weil unmittelbar vor seinen Füßen zwei Feuersteine zusammenschlugen, bis die Funken das trockene Holz des Lagerfeuers entzündeten. „Ich glaube, ich träume!“

„Ja, zwick mich, damit ich aufwache!“, antwortete Lilly und wich geschickt einer Parade aus Karotten, Zwiebeln, Kohlrabi und Sellerie aus, die gefolgt von dem mit Kartoffeln gefüllten Körbchen aus dem Gemüsegarten herbei spaziert kamen.

Während die Kinder sich nicht zu rühren wagten, schnippelte das Messer in Windeseile alle Zutaten für die Suppe und jedes fertige Stückchen sprang von selbst in das sprudelnde Wasser hinein.

„Nun ist’s aber genug!“, sagte Tibana auf einmal streng. „Wir wollen unsere Gäste doch nicht ängstigen, oder?“ Lächelnd tippte sie mit dem Zauberstab in die Luft und sogleich erschien vor den staunenden Augen der Kinder eine Schar kleiner Kobolde, die sich vor Lachen auf die winzigen Schenkel schlugen.

„Ach, sind die süß!“, rief Flora und kniete sich sofort ins Gras, um sich einen der Wichte zu fangen.

Die bunte Schar stob kreischend auseinander, wurde abwechselnd sichtbar und unsichtbar und hatte offenkundig Spaß daran, das Mädchen zu necken.

„Das sind meine kleinen Helfer!“, sagte Tibana. „Heutzutage bin ich nicht mehr in der Lage, alle Dinge in Haus und Garten allein zu bewältigen.“

„Ach, wenn wir die mit nach Hause nehmen könnten!“, sinnierte Lilly. „Nie mehr Hausarbeit! Nie mehr Schulaufgaben!“

„Wir arbeiten nicht für andere!“, sagte einer der Kobolde mit feiner, hoher Stimme. „Und schon gar nicht für Menschen, die gesund und kräftig sind! Das hier ist unser Zuhause und wir tun das nur, weil ihr unsere Gäste seid!“

„Oh, entschuldige!“, sagte Lilly erschrocken. „Ich wollte dich nicht beleidigen! Wie ist denn dein Name?“

„Ich bin Tuck und das hier ist meine Frau Mirla. Das sind unsere Kinder Puck, Nelly, Tissy und Zack“, sagte der Kobold, nahm seine rote Zipfelmütze vom Kopf und machte eine formvollendete Verbeugung vor Lilly. „Freut uns, eure Bekanntschaft zu machen!“

„Wir heißen Flora, Till und Lilly. Die Freude ist ganz auf unserer Seite“, antwortete Lilly und ging lachend auf die vornehme Sprache des Koboldes ein.

„Wenn ihr wollt, dann schaut euch ein wenig um“, sagte Tibana. „Ihr habt noch Zeit, bis die Suppe gar ist. Zack wird euch rufen!“

„Gern!“, antworteten die Kinder und blinzelten in die helle Mittagssonne. Obwohl die Müdigkeit sie zu überwältigen drohte, waren sie neugierig darauf, die nähere Umgebung kennenzulernen, die in ihren staunenden Augen einem kleinen Paradies ähnelte. Welch herrlicher Friede ging von diesem Ort aus! Das Wasser der Quelle sammelte sich zu einem kleinen See, der so glasklar war, dass sich das Blau des Himmels darin widerspiegelte. Hier und da bildeten sich lustige Kringel, die verrieten, dass sich Leben unter seiner geheimnisvollen Oberfläche verbarg. Weiße, rote und gelbe Seerosen schmückten das Wasser und wetteiferten in Duft und Farbe mit den zahlreichen Schilfpflanzen und Blumen der angrenzenden Wiese. Bunte Insekten mit schimmernden, seidigen Flügeln gaukelten durch die Luft und erfüllten sie mit sanftem Summen.

Tibana hatte nahe der Hütte einen kleinen Gemüsegarten angelegt. Der Ertrag der fruchtbaren Erde reichte aus, um sie das ganze Jahr über zu ernähren. Außerdem gab es einige Hühner, eine Geiß mit zwei entzückenden Zicklein und ein Bienenhaus zu versorgen.

Nachdem sie sich beinahe alles betrachtet hatten, kam Zack, um sie zum Essen zu rufen. Die Kobolde hatten Alrick auf der Wiese ein Lager aus weichen Kissen und Fellen gebaut, auf dem der Elf bequem am Feuer sitzen konnte. Obwohl er blass und mitgenommen aussah, begrüßte er die Kinder mit einem freundlichen Lächeln. Die duftende Suppe war bereits in Schalen gefüllt und das Mahl konnte beginnen.

„Woher weißt du eigentlich so viel über uns?“, fragte Lilly, während sie genüsslich ihre Suppe schlürfte.

„Nun, zum einen hat Alrick mir von euch erzählt und zum anderen habe ich euch in der Quelle gesehen.“

„In der Quelle gesehen? Ist sie so etwas wie ein Fernseher?“, fragte Flora.

Tibana musste über diesen Vergleich herzlich schmunzeln. Obwohl sie in den letzten Jahren nicht in der Menschenwelt gewesen war, kannte sie diese Erfindung.

„Ihr müsst wissen, dass dies nicht irgendeine Quelle ist“, sagte sie. „Die Herrin aller Quellen lebt dort, und wenn sie uns gnädig gestimmt ist, dann wird die Wasseroberfläche zum Spiegel, in dem wir Bilder zu sehen vermögen.“

„Was denn für Bilder?“

„Das kommt darauf an! Dinge aus der Vergangenheit, der Gegenwart oder der Zukunft. Man kann es nicht bestimmen. Die Vision kommt und geht, wie die Herrin der Quellen es für richtig hält!“

Till hatte den Worten der alten Fee mit höchstem Interesse gelauscht. „Können wir Menschen das auch sehen?“, fragte er hoffnungsvoll, denn er war mit zahlreichen Geschichten über die Magie der Wassergeister groß geworden.

„Nur wenige Auserwählte haben diese Gabe! Leider! Das alte Wissen der Feen und Elfen schwindet mehr und mehr aus der Menschenwelt. Auch das ist eines von Farzanahs Zielen.“

„Und wirst du die Quelle bald wieder befragen?“ Tills Augen hingen an den Lippen der Alten.

„Die beste Zeit dafür ist der frühe Morgen, wenn sich die Nebel von der Wasseroberfläche heben und das Licht langsam erwacht. Ich werde morgen früh zur Quelle gehen und wenn du möchtest, dann komm doch mit!“

Die kleine Schar saß gemütlich beieinander und sprach über dieses und jenes. So vieles wollten die Kinder über das Feen- und Elfenreich wissen und so vieles gab es aus der Menschenwelt zu berichten.

Das Essen und die Gespräche hatten nicht nur Alricks Kraftreserven aufgebraucht, sondern auch die der Kinder. Zu wenig Schlaf und zu viel Aufregung forderten ihren Tribut und so kam es nicht unerwartet, dass eines nach dem anderen auf der Wiese einschlummerte. Weder das lustige Froschkonzert am See noch der Hunger weckten die Kinder am Abend. Sie schliefen tief und fest bis in die Nacht hinein, sodass Tibana sie mithilfe des Zauberstabes auf weiche Felle betten und zudecken musste.

Die alte Fee saß still bei ihnen im Lehnstuhl und paffte ihr Pfeifchen, aber so friedlich der Anblick auch war, sorgenvolle Gedanken quälten sie, wenn sie an die Zukunft dachte. Doch letztendlich waren die Nachtgeister auch ihr gnädig und bedeckten die Sorgen mit einem süßen Traum. Tibana hatte gerade noch Zeit, ihr Pfeifchen beiseite zu legen, da war auch sie eingeschlafen.

Das Käuzchen hatte dreimal gerufen, da wusste Tibana, dass der Morgen kam. Die alte Fee reckte und streckte ihre steifen Glieder und ging zur Morgentoilette an die Quelle. Heute würde sie die Herrin der Quellen um Rat fragen, da musste sie sauber und frisch gekleidet sein. Was für ein Glück, dass die Kobolde ihr so treu zur Seite standen, dachte sie und zog ein frisch duftendes Gewand über. Leise trat sie an Tills Schlafstelle. Fast tat es ihr leid, den Jungen zu wecken, aber sie wusste, wie enttäuscht er sein würde, wenn sie ihr Versprechen nicht hielt.

„Till, mein Junge!“, flüsterte sie und streichelte seinen Arm. „Wach auf! Wir wollen die Quelle befragen!“

Sofort war Till hellwach. Der Gedanke an die Herrin der Quellen hatte ihn selbst im Traum nicht losgelassen. „Ich komme!“, flüsterte er leise.

„Es ist Brauch, dass man sich wäscht und sauber kleidet, bevor man der Herrin gegenübertritt. Im Zuber ist warmes Seifenwasser und hier sind ein paar Sachen von Alrick. Wenn du sie einmal umschlägst, müssten sie dir passen.“

Die frische, kühle Morgenluft erinnerte Till schmerzlich an die Brise, die früher stets von der See auf ihre Terrasse geweht hatte. Wie lange war er jetzt schon von zuhause fort? Nur ein paar Wochen, aber ihm schienen es Monate zu sein und mit Freude und Erstaunen fühlte er, dass der Schmerz ein ganz kleines bisschen weniger scharf in sein Herz hineinschnitt.

Der Zuber war groß genug, dass er ganz hineinsteigen konnte. Was für ein gutes Gefühl! Till tauchte sogar seinen strubbligen Kopf unter. Die Herrin der Quellen sollte nichts an ihm auszusetzen haben.

Dann trat er zu Tibana hinaus, und nachdem sie ihm eine magische Fackel gereicht hatte, gingen sie gemeinsam zum Ufer des kleinen Sees hinunter.

„Woraus sind nur diese Fackeln gemacht?“, fragte Till, um keine peinliche Stille aufkommen zu lassen. „Oder ist das irgendein Zauber?“

„Ja und nein!“, antwortete Tibana. „Sie sind aus Silbermoos gefertigt. Sage nur das Wort ‚lumineé‘, dann leuchten sie, und wenn du ‚inlumineé‘, sagst, dann erlöschen sie wieder.

„Silbermoos?“

„Ja. Ein schöner Name, nicht? Das Moos heißt so, weil es das Mondlicht in sich einschließen kann. Gleich sind wir da!“

Die beiden waren ein kleines Stück um den See herumgelaufen, bis Till im Halbdunkel einen großen Stein am Ufer entdeckte. Als sie näher kamen, sah er, dass der Stein eine ganz glatte, glänzende Oberfläche hatte, in die feine Elfen- und Feensymbole eingraviert waren. Eine wunderbare Arbeit, die viele, viele Stunden gedauert haben musste.

„Das ist der Altar, hier führe ich alle meine Rituale und Meditationen durch. Siehst du, dies ist das Symbol für Wasser und da“, Tibana zeigte mit dem Finger auf verschiedene Stellen im Stein, „wie wunderschön die kleinen Fische, die Muscheln und die anderen Meerestiere gearbeitet sind! Der Stein ist so alt wie die Welt selbst und er ist der Herrin der Quellen geweiht.“

Tibana öffnete einen Korb und stellte vier dicke Bienenwachskerzen auf den Stein. „Die Herrin der Quellen liebt schöne Dinge und den Duft der Kerzen. Hier, nimm diese Kristalle und ordne sie dekorativ an, damit sich das Licht darin bricht. Dann noch die Blumenblätter. Sehr schön! Das wird sie freuen.“

Die weise alte Fee blickte voller Zuneigung auf Till, der sich die größte Mühe gab, alles zu tun, wie es ihr gefiel.

„So, nun legen wir noch diese Holzspäne mit den aufgeklebten Kerzen bereit … und diese Schale mit Blumen. Wenn wir mit dem Ritual beginnen, werden wir sie auf den See hinaustreiben lassen. … Aber, Till! Da wäre noch etwas, worauf ich dich vorbereiten muss!“

„Was denn, Frau Tibana?“

„Wenn die Herrin uns eine Vision gewährt, dann wissen wir nicht, was es sein wird! Es … es könnten auch Bilder aus deiner Vergangenheit auftauchen! Wer kann das wissen?“

„Oh!“, sagte Till mit belegter Stimme.

„Wirst du stark genug sein, sie zu ertragen?“ Tief drangen die Augen der weisen Frau in Tills Seele ein. „Ich will nicht, dass du dich erschreckst oder dir weh getan wird!“

„Es wird schon gehen! Vielleicht kann ich sehen, was aus mir wird und vor allem müssen wir doch König Arindal befreien!“

„Tapferer Junge! So ist es richtig. Man muss sich seinen Ängsten stellen, nur so kann man sie besiegen!“

„Ich werd’s versuchen!“

„Gut so! Nun zünde ich die Kerzen an und dann machst du alles so, wie ich es tue.“

„Lumineé!“, sagte Tibana und schon zuckte eine kleine Flamme am Docht der ersten Kerze empor. Till nahm sie und zündete nacheinander auch die anderen an. Der Altar strahlte in glanzvollem Licht und als Till die kleinen Schwimmkerzen auf den See hinaustreiben sah, war ihm auf einmal ganz feierlich zumute.

Tibana warf eine Handvoll Blumen in den See und forderte Till auf, das Gleiche zu tun. Dann verneigte sie sich gegen die Wasseroberfläche, wobei sie die Arme über ihrer Brust gekreuzt hielt.

„Herrin der Quellen, wir sind gekommen, weil wir deines Rates bedürfen“, sagte die Fee mit würdevoller Stimme.

Rings umher herrschte feierliche Stille. Nichts war zu hören als das sanfte Plätschern der Wellen am Uferstreifen. Erneut warfen beide eine ein paar Hände voll Blumen ins Wasser. „Wie du weißt, Herrin, ist das Volk von Arwarah und König Arindal in großer Bedrängnis, aber wir sind gewillt, dieser Gefahr mit deiner Hilfe zu trotzen! Gewähre uns einen Blick auf die Lösung, die uns und unsere Welt glücklich aus der Drangsal führen wird, auf dass Friede und Eintracht wieder ins Feen- und Elfenreich einziehen können!“

Im Osten zeigte sich der erste, schmale Lichtstreif am Horizont und warf seine Strahlen auf die Wasseroberfläche, sodass sie abwechselnd silbern, schwarz, golden oder rot glänzte.

Till war von dem Farbenspiel so fasziniert, dass er an ein Trugbild glaubte, als ihn plötzlich ein wunderschönes, freundliches Gesicht aus dem Wasser heraus anblickte.

„Seid gegrüßt, Herrin!“, hörte er Tibanas Worte und sah, wie sie sich wiederum verneigte. „Und Dank sei dir im Voraus gesagt, dass du unseren Ruf erhörst!“

Jetzt hatte sich die Wasseroberfläche geglättet, sodass sie einem großen Spiegel glich und Till jedes noch so kleine Detail erkennen konnte. Vor Staunen sperrte er Mund und Augen auf, unfähig, auch nur einen Satz zu sagen. „Ich danke für den freundlichen Gruß Tibana, meine treue Dienerin! Und du, Junge! Wie ist dein Name? Es sind viele, viele Sommer vergangen, seit ich zuletzt ein Menschenkind mit der Gabe zu Sehen erblickte!“, sagte die Herrin der Quellen mit tiefer, weicher Stimme. Noch während sie sprach, erzitterte das Bild und tausende regenbogenfarbene Wassertropfen tanzten plötzlich durch die Luft, formierten sich neu, bis die Herrin der Quellen leibhaftig über dem See schwebte. Tills Herz schlug heftig vor Aufregung. War das wirklich möglich oder träumte er noch? Um sicherzugehen, kniff er sich kräftig in den Arm. Kein Zweifel, er war wach und vor seinen Augen hatte er das wundersamste und makelloseste Wesen, das er je zuvor gesehen hatte! Welche Worte könnte man finden, um diese Schönheit zu beschreiben?

Das zarte Oval ihres Gesichtes war umrahmt von üppigem, langem Haar, das in großen Locken bis zur Hüfte reichte, und in dem sich alle Farben des Wassers widerspiegelten. Überhaupt schien alles an ihr fein und durchsichtig wie klares, blau-silbernes Wasser zu sein. Als Zeichen ihrer Königlichkeit trug sie ein Diadem aus Korallen, Muscheln und Bernsteinen auf dem Kopf und auch die Finger und Handgelenke waren reichlich geschmückt. Ihre großen, grünen Augen blickten Till freundlich fragend an.

„Mein … mein Name ist Till“, stotterte er. „Ich … ich bin nur ein Junge.“

„Nicht einfach nur ein Junge! Ich sehe eine Seele, die durch großen Schmerz gehärtet wurde, wie ein Diamant, und die rein wie klares Wasser ist!“

Die wunderbare Erscheinung löste sich auf, und schon wollte Till den Verlust ihres Anblicks bedauern, als ein neues Bild auf der Wasseroberfläche erschien.

„Das ist …, das gibt’s doch nicht!“, stammelte er, „Papa, Mama und ich beim Strandspaziergang und da, letzte Weihnachten, als Papa mir das Boot schenkte, das wir ausbauen wollten.“ Dann erschien sein altes Zimmer vor ihm und die Eltern, die sich vor der verhängnisvollen Fahrt von ihm verabschiedeten. „Nein! Nein!“, rief Till so laut, als könnte er das unabänderliche Ende verhindern. Tränen stiegen in seine Augen, als ein neues Bild erschien. Er saß wohlgemut in Oma Gertrudes Garten, die Sonne schien und der Himmel war weit. An den Bäumen prangten rote Winteräpfel und die Astern auf den Rabatten übertrafen einander an Farbenpracht. Da kamen auf einmal seine Eltern daher. Sie hielten einander bei der Hand und sahen so glücklich aus, dass Till ganz warm ums Herz wurde. „Till!“, sagte die Mutter. „Wir freuen uns, dass es dir hier so gut geht!“

„Und wir sind stolz darauf, wie mutig ihr Alrick gerettet habt!“, fügte Tills Vater hinzu. „Mach dir keine Sorgen um uns, wir sind an diesem wunderbaren Ort, den die Menschen Paradies nennen, glücklich und in Sicherheit. Zeit spielt hier keine Rolle. Lebe ein glückliches Leben, mein Sohn. Wir warten hier auf dich!“

Till streckte den Arm aus, um seine Eltern zu berühren, aber das Bild verschwand. Stattdessen blickte er nun in einen dunklen, bedrückenden Raum, der nichts anderes als ein Verlies sein konnte. Er hatte nur ein einziges, vergittertes Fenster unterhalb der hohen Decke, durch das weder genügend Licht noch Luft hineindringen konnte. Feuchtigkeit und Schimmel hatten landkartenähnliche Gebilde auf die Wände gemalt, sodass Till sich einbildete, Moder und Fäulnis dieses unglückseligen Ortes zu riechen. Im Halbdunkel der Zelle kauerte ein Mann bewegungslos auf einem Lager aus schmutzigem Stroh.

„Es ist König Arindal!“, hörte Till Tibana fassungslos flüstern. „Alle Mächte stehen ihm bei!“

Im selben Augenblick öffnete sich die Kerkertür und ein Lichtstrahl fiel auf den Mann, der sich, obwohl mit Händen und Füßen an die Wand gekettet, sogleich mühevoll erhob. Das Gesicht des Elfenkönigs war von Blässe und Müdigkeit gezeichnet, aber das Schlimmste war, dass Till an seiner schmutzigen und zerrissenen Kleidung Flecken getrockneten Blutes bemerkte, die auf zahlreiche Verletzungen hindeuteten. Ein Zeichen, dass er sich seinen Feinden mutig widersetzt hatte. Um seine Schwäche zu verbergen, lehnte er sich scheinbar lässig mit dem Rücken an die Wand. Dabei blickte er den Eintretenden so gelassen und kühn wie möglich entgegen.

Ein buckliger Gnom betrat den Raum als Erster und leuchtete dem Gefangenen unmittelbar ins Gesicht. „Er-er-heeebe d … d … dich, dich!“, stotterte er und wurde seiner Dummheit wegen von der Person hinter ihm mit einem Peitschenhieb bestraft.

„Nichtsnutziges, dummes Vieh!“, schalt eine scharfe Frauenstimme. „Leuchte einfach und halte dein Maul!“

Der Gnom trat ungeschickt beiseite, sodass man jetzt die Frau sehen konnte, die ihnen augenblicklich den Rücken zukehrte. Sie war in einen langen, dunkelvioletten Mantel gehüllt, dessen Kapuze sie über den Kopf gezogen hatte und obwohl Till sie nie zuvor gesehen hatte, wusste er sofort, dass es Farzanah war.

„Mein Freund!“, sagte sie mit falscher Liebenswürdigkeit. „Auch heute bin ich gekommen, um zu sehen, dass es dir hoffentlich an allem fehlt!“ Dabei blickte sie sich scheinbar überrascht im Kerker um. „Und wie mir scheint, machst du gute Rückschritte! Ha, ha, ha! … Genau wie dein verfluchtes Lichtelfenvolk! Das dunkle Heer hingegen wächst mit jeder Stunde! Mein Zauber breitet sich unaufhaltsam aus! Täglich kommen neue Untertanen aus allen Himmelsrichtungen des Reiches, um mir den Treueeid zu leisten.“

„Du lügst!“, sagte der Elfenkönig mit leiser, fester Stimme. „Die Lichtelfen werden nicht unterliegen! Das uralte Gesetz von Ehrlichkeit, Treue und Recht ist auf unserer Seite.“

„Recht!“, schrie Farzanah und schlug hart mit der Gerte zu. „Recht ist nicht Macht! Macht schafft ihre eigenen Gesetze, die des Stärkeren, und allein der entscheidet, was geschieht!“ Angriffslustig wie ein Raubtier belauerte sie den König. „Wähle mit Bedacht! Wenn du bereit bist, an meiner Seite zu stehen, biete ich dir die Hälfte des dunklen Throns im gesamten Elfenreich! Und wenn meine Armee durch die Feentore gezogen ist, dann wird sich unsere Macht auch auf die Menschenwelt erstrecken!“

„Du willst die Menschen unterwerfen!? Das wird dir niemals gelingen!“

„Etwas mehr Vertrauen in meine Fähigkeiten wäre angebracht!“, fauchte Farzanah und schlug ein weiteres Mal hart zu. „Diese nichtsnutzige Brut ist untereinander so uneins, dass es ein Leichtes sein wird, sie zu unterwerfen. Ihr hohes Potenzial an schlechten Eigenschaften wird mich dabei bestens unterstützen. Jeder weiß, dass sie neidisch, streitsüchtig und voller Habgier sind. Ich werde ihre Träume vergiften und ihre Gedanken verwirren!“

Farzanah lachte höhnisch und kostete den Eindruck, den ihre Worte auf den Elfenkönig hatten, boshaft aus. „Außerdem“, fuhr sie mit scheinbar aufrichtiger Stimme fort, „gibt es einen weiteren Vorteil, den du nicht unbeachtet lassen solltest: Wenn du zu mir stehst, werden auch die restlichen Lichtelfenritter die Waffen strecken. Eine blutige Schlacht wäre dann überflüssig! Bedenke nur, wie viele Leben du retten könntest!“

König Arindal horchte auf. Ein paar seiner treuen Gefolgsleute waren also am Leben und frei! Solange sie unbesiegt waren, gab es Zuversicht! Sowohl für das Volk als auch für ihn. Wütend bemerkte Farzanah den Hoffnungsschimmer im Gesicht des Elfenkönigs und begriff sogleich, dass sie einen Fehler gemacht hatte. Rasende Wut bemächtigte sich ihrer. Wie überaus dumm von ihr! Anstatt seine Kraft zu brechen, hatte sie sie genährt!

„Hoffe nicht auf sie! Dieses kleine Häufchen Unseliger!“, zischte sie mit sich überschlagender Stimme. „Sobald sich der himmlische Jäger mit seinem Schwert über den Bergen von Sinbughwar zeigt, ist mein Zauber unumwandelbar! Dann ist die Zeit für die entscheidende Schlacht gekommen und für jene, die sich mir bis dahin nicht unterworfen haben, wird es keine Gnade geben. Noch hast du Zeit, deinen Sinn zu wandeln!“

„Lieber sterbe ich!“, sagte der König mit so viel Verachtung, dass Farzanah einen Schritt zurückwich. Selbst hier, im tiefsten Kerker, gedemütigt, verletzt und ausgeliefert, wagte er ihr zu trotzen!

„Nun, das lässt sich einrichten!“ Farzanah strich die Kapuze vom Kopf, sodass Till geradewegs in das schöne, aber von Niedertracht und Hartherzigkeit gezeichnete Gesicht der dunklen Fee blickte. Er sah, wie ihre grünen Augen vor Zorn und Begierde funkelten und wusste nicht, ob er sie abstoßend oder schön fand. Sie war jung und anmutig, hatte langes, schwarzes Haar, das mit Diamantennadeln zu einer kunstvollen Frisur gesteckt war. Ihre schmalen Brauen, ebenso dunkel und diabolisch geschwungen, die Nase zierlich, aber markant und die schön geformten Lippen, jetzt fest aufeinander gepresst. Dann, völlig unerwartet, änderte sich ihre Mimik. Sie trat lächelnd ganz nah an Arindal heran. Ihre beringten Finger strichen liebkosend durch sein langes Haar und plötzlich hauchte sie ihm einen Kuss auf die Lippen.

„Dennoch fände ich es auf ewig schade, soviel Kraft und Schönheit zu vergeuden!“ flüsterte sie.

„Das Einzige, das du vergeudest, ist deine Zeit!“, antwortete Arindal mutig, worauf er prompt mit einem heftigen Schlag ins Gesicht gezüchtigt wurde.

„Nun denn!“, fauchte Farzanah jetzt wieder mit eiskalter Stimme. „Ich muss mich im Augenblick nützlicheren Dingen widmen. Auf dich kann ich noch ein wenig warten, und falls dir die Zeit lang wird, kann ich dir den Gnom zur Unterhaltung schicken. Er ist dumm und gefühllos. Ihm fallen bestimmt ein paar besondere Spielchen für dich ein. Fürs Erste werden wir Wasser und Brot weiter rationieren“, sagte sie beim Verlassen des Kerkers. „Vielleicht kann der Hunger deinen Willen brechen!“

Das Bild begann zu flackern und wurde von einer Reihe anderer, kurzer Visionen abgelöst. Zuerst gewährte ihnen die Herrin einen Blick auf Farzanahs riesige Streitmacht, die ihr Lager auf den freien Feldern von Naârbeleth aufgeschlagen hatte. Mit Schrecken betrachteten Tibana und Till die zahlreichen, schnurgeraden Reihen mittelgroßer Zelte, in denen wohl die Anführer und bessergestellten Dunkelelfen quartierten. Die einfachen Kämpfer hingegen lagerten zu hunderten rund um die nächtlichen Feuer im weichen Gras hinter der Zeltstadt. Überall waren gut bewaffnete Wachen aufgestellt und insgesamt vermittelte das Bild den Eindruck, dass die Dunkelelfen kampferprobt und gut vorbereitet waren.

Till sah eigenartige, große Kanonen, Schleudern und Leitern, aber das Schlimmste war, dass sie auch ausreichend Pferde, Gnome und Trolle hatten, die ihnen beim Transport der Kriegsmaschinerie helfen würden.

Erneut wechselte das Bild und eine andere, erheblich kleinere Gruppe bewaffneter Männer wurde sichtbar. Ihre Situation war wesentlich unbehaglicher, denn wie es schien, lagerten sie zwischen den Ruinen einer alten Stadt auf dem kahlen Boden und hatten wohl aus Vorsicht vermieden, ein Feuer zu entfachen.

„Oh mein Gott!“, flüsterte Tibana aufgeregt. „Da sind Alarion und Lindriel! Und Emetiel und noch ein paar andere Lichtelfenritter …! Wie es scheint, haben sie einen Unterschlupf außerhalb des schwarzen Zaubers gefunden, wo sie sich sammeln und vielleicht auch rüsten können!“

Ein letztes Mal verschwamm das Bild und als es wieder klar und scharf wurde, zeigte es die wolkenbedeckten Gipfel der Berge von Sinbughwar mit dem nie verlöschenden Vulkan Lyncaburh.

Inzwischen war der Morgen angebrochen und die Strahlen der aufgehenden Sonne ließen die Bilder schmelzen wie Eis. Leben erwachte rund um den See. Noch einmal zeigte die Herrin der Quellen ihr ebenmäßiges Antlitz auf der Wasseroberfläche.

„Meine treuen Freunde!“, sagte sie mit leiser werdender Stimme. „Ich wünschte, ich könnte euch mehr geben als dies, dennoch bin ich sicher, dass ihr die Lösung zur Rettung des Lichtkristalls finden und Farzanahs Zauber ungeschehen machen könnt. Menschenkind, komm etwas näher! Fürchte dich nicht und strecke deine Hand aus!“ Zaghaft tat Till, wie ihm geheißen wurde, und als er die Hand ausstreckte, legte die Herrin ihm eine Kette hinein. „Dies ist ‚Metâbor‘, der sehende Stein! Trage ihn auf deinem Herzen, dann wird er dir helfen, dein Ziel nicht aus den Augen zu verlieren und nicht vom Wege abzukommen!“

Im nächsten Augenblick lag der See so unberührt da, als wäre nichts geschehen. Till hätte geglaubt zu träumen, wäre da nicht die reale Wärme des Steins in seiner Hand, die er fest geschlossen hielt.

Die Kerzen waren gänzlich heruntergebrannt und während er noch auf den See hinausblickte, hatte Tibana bereits den Altar abgeräumt. Nichts deutete mehr auf das fantastische Erlebnis von eben hin.

„Nun wollen wir zu den anderen zurückkehren und uns um das Frühstück kümmern. Sicherlich sind sie schon auf den Beinen. Die Kleinen sind immer die Ersten, die aus den Federn kriechen.“ Till überlegte kurz, wen Tibana mit die „Kleinen“ meinte, aber dann fielen ihm die Wichtelkinder Puck, Nelly, Tissy und Zack wieder ein und geschwind folgte er der Fee zum Haus. Die Kette mit dem Stein trug er auf der nackten Haut unter seinem neuen Gewand, sodass er ihre Gegenwart tröstlich spüren konnte.

Wie Tibana vorausgesehen hatte, herrschte am Haus ein lustiges Tohuwabohu. Die Wichtelkinder hatten sich an die Gegenwart der Menschen gewöhnt und trieben allerlei Späße mit Flora, die im Gras saß und winzige Blumenkränze für die beiden Mädchen flocht. Alrick hatte sich gewaschen und saß, wenn auch noch sichtlich blass um die Nase, mit freiem Oberkörper in der Sonne und ließ sein langes Haar trocknen. Nur Lilly, die kleine Langschläferin, lag noch immer auf ihrer Decke, doch weder Till noch Tibana entgingen die kurzen Augenaufschläge, mit denen sie den Elf betrachtete, bevor sie die Augen verstohlen wieder schloss.

„Sollen wir heute im Garten frühstücken?“, fragte die Wichtelfrau mit piepsiger Stimme. „Mir scheint, im Haus ist nicht genügend Platz, und es verspricht ein schöner Tag zu werden.“

„Dann soll ich jetzt wohl Tisch und Stühle nach draußen befördern?“, sagte Tibana lächelnd und hielt Till zurück, der sich sofort an die Arbeit machen wollte.

„Meok usare Zerveth! Meok usare Ehlete!“, flüsterte sie mit erhobenem Zauberstab. Da setzten sich die Möbel von allein in Bewegung und bildeten zusammen mit dem Tischtuch, den Tellern, den Tassen, Löffeln und Messern einen lustigen Reigen. Der Tisch stellte sich unter die Sonnenblumen im Garten und sogleich schwebte das Tischtuch elegant über seine Platte. Die Stühle formierten sich im Kreis und das Geschirr purzelte von oben herab an die richtige Stelle. Selbst die kleine Vase mit den frischen Blumen fand ihren Platz in der Mitte der Tafel.

„Das ist wie im Märchen von Tischlein-deck-dich!“, rief Flora begeistert, als nun der Milchkrug, frisches Obst, Marmelade, Käse und duftendes Elfenbrot folgten.

„Nun kommt, meine Lieben, wir wollen uns setzen und es uns schmecken lassen. Till hat euch vieles zu berichten, während ich Alricks Verband wechseln werde!“, rief Tibana.

Da krabbelte auch Lilly unter ihrer Decke hervor und setzte sich zu den anderen an den Tisch. Mit vollen Backen lauschten Alrick, Lilly und Flora Tills unglaublichem Bericht bis er zu Ende gesprochen hatte und da der Junge einen Funken Unglauben in ihren Gesichtern zu bemerkten glaubte, zog er zu guter Letzt die Kette mit dem Stein hervor.

„Oh, ist die schön!“, sagte Flora andächtig. „Ich hätte die Herrin der Quellen auch gern gesehen!“

„Das wird schon noch!“, tröstete Till sie. „Im Augenblick hat sie jede Menge zu tun.“

„Dann ist Farzanahs Armee also wirklich so mächtig, wie sie gesagt hat?“, fragte Alrick.

„Ja, leider!“, antwortete Tibana. „Wie es aussieht, hat ihr Zauber ganze Arbeit geleistet. Wer schutzlos in die Nähe des verwandelten Lichtkristalls kommt, den beherrscht das Böse! Und das ist auch der Grund, warum die Lichtelfenritter nicht handeln können. Die Festung Arindals, die Burg von Darwylaân und selbst das Heereslager, alles liegt im unmittelbaren Zentrum des Zaubers. Wenn sie sich nähern, werden sie ihm erliegen.“

„Aber zurzeit ist es noch möglich, den Zauber zu brechen? Sie hat doch so was gesagt, oder habe ich das falsch verstanden?“, fragte Lilly.

„Nein, das hast du richtig gehört. Sie sagte: ‚Sobald sich der himmlische Jäger mit seinem Schwert über den Bergen von Sinbughwar zeigt, ist mein Zauber unumwandelbar! Dann ist die Zeit für die entscheidende Schlacht gekommen und es wird keine Gnade geben.‘“

„Und was bedeutet das? Wer ist der himmlische Jäger und wann kommt er? Tibana, Alrick, habt ihr schon von ihm gehört?“, fragte Till aufgeregt.

„Nicht, dass ich wüsste!“, antwortete der Elf und auch Tibana schüttelte den Kopf.

„Nun gut, das muss herauszufinden sein. Es bedeutet für uns, dass es eine unbestimmte Zeitspanne zum Handeln gibt. Wenn sie verstrichen ist, gibt es kein Zurück mehr.“

„Wenn sie verstrichen ist und wir erfolglos waren“, sagte Tibana leise, aber mit Nachdruck, „dann müssen wir die Tore zur Erde für immer schließen, damit Farzanah das Böse nicht in die Menschenwelt tragen kann!“

„Aber dann können wir nicht mehr nach Hause! Ich will aber wieder nach Hause zu Mama, Papa und Oma! Und, und …“ Flora wollte schon anfangen zu schluchzen, doch der strenge Blick ihrer Schwester hielt sie zurück.

„Das wird nicht geschehen, Kleine!“, antwortete Tibana stattdessen. „Wir werden alles Nötige tun, um es zu verhindern! Mach dir keine Sorgen! Wenn du magst, dann kannst du noch ein wenig mit den Wichtelkindern spielen!“

„Ja, gern! Aber glaubt nicht, dass ihr mich los werdet. Ich bin nicht mehr klein!“, antwortete sie und lief zu ihren neuen Freunden.

„Sie ist sehr aufgeweckt für ihr Alter und weiß ganz genau, was sie will!“, sagte Tibana lächelnd. „Aber ich möchte nicht, dass sie sich fürchtet.“

„Dann wäre es also möglich, die Tore zur Menschenwelt zu schließen?“, fragten Till und Lilly fast gleichzeitig.

„Ja, aber die Auswirkungen sind viel schwerwiegender, als ihr es euch vostellen könnt. Das Gleichgewicht zwischen den Welten muss erhalten bleiben, sonst verlieren beide Orte ihre Magie! Das hieße keine süßen Träume, keine überraschend erfüllten Wünsche und niemals mehr würde ein Mensch das Glück bei der unvorhergesehenen Berührung eines Elfenflügels spüren!“

„Lasst uns vorerst nicht daran denken!“, sagte Alrick. „Dies würde nur geschehen, wenn alle anderen Pläne fehlgeschlagen sind. Im Augenblick interessiert mich vielmehr, was die Herrin der Quellen uns noch gezeigt hat, denn darin finden wir die Lösung! Warum hat sie uns zum Beispiel die Gipfel der Berge von Sinbughwar gezeigt, was meint ihr?“

„Naja, sie zeigte uns ja auch das Lager der Lichtelfenritter, vielleicht befindet es sich dort?“, überlegte Lilly laut.

„Nein, das waren verschiedene Visionen. Jede Vision hat ihre eigene, unabhängige Bedeutung, da bin ich ganz sicher“, meinte Tibana.

„Dann fassen wir das mal zusammen!“ Till zog ein Blatt Papier und einen Bleistift aus seinem Rucksack. „Am einfachsten war die erste Vision. Sie zeigte uns den Aufenthalt König Arindals in der Burg von Darwylaân und gewährte uns einen Einblick in Farzanahs Pläne.“

„Ja, das stimmt und sie gibt uns die Sicherheit, dass er noch am Leben ist!“, fügte Alrick hinzu.

„Und, sie zeigt uns, dass wir ein Zeitfenster haben, in dem wir handeln können, auch, wenn wir noch nicht wissen, wie groß es ist“, sagte Lilly.

„Die zweite Vision zeigte uns, mit wem wir es zu tun bekommen und wie ernst die Lage wirklich ist“, schrieb Till in Stichpunkten auf den Zettel. „Sie war mehr strategisch, militärisch wichtig. Wegen der Kanonen, der Trolle und Gnome und so weiter.“

„Als Drittes, wissen wir jetzt, dass wir Verbündete haben. Wir müssen nur noch herausfinden, wo.“

„Das Wo ist nicht das Problem. Sie sind in den Ruinen von Zaâmendra!“, erklärte Tibana. „Das ist die verlassene Stadt unserer Vorväter. Es war deutlich zu sehen, und wenn ich es recht bedenke, dann hätte ich dieses Versteck wahrscheinlich auch gewählt. Es liegt fernab vom Zentrum des schwarzen Zaubers und ist vorerst sicher.“

„Dann bleiben also nur noch die Berge? Tibana, weißt du denn nicht, was es mit ihnen auf sich hat?“, fragte Alrick hoffnungsvoll.

„Leider bin ich niemals dort gewesen, aber ich weiß, dass die Berge von Sinbughwar ein heiliger Ort sind, an dem fantastische Lebewesen mit großer Magie hausen. Die weisen Alten haben gesagt, dass es mit großer Gefahr und Mühsal verbunden ist, sie zu bewandern.“

„Die weisen Alten? Wer ist das?“, fragte Till.

„Die Frage müsste lauten, wer war das? Denn sie sind schon vor langer, langer Zeit gestorben. Sie waren die ältesten und weisesten Gelehrten des gesamten Feen- und Elfenreiches und sie lebten in Zaâmendra, das einst ein Zentrum der Kultur und Wissenschaften war.“

„Eine Stadt der Wissenschaften?“, fragte Lilly. „Welche denn?“

„Oh, so gut wie alle: Algebra, Naturwissenschaften, Heilkunst, Alchemie, Astronomie, Astrologie und die schönen Künste nicht zu vergessen!“

„Oh, wie gerne wäre ich dort gewesen!“, sagte Lilly mit verträumtem Blick.

Tibana bedachte das Mädchen mit einem verständnisvollen Blick. „Was wir als Nächstes tun sollten, ist, die Lichtelfenritter aufzusuchen, um ihnen die gute Nachricht zu bringen, dass ihr König lebt! Gemeinsam mit ihnen werden wir einen Weg finden, um Farzanah zu besiegen.“

„Dann wirst du mit uns kommen, Tibana?“, fragte Alrick hoffnungsvoll.

„Aber natürlich, Alrick! Wie könnte ich zuhause sitzen, während ihr euch aufmacht, Arwarah zu retten! Außerdem wird jeder Einzelne benötigt, wenn wir es mit Farzanah aufnehmen wollen.“

„Und wer passt unterdessen auf dein Haus und die Quelle auf? Und was ist mit dem Plan, Flora hier zu lassen?“, fragte Lilly besorgt.

„Haus und Quelle sind durch meinen Zauber gut geschützt und außerdem sind ja die Wichtel da! Flora allerdings muss mit uns kommen.“

„Ist es weit bis Zaâmendra?“, wollte Till wissen.

„Nicht, wenn wir die Nebelkrähen noch einmal rufen können!“

„Das sollte kein Problem sein! Alrick hat noch immer die Pfeife“, sagte Till.

„Ja, darüber wollte ich noch mit euch sprechen! Woher habt ihr sie?“

„Wir haben sie im Dorf der Thauri-Elfen gest… gefunden! Sie war in einem Labor“, antwortete Lilly diplomatisch.

„Welch glücklicher Umstand! Auch, dass Alrick sie zu gebrauchen weiß! Außer König Arindal selbst kenne ich keinen, dem die Krähen gehorchen!“

„Das war ganz leicht!“, sagte Flora, die zu ihnen zurückgekommen war. „Alrick ist eben der beste Flötenspieler auf der ganzen Welt.“ Strahlend kletterte sie auf den Schoß des Elfen, der vor Verlegenheit rot anlief.

„Da hast du ganz recht, kleines Fräulein!“, lachte Tibana. „Aber wir sollten keine Zeit verlieren, sondern aufbrechen. Solange wir nicht wissen, was es mit dem ‚himmlischen Jäger‘ auf sich hat, sind wir in Eile!“

„Ja, wir sollten wirklich gehen!“ Alrick half Flora, ihren Rucksack zu packen und konnte gerade noch verhindern, dass Puck und Zack, die Lausejungen, sich darin versteckten. Mit aufgeregtem Gezeter sorgte die Wichtelfrau für reichlich Proviant, während Tibana geheimnisvolle Gläschen, Säckchen und Verbandsmaterial einpackte. Der Zauberstab brachte die Frühstückstafel wieder an ihren ursprünglichen Platz zurück und bald darauf waren alle zum Aufbruch bereit. „Bleibt einmal stehen, ihr zwei!“, rief Tibana Lilly und Flora zu. „Ich möchte eure Kleidung wechseln, damit ihr daran nicht immer gleich als Menschenkinder zu erkennen seid.“ Hurtig schwang sie den Zauberstab und schon trugen die beiden Mädchen hübsche Elfengewänder, ähnlich dem, das Tibana selbst trug.

„Jetzt liegt es bei dir Alrick Flötenspieler! Nur zu! Lass die Nebel wallen und rufe die Krähen herbei!“

Alle Augen hingen an dem Elfen, der mit dem Rücken an einem Baum gelehnt stand und die goldene Pfeife an die Lippen legte. Ein leiser Ton erklang und auf einmal versank die Welt rund um die Quelle in Schweigen. Die Vögel auf den Zweigen legten die Köpfchen schief und lauschten, die Tiere im Walde hielten in der Bewegung inne und sogar das lustige Froschvolk stellte sein immerwährendes Konzert ein. Alrick hatte die Augen geschlossen und versank ganz und gar in seiner Aufgabe. Sein schönes, jugendliches Gesicht glühte vor Eifer und Lilly fand, dass er wie Pan, der Gott des Waldes, aussah. Mit jedem Klang und mit jeder neuen Weise löste sich ein silbergrauer Nebelflügel aus dem Nichts und tanzte wundersam über der Quelle. Erst langsam und lautlos, dann schneller und wilder mit lautem Schlagen. Schließlich manifestierten sich die Umrisse der gewaltigen Vögel aus dem silbrigen Schleier. „Krah, krah!“, erschallte ihr Ruf, und als wäre dies ein vereinbartes Zeichen, fand der Wald seine Stimmen wieder.

„Es hat geklappt, es hat geklappt!“ Flora strahlte und auch die Gesichter der anderen waren von Erleichterung gekennzeichnet.

„Wie werden wir den Weg finden?“, stellte Lilly die berechtigte Frage.

„Ja, darüber habe ich mir auch Gedanken gemacht“, antwortete Tibana. „Es ist fast schon eine Ewigkeit her, dass ich in der Stadt der Wissenschaften war und aus der Luft sieht alles so anders aus! Wir müssen darauf vertrauen, dass die Nebelkrähen den Weg kennen!“

„Und ich habe den Stein Metâbor. Die Herrin der Quellen hat gesagt, dass er mir den Weg weist!“

„Das hat sie aber bestimmt in anderer Weise gemeint!“, sagte Lilly skeptisch. „Mehr psychologisch als praktisch, oder?“

„Ich habe keine Ahnung. Vielleicht kann er ja beides!“

„Nur Mut, wir werden zurechtkommen. Zaâmendra liegt westlich von hier. Wir sollten erst einmal der Sonnenbahn folgen.“

Mit einer Leichtigkeit, die man ihr nicht zugetraut hätte, bestieg Tibana den Leitvogel und eine Minute später flogen sie winkend eine Schleife über dem Haus und der Quelle, die ihren Augen jedoch durch den Zauber verborgen waren, sobald sie das magische Schutzfeld verlassen hatten.